Was ist bloß los mit unseren Stars? Wissen die wirklich nicht mehr, wie's geht? Haben sie vergessen, wie man sich verhält, wenn man ein Star ist? Wollen sie nicht mehr? Können sie nicht mehr? Sind sie einfach zu blöd - oder zu schlau?
Nehmen wir Leonardo DiCaprio. Richtig, der hübsche Junge aus Titanic, dem erfolgreichsten Film aller Zeiten. Dort rettet er ein schönes, reiches Mädchen erst aus den Klauen ihrer Mama, dann aus dem Bauch eines hochkant untergehenden Schiffes. Seitdem ist er Hollywoods Top-Star, der höchstbezahlte Schauspieler aller Zeiten; 20 Mio. US-$ pro Film, steht in der Zeitung, nichts Genaues weiß man nicht.
Auf keinen Besucher war die Berlinale so scharf wie auf ihn. Freilich
so scharf wie auf ihn. Freilich war auch noch keine Berlinale so schamlos geil auf Stars wie diese. Seitdem das Film-Programm immer mehr ausufert, hunderte von Filmen in rund vierzig Kinos parallel laufen, werden die einzelnen Filme immer beliebiger - und Stars immer kostbarer.Das Plakatmotiv der Berlinale in diesem Jahr ihres 50. Jubiläums und ihres Umzugs ins Klein-Manhattan am Potsdamer Platz war denn auch ein unscharfes Nachtbild vom »Berlinale-Palast«, auf den ein riesiger, leuchtend roter Läufer zuführt: der Ansaugstutzen für die Stars. Den roten Läufer gab es tatsächlich - flankiert von Absperrgittern, die diesmal mindestens viermal so lang waren wie in den letzten Jahren vor dem Zoo-Palast. So viele Schaulustige, die sich da nachts in der Kälte die Beine in den Bauch standen, um Stars auf dem Weg ins Kino zu beäugen, soll es noch nie gegeben haben.Leonardo DiCaprio kam tatsächlich nach Berlin. Aber kaum jemand hatte etwas davon. Vor drei verschiedenen Hotels warteten Fans auf den ultimativen Teenie-Schwarm - er wohnte, unerkannt, in einem vierten. Das Boulevardblatt BZ bot derjenigen 1.000 DM, der es gelänge, ihn zu küssen: »Sofortauszahlung bei Fotobeweis«. Das Angebot blieb uneingelöst. Der Mega-Star machte sich mega-rar: Eine Pressekonferenz, zwei, drei Interviews - weg war er.DiCaprio sagt Dinge wie: »Allem zum Trotz versuche ich, ein ganz normales Leben zu führen.« Oder: »Ich versuche, mich, soweit ich kann, von meinem Image zu trennen.«Früher lebten Stars noch in der Vorstellung, es läge an ihnen, dass sie Stars seien. Sie dachten, sie verdanken ihren Sonderstatus einer besonderen Gabe. Und die erlege ihnen auch besondere Verpflichtungen auf - vor allem die, für ihre Fans da zu sein, zumindest ab und zu. Ein Star zu sein, das war ein Vertrag mit dem Publikum: Ihr bewundert und liebt mich, geht in meine Filme, kauft meine Platten, steht meinetwegen an - und ich winke Euch dafür minutenlang zu, unterschreibe stundenlang Fan-Postkarten, gebe Interviews bis zum Abwinken.Und heute? Das Publikum ist größer, liebesbereiter und liebeshungriger denn je. Aber die, denen die Unmengen an Libido entgegenströmen, trauen ihr nicht mehr, fühlen sich nicht wirklich gemeint. Leonardo DiCaprio zum Beispiel weiß offenbar, dass jeder andere, der damals die Hauptrolle in Titanic gekriegt hätte, heute von denselben Fan-Pulks verfolgt würde. Die Massen lieben immer noch »ihre« Stars, aber da liebt nichts mehr zurück.II. Just a pretty face ? Nicht 'mal dasEin Star ist das Modell eines gelungenen Menschen. Als Fan bezahlt man nicht eigentlich für den neuen Film, den neuen Song, sondern dafür, sich vorübergehend in der Gegenwart eines weiter, höher entwickelten Wesens aufhalten zu dürfen. Stars sind die Götter der kleinen Leute. Der Besuch im neuesten Film desselben ist ihre Form von Gottesdienst.Früher hatte Star-Sein damit zu tun, wie jemand sich bewegte und lebte, mit Qualitäten des Auftretens also, mit Aura, Ausstrahlung, Präsenz. Inzwischen scheint sich der Augensinn so weit von den anderen Sinnen abgekoppelt und in den Vordergrund geschoben zu haben, dass es fast nur noch auf's Aussehen ankommt. Es reicht, dass jemand etwas hat: good looks, ebenmäßige Gesichtszüge - er braucht nichts mehr zu sein. Deshalb werden auch immer mehr Models zu Kino-Darstellerinnen, zu Stars.Milla Jovovich zum Beispiel. Mit 11 Jahren das jüngste Titel-Model aller Zeiten, mit 17 Millionärin, mit 21 erster Kinoerfolg in Das fünfte Element neben Bruce Willis. Jetzt, mit 24, Hauptrollen in Luc Bessons Jungfrau von Orleans und in Wenders' neuestem Film. Außerdem arbeitet sie nach wie vor als Model: unter anderem für die Kosmetik-Firma L'Oréal, neben SAT.1 und Mercedes-Benz Hauptsponsor der Berlinale.Niemand war im Umfeld der 50. Berlinale optisch so präsent wie Milla Jovovich. In vielfacher Lebensgröße prangte ihr sorgfältig geschminktes Gesicht auf einem mehrstöckigen Baugerüst, ziemlich genau in der Sichtachse des »Berlinale-Palastes«. »Schönheit für das neue Jahrtausend« stand darüber. »Weil ich es mir wert bin« stand - in weiblicher Schönschrift - unter dem L'Oréal-Logo, und dazwischen Milla: pfirsichfarbene Haut unter pechschwarzem, punkig-fransigem Pagenkopf, tiefrot geschminkte Lippen und exakt passend dazu die Fingernägel, die rechte Hand wie zum Beweis dafür auf's Schlüsselbein gelegt. Der Kopf leicht geneigt, der Blick von unten kommend: als sei Energie, Aggressivität, vielleicht auch Lust dahinter.Und dann sowas: Der ZEIT gibt sie ein Interview - und erklärt sich bereit, einfach so, sich selbst zu knipsen, mit der Digitalkamera der beiden Interviewer. Jetzt schaut ein Mädchen von nebenan aus der Zeitung. Nichts hat sie gemein mit der Powerfrau auf dem Baugerüst. Die grünen Augen, der glatte Teint, gewiss, aber vor allem fallen die strähnigen, schmuddelbraunen Haare auf, das lila Hemdchen, der verlorene Zug um den Mund. »Hilfe! Bin ich das?« steht darunter, als Titelzeile des Interviews.Greta Garbo versteckte sich noch hinter riesigen Sonnenbrillen. Und Marlene Dietrich verließ jahrzehntelang ihr Pariser Apartment nicht, damit niemand sehen konnte, wie das berühmte Gesicht verfiel. Nicht einmal ihrem Freund Maximilian Schell, dem sie bei laufender Kamera aus ihrem Leben erzählte, zeigte sie ihr Gesicht. Die Garbo, die Dietrich: Bis zum bitteren Ende identifizierten sie sich mit den makellosen Gesichtern, an die sie ihre Fans gewöhnt hatten.Jovovich dagegen zieht ihre Schönheit an und aus wie ein T-Shirt. Für sie ist das Schöne nicht mehr der Vorschein von etwas Anderem, keine Gabe, schon gar keine Verpflichtung. Schönheit ist für Milla Jovovich vor allem ein Schmink-Resultat und ein Job: »Das Tolle daran, eine attraktive junge Frau zu sein, ist: Ich verdiene Geld als Model und bin nicht darauf angewiesen, Filme zu drehen oder Musik zu machen.« Wollen wir sowas wirklich hören aus dem Mund einer Frau, die so überirdisch schön sein kann?III. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Wer immer lügt, dem schonEs sieht so aus, also habe es die industriell gefertigte Lüge endgültig geschafft, resistent zu werden gegen die Wahrheit der Dinge. Die hypergeilen Bilder von Milla zirkulieren um keinen Deut weniger massenhaft, nur weil jedermann sehen kann, dass sie in Wahrheit gar nicht so aussieht. Und Leonardo kann Wagenladungen von Journalisten und Fans vor Hotels enttäuschen - trotzdem strömen Millionen von Teenies auch in seinen nächsten Film.Offenbar haben es Kinogänger und die Konsumenten von Frauenbildern inzwischen gelernt, Illusionen als Illusionen, Lügen als Lügen zu konsumieren. Sie wollen belogen werden, sie werden belogen, sie wissen, dass sie belogen werden - und trotzdem bezahlen sie dafür, und zwar offensichtlich freiwillig, gerne und mehr Geld denn je.Warum? Weil Lügen so schön sind. Weil sie bequem sind. Und weil es sich viel angenehmer lebt, wenn man sich ab und zu ein X für ein U vormachen lassen kann. »Weil ich es mir wert bin«, sagt L'Oréal - und meint damit: »Stellen Sie sich nicht so an! Auch Sie dürfen sich ruhig 'mal eine todschicke Lüge gönnen für Ihr Geld !«Die ganze '68er Rhetorik gegen die »Manipulation« der Massen durch die konservative Presse, das heißblütige Plädoyer der Linken für die »Aufklärung« der dumm gehaltenen Proleten, auf dass es ihnen wie Schuppen von den Augen falle, dass sie ausgebeutet werden: Im Nachhinein erweist sie sich als gänzlich ahnungslos.Das kleine schmutzige, fast schon obszöne Geheimnis der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft ist, dass fast alle mit den Lügen einverstanden sind. Man lässt sich gerne belügen - und man zahlt gutes Geld dafür.IV. Wenn wir es kaufen, ist es Lüge. Wenn wir's verkaufen, ist es KunstSind wir besser als die? Sind unsere Lügen vielleicht nur ein bisschen raffinierter? Lassen wir die Stars und nehmen wir das untere Drittel unserer Gesellschaft ins Visier, die Arbeitslosen, Ausgemusterten, Überflüssigen und ihr Bild im aktuellen Kino.Hört man solchen Menschen einigermaßen aufmerksam zu und schaut ihnen dabei ins Gesicht, wie Thomas Heise das eben gemacht hat in seinem Dokumentarfilm Neustadt, gedreht in den Plattensiedlungen von Halle-Neustadt, gibt es keinen Grund zur Freude.Das bisschen widerständige Energie, das der eine oder andere aufbietet, verpufft in einer bruchstückhaften Rechts-Rhetorik, die wie ein leerer Sack den Redenden um die undeutlichen Gedanken und Gefühle schlottert. Im übrigen sitzt man hinterm Couchtisch, vor der Schrankwand, neben dem Fernseher, man raucht und trinkt, und nichts passiert. Eigentlich sollte man ja, und irgendwann wird man schon. Ab und zu geht man 'mal 'raus, einkaufen oder die Eltern besuchen, solange es bei denen noch was umsonst gibt.Kann man aus solchem Elend Kunst machen? Fred Kelemen kann. Nach Verhängnis und Frost ist er unter den deutschen Filmemachern der Experte für's Katastrophale, für lange Blicke auf unerträgliche Lebensverhältnisse. Sein neuer Film Abendland hat 2,6 Mio. DM kosten dürfen. Deshalb kommt das Elend der Überflüssigen jetzt altmeisterlich daher, in wunderbar gedeckten, kostbar verblichenen, abbröckelnden Farben. Licht wie von altem Honig. Und nachts gleitet ein Schiff mit Lichtern vorbei am Fenster.Vor dem Fenster: er und sie. Er arbeitslos, wortkarg, verbittert - ihr geht er auf die Nerven. Getrennt ziehen die beiden durch die Nacht: er von einer düsteren Kaschemme in die nächste, sie probiert's derweil mit anderen Männern, mit katastrophalen Ergebnissen.Die Stadt, durch die die beiden vagabundieren, hat nichts zu tun mit Halle-Neustadt oder gar Berlin-Mitte. Es ist eine Stadt aus einem Albtraum, in dem die Zeiger von den Uhren fallen: keine Verkehrsschilder weit und breit, keine Werbung, stattdessen abbröckelnde Fassaden, schmutziges Kopfsteinpflaster, matschige Wege. Und immer nur spärliches Licht, stets geschmackvoll plaziert.In und mit diesem Elend kann man's, als Zuschauer jedenfalls, wunderbar aushalten, zumal Kelemen es mit gefühlvoller Musik unterlegt, sehnsuchtsvollen Liedern, mit portugiesischen fados vor allem. Kelemen tut etwas, was offenbar sein muss: Um das Elend der Überflüssigen im Kino überhaupt darstellen zu können, muss er es als Quelle ästhetischen Genusses erschließen. Wenn wir das Leiden schon nicht beseitigen können und es nicht verdrängen, nicht wegschauen wollen: dann soll uns das Elend der anderen doch wenigstens ein bisschen Freude machen. Oder?
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