Man konnte auch in diesem Jahr die Berlinale ganz gut für einen Rundflug durch's aktuelle Weltbewußtsein nutzen: Soviel Verschiedenes vom kollektiven Imaginären wird einem selten so kompakt präsentiert. Diesmal kehrte ich, nach neun Tagen und Nächten im Dunkel der Festival-Höhlen, als Kriegsberichterstatter ans Tageslicht zurück. Hinter den Glamour-Fassaden, hinter den schönen und den triumphalen Gesichtern, im Bauch der Kinomaschine wird Krieg geführt, und er erreicht allmählich die Oberflächen.
Die Herren des Imaginären Es ist der zähe, erbitterte, schon lange anhaltende Krieg zwischen dem Imaginären und dem Realen, zwischen den immer mächtiger werdenden Fiktionen und dem abschmelzenden Rest leibhaftiger Erfahrunge
eibhaftiger Erfahrungen, die mit ihnen noch mithalten können bei der Formierung des kollektiven Fantasie-Horizonts. Ausgetragen wird dieser Krieg auf den Kino-Leinwänden, auf dem Unterhaltungsmarkt, vor aller Augen: als Wettkampf um Aufmerksamkeitsquanten, Freizeit-Budget- und Markt-Anteile. Es geht in diesem Krieg um die Abwertung und Verdrängung realer Genüsse durch den Konsum von käuflichen Surrogaten.Da gibt es die smarten Contentprovider à la Fred Kogel (Sat.1) und Georg Kofler (Pro7), die große Zuschauerkontingente auf industriell produzierte Fiktion-Drogen abrichten, der werbenden Wirtschaft zuführen und ihnen ihr Heilsversprechen eines guten Lebens gegen Geld in die Gehirne dröhnen. Sie sind die Drogen-Barone des medialen Zeitalters, die Herren des Imaginären.Dazwischen tummeln sich die Kleinhändler mit den im Eigenbau verschärften Fiction-Drogen, an die sich die Großen noch nicht herantrauen. Und die Agenten des Realen, die gegen den flüchtigen, suchtsteigernd bemessenen Genuß der industriellen Surrogate die vermischte, unberechenbar wuchernde, sinnliche und körperliche Genußvielfalt der wirklichen Erfahrung anpreisen. In diesem Kontext ist jeder Dokumentarfilm vor allem Propaganda fürs Reale, für den Genuß an dem, was es tatsächlich (und umsonst!) gibt, an den Besonderheiten, am Einzigartigen.Ab und zu lehnt sich der smarte Content-provider aus dem Fenster seines klimatisierten Büros und zieht eine Prise Welt von da draußen durch die Nase. Der Geschmack von etwas ganz Anderem überkommt ihn, dann der Schmerz, daß der großen Bild-Maschine alles abstirbt, was er ihr zuführt, und schließlich die Angst, die nackte, kalte Angst vor der Wiederkehr des Realen, vor dessen Rache.Fiction, wie ich sie hier definieren möchte, ist das Unsterbliche, das Maschinelle an (erfolgreichen) Geschichten. Fiction ist die Matrix, das unter den »realistischen«, »zufälligen« Oberflächen verborgene Räderwerk der Fiktionen: die Mechanik und Kybernetik des Plots, die spannungs- und luststeigernde Technike, die Strategie der Vorlustproduktion und des Hinauszögerns der Befriedigung.Die erfolgreichsten Fiction-Modelle werden von der Bewußtseinsindustrie aus der laufenden sozialen Geschichtenproduktion herausgefiltert und serialisiert. Variationen der ewig gleichen Phantasie vom neuen Anfang, schnellen Geld und heißen Sex: Abziehbilder.Menschliche Störfaktoren Noch aber läuft das Gros der industriell reproduzierten Fiction-Software auf quasi »dokumentarischer« Hardware: auf Leibern. Fürs Kino braucht man noch immer lebende Menschen, damit die Texte sich aufsagen, die Fantasien anschaulich werden können. Als human link, als Schnittstellen zwischen der Fiction-Droge und ihren End-Abnehmern, sind sie der Industrie auf Dauer lästig, weil allzu störanfällig: »Erst machen wir sie berühmt, dann werden sie unverschämt«, weiß der Mann vom ZDF-Online-Service. Dort haben sie sich eine voll digitalisierte, ewig haltbare, beliebig verfügbare Kunstfrau zugelegt, statt einer leibhaftigen Ansagerin, die älter, vielleicht auch teurer werden würde.Man sollte die Online-Peripherien der TV-Programme im Auge behalten und aktuelle Hollywood-Filme wie Antz und Das große Krabbeln, die bereits ganz ohne leibhaftige Menschen auskommen. Dies sind auch industriepolitische Versuche, den Faktor Mensch in der Fiction-Produktion zurückzufahren, ihn durch pflegeleichte und preisgünstige Kunstfiguren zu ersetzen.Geschlossene Systeme Zugleich scheint es, als habe Fiction ein eigenes Leben, eine ihr innewohnende Kraft: Vielleicht ist's der spin des Kapitals, das Drehmoment der beschleunigten Akkumulation? Es sieht so aus, als wolle Fiction uns immer näher auf den Leib rücken, als wolle sie ihn hinüber in ihr Reich ziehen. Fiction scheint unsere Körper zum Verschwinden im Realen verführen zu wollen: mit dem Versprechen einer glorreichen Wiederauferstehung im Imaginären.Als bislang avancierteste Technologie auf dem Wege zu einer real-leiblichen Verkoppelung von Fiction-Software und Leiber-Hardware stehen die Computer/Video-Spiele in den Kinderzimmern. Dort gibt es jetzt »Lara Croft«, eine vollbusige Fighterin, die wir führen können, die tut, was wir ihr qua Joystick und Steuermodul bedeuten. Mit Lara Croft unterwegs in der Unterwelt der Tomb Raiders: Wir sehen und hören nicht mehr nur, wir sind an diese Bilder vor uns auf dem Bildschirm mit den Fingerspitzen, mit unserem Reaktionsvermögen und Gleichgewichtssinn (und mit unserer Lust auf solch pralle Brüste) angekoppelt. Ein Stück unseres Leibes läuft mit, vor uns, »auf der anderen Seite«.Im hell- und weitsichtigsten Film der Berlinale hat David Cronenberg dieses Heranrücken der Fiction an unsere Körper zu Ende gedacht. Im Mittelpunkt seines neuen Films EXistenZ steht ein gleichnamiges Spiel, das direkt auf und in den Körpern der Teilnehmer gespielt wird. Es gibt kein Gegenüber mehr, keinen anderen Zustand: Das Leben geht irgendwie weiter, nur daß wir es jetzt als ein Spiel lesen sollen.Das Spiel, in das Ted Pikul, die ahnungslose Hauptfigur von EXistenZ, und hinter ihm her wir Zuschauer hineingerissen werden, funktioniert laut Cronenbergs kühlem Befund gar nicht anders als unser Leben: Wir werden Mächten ausgeliefert und herumgestoßen, ohne zu wissen, wieso und wofür. In EXistenZ stolpern wir hinein wie in einen Bürgerkrieg. Die Mitspieler entpuppen sich als Guerilleros des Realen, die die Designerin dieses Spiels, Alegra Geller, als Dämonin des Fiktiven umbringen wollen.Wenn Cronenberg die Zukunft unserer Spiele zuende denkt, sieht er als letzten Konflikt, von dem sie handeln werden, wenn all die alten Szenarien von Geld, Sex und Macht verschlissen sein werden, den Kampf zwischen dem Imaginären und dem Realen, ausgetragen in EXistenZ zwischen Fiction-Drug-Designern und Reality-Rebellen. Auf dem Medienmarkt wird er als Verdrängungswettbewerb zwischen industriellen Fiction-Vertreibern und versprengten Wirklichkeits-Rebellen ausgetragen, die unverdrossen auf die Genüsse des Wirklichen pochen.Cronenberg sagt, daß wir die erste Spezies auf Erden seien, die ihre Evolution selbst zu steuern beginnt. Auch deshalb werden künftige Kriege vor allem die zwischen konkurrierenden Genußkulturen sein; schon der Golfkrieg läßt sich mühelos als Krieg zwischen (Männer-)Spielkulturen analysieren.Nebenbei wird uns in EXistenZ vorgeführt, wie den smarten Contentprovidern ihr Leben zur Hölle wird, sobald es selbstreferentiell geworden ist. Der angeblich so erfolgreichen Alegra Geller fällt nichts Besseres ein als eine Welt, in der auf ihren Kopf eine Millionenprämie ausgesetzt und sie außerdem von Rebellen des Realen als Dämonin der Fiction verfolgt wird. Und diese Fiction-Designerin, hinreißend stoned gespielt von Jennifer Jason Leigh, ist auch noch süchtig danach, einzupluggen in diese von ihr geschaffene Welt, in der es ihr dauernd an den Kragen geht. Eingesperrt im Imaginären findet die Ur-Angst vor dem Anderen kein Gegenüber, kein Außen mehr. Ihr Subjekt zerfällt, wird paranoid.Fiction ist offenbar eine Droge, die ihre Designer und Konsumenten ins Totalitäre und Paranoide treibt. In geschlossenen Fiction-Systemen jedenfalls wird die Fantasie autodestruktiv.Körperöffnungen Die technischen Voraussetzungen dafür, EXistenZ zu spielen, beschreibt Cronenberg in überaus realistischen Details. Steuereinheit ist ein »MetaFlesh Game-Pod«, ein handtellergroßes Organ mit heller, ädriger Haut, das rumpelt und mit Lichtern flackert. Angeschlossen wird das Spielmodul mit einem »UmbryCord«, einer Art Nabelschnur, direkt an den Leib des Spielers, eingestöpselt in einen »Bioport«, eine Steckdose aus Kunstfleisch, die in die Wirbelsäule hineingeschossen wird.Cronenbergs Bioport sieht aus wie ein künstlicher Anus. Die männliche Hauptfigur kann sich nicht beherrschen, als er diese neue Körperöffnung an Andrea Geller zum ersten Mal sieht: Er sinkt in die Knie davor und berührt die Öffnung mit seiner Zungenspitze. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzen ungeahnte Genüsse auf - dann springt er wie von der Tarantel gestochen auf und schreit: »Das war nicht ich!«Mit diesem Bild, dem bislang kühnsten in Cronenbergs laufenden Erkundungen dessen, was aus uns werden kann, rührt er an gleich zwei Geheimnisse des Medienbetriebs.Zum einen plaudert er die wahre Sehnsucht aller avancierten Fiction-Drug-Designer aus: Sie hätten gerne einen Direktanschluß an unseren Leib, eine neue, möglichst hoch erotisch besetzte Körperöffnung. Solange die Nahorgane Mund, Genitalien, Anus noch in Betrieb sind, kann das über Augen und Ohren voranmarschierende Imaginäre eben doch nicht den ganzen Körper besetzen. Wenn aber das Ein- und Auspluggen in die Spielkonsolen so geil gemacht werden könnte wie ein Geschlechtsverkehr, käme das Imaginäre zügiger voran.Zum anderen erlaubt dieses Bild in diesem Kontext einen geschärften Blick zurück über die Schulter, zum pornographischen Film. Denn da wird die Kunst des Ein- und Ausstöpselns seit Jahrzehnten geübt und verfeinert. Von hier aus erst versteht man zu würdigen, daß der Steuergriff an Spielkonsolen »joystick« genannt wurde: ein Plastik-Surrogat für das erigierte männliche Glied. Nur im Pornofilm darf es, was es möchte.Dieses Bild einer Zunge im Anus, dieser Augenaufschlag ins Reich des Pornographischen, markiert zugleich die Stelle des audiovisuellen Weltgebäudes, an der der Unterschied zwischen Imaginärem und Realem, Fiktionalem und Dokumentarischem verschwindet - jener Unterschied, auf dem Realos wie Fiction-Drug-Dealer gleichermaßen beharren.Pornographie markiert denn auch die Achilles-Ferse der Contentprovider, den blinden Fleck im Auge der Fiction-Drug-Designer. Solange noch leibhaftig gevögelt wird und Bilder davon im Fundus des Imaginären umlaufen, hat Fiction eben doch keine Chance, im Krieg der industriellen gegen die handgemachten, der kalkulierten gegen die exzessiven Genüsse den Sieg davonzutragen.
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