Früher wollte jedermann ins Paradies, heute zum Film. Deshalb hat der Druck zugenommen, der Erfolgsdruck. Das Filmbusiness gleicht dem Lotto-Geschäft: Noch nie war so viel im Jackpot, nie zugleich die Wahrscheinlichkeit so gering, ihn auch zu knacken.
Gewiß, es fließt heute mehr Geld in die Filmproduktion denn je. Es gibt immer mehr regionale, nationale, europäische Förder-Programme, außerdem Gutverdienende, die auch 'mal für ein Film-Projekt 50.000 DM locker machen. Und weil die Technik billiger und die Bereitschaft der Leute vor und hinter der Kamera, sich zum Nulltarif ausbeuten zu lassen, größer geworden ist, werden mehr Filme gedreht denn je.
Gleichzeitig aber ist der Markt enger geworden, nimmt die Konzentration im Kino- und Verleih-Sek
- und Verleih-Sektor zu. Einen Film zustande gebracht zu haben, ist heute fast nichts mehr wert: Entscheidend ist, ob man überhaupt noch sichtbar wird damit, einen Verleiher findet, einen Fernsehredakteur, der ihn sendet, wenigstens spät nachts.Wer Aufmerksamkeit nicht erzwingen kann mit Geld, mit breitflächigen Werbekampagnen, muß es kleinklein probieren: ein Meeting nach dem anderen, Visitenkarten sammeln, redenredenreden. Wer es nicht schafft, sich nach vorn durchzuboxen mit dem ersten, zweiten oder dritten Film, der hat verloren und muss sich bis zum bitteren Ende abstrampeln im uferlos wuchernden Film-Proletariat. Ein bisschen böse gesagt: Wer's nicht schafft, ist dazu verdammt, sich auch noch in zehn, in zwanzig Jahren auf Filmfestivals wie diesem herumzutreiben.Früher hieß es "Filmwoche Mannheim", heute "Filmfestival Mannheim-Heidelberg". Das klingt immer noch nach Provinz, das ist auch Provinz, aber das sträubt sich jetzt mit aller Kraft dagegen, Provinz zu sein.Zwar reicht der Etat vorne und hinten nicht: 320.000 DM plus Sachleistungen von der Stadt Mannheim plus 250.000 DM von Heidelberg, und noch einmal soviel als Komplementär-Förderung durch das Land Baden-Württemberg. Aber trotzdem soll alles so sein wie bei einem großen Filmfestival, wie in Cannes, Berlin, Venedig: ein internationaler Wettbewerb mit lauter Erstaufführungen, "Mannheim Meetings" für Produzenten, eine tägliche Zeitung.Vor allem sollen hier Filme nicht nur gezeigt, sondern auch gezeugt werden. Der größte Ehrgeiz von Michael Kötz, dem Festivaldirektor, ist es, in der Mannheimer Festival-Etage Geschäfte machen zu lassen, eine Schnitte abzukriegen vom Business: Co-Produzenten sollen hier, EG-MEDIA-gesponsort, zueinander finden, Verleiher sollen hier Filme einkaufen. Wenn man in Mannheim Geschäfte machen kann, so sein Kalkül, dann kommen vielleicht auch Major Players hin, dann kriegt er bessere Filme.Vielleicht geht dieses Kalkül ja auf, irgendwann. Bis dahin aber klafft noch eine schmerzhaft deutliche Lücke zwischen dem, was das Festival sein will, und dem, was es ist.Alle reden Englisch, aber die wenigsten können's. Die tägliche Festivalzeitung liegt überall aus, aber es steht nichts drin, außer Selbstlob. Und wenn sich tatsächlich gestandene Film-Prominenz blicken lässt in Mannheim wie heuer István Szabo und Klaus Maria Brandauer, dann müssen sie sich in einer "Talkshow" Gideon Bachmann gefallen lassen, der sie 35 Minuten lang mit fahrigem Gerede hinhält und dann mit stümperhaften Fragen peinigt.Überhaupt die Gespräche mit den Filmemachern: fast durchweg peinlich. Warum lädt man sie ein, wenn man nicht neugierig auf sie ist, ihnen Löcher in den Bauch fragt ? Wenn man sie - statt auf der Bühne im Saal - nur im lärmigen Foyer zu Wort kommen lässt, wo alle Welt isst und trinkt und durcheinanderquatscht? Wie will man die Macher von Morgen an dieses Festival binden, wenn man sie so stillos, so würdelos abfertigt ?Zu dem Wettbewerb für erste (inzwischen auch für zweite, dritte) Filme, traditionell das Herzstück des Festival-Programms, sind nur Filme zugelassen, die nicht schon in Cannes, Venedig, San Sebastian, Locarno und nicht schon irgendwo anders in Deutschland gezeigt wurden. Offenbar bleibt da nicht mehr viel übrig.Die meisten dieser Erst- und Zweitlings-Filme kamen mir vor wie Vorstudien zu dem eigentlichen Film, für den Geld, Zeit und Geduld nicht gereicht haben. Vor lauter Connections- und Deal-Macherei, vor lauter Eigenpropaganda und Rumgebalze mit 'zig Fördergremien und Co-Produzenten, die alle in unterschiedliche Richtungen zerren, kommt offenbar kaum noch ein Filmemacher dazu, den Film zu Ende zu denken und dann auch tatsächlich zu realisieren, wovon er am Anfang träumte.Am besten gelingt das noch Filmemachern aus der Provinz, die selbstbewusst und gerne dort sind, die gar nicht scharf sind auf's Big city game. Bye Bye Bluebird von Karin Ottarsdóttir, ein Road Movie von den dänischen Faröer Inseln mit zwei heimwehkranken Mädels, ist so ein Film, und Les Quatre Saisons d'Espigoule (Ein Jahr in Espigoule) von Christian Philibert, den sowohl die Hauptjury unter dem Vorsitz von Otar Josseliani als auch die FIPRESCI-Jury auszeichneten: das liebevoll ironische Portrait jenes provenzalischen Dorfes, in dem der Regisseur aufgewachsen ist, in dem er jeden kennt.Frankreich sei in Wahrheit zwei Länder, Paris und die Provinz, sagt der aus dem Elsaß stammende Produzent Christian Pfohl; die Provinz fange schon im armen Osten von Paris an, wo er sein Büro hat. Wie wenig dieser Rest mit Paris zu tun hat, wie sehr er gegen die Hauptstadt lebt, gegen den Zwang zu Chic und genormter Schönheit, auch davon handelt Les Quatre Saison d'Espigoule.Die andere Art von Newcomern, die ihre Spur einigermaßen zu halten vermögen, sind die, die von vornherein und schamlos kommerziellen Erfolg im Auge haben. So schwer ist das doch nicht: Sex und Gewalt und Drogen geht immer, und für's trendige Drumrum bedient man sich aus Kino-Hits: ein bißchen Tarrantino, ein bißchen Train spotting, fertig ist die Laube. Geil ausschauen muß es halt auf der Leinwand, und dafür empfiehlt sich dieser Tage ein akkurates Storyboard und 'ne mobile Kameraführung, Steadycam am besten.Bleeder von Nicolas Winding und In China essen sie Hunde von Lasse Spang Olsen sind solch windschnittige Filme: beide aus Dänemark, aber sie könnten auch aus New York oder L.A. kommen, beide co-produziert von Zentropa, der Produktionsfirma von Lars von Trier, und beide so effektvoll, so optisch souverän durchinszeniert, dass man gar nicht anders kann, als gepackt zu sein. Solche Filme bekommen keine Preise, aber sie füllen die Kinos, auch die dieses Festivals.Die alteuropäische, die Kunstfilm-Variante von Sex Crime, auf die alle Filmfestivals scharf sind, hieß diesmal Untersuchung an Mädels: aus Österreich, von Peter Payer. Der tut noch so, als kritisiere er moralisch den geifernd geilen Blick auf die nackten Brüste von Anna Thalbach und Elke Winkens, obwohl sein Film doch selbst davon lebt. In Mannheim und Heidelberg wird solche Bigotterie offenbar noch honoriert: Payers Film bekam den Preis des Publikums.Leider nicht im Wettbewerb lief ein Film, der dort aber hingehört hätte und eigentlich den "Rainer Werner Fassbinder-Preis" des Festivals verdient hätte. Seit Tom Tykwers Die tödliche Maria (1993) gab es keinen Debutfilm mehr in Deutschland, der visuell so präzise durchartikuliert, so genau, glaubwürdig und souverän inszeniert wurde. Oi!Warning heißt der Film, Dominik und Benjamin Reding aus Hamburg haben ihn produziert und gedreht, den "Outstanding Emerging Talent Award" der Director's Guild of America und -zig weitere Preise haben sie bereits dafür eingeheimst.Oi!Warning handelt von Janosch, einem 17-jährigen Jungen vom Bodensee, der von zu Hause abhaut und in die Skin-Szene Dortmunds eintaucht. Die Brüder Reding, bekennende Schwule mit Ringchen in allen Ohrläppchen, stoppeligen Punkfrisuren und aufgeplusterten Bomberjacken: sie kennen ihre Gegner. Sie haben die Skins genau studiert. Wie Luchino Visconti in Die Verdammten (1968) aus der SA, so hören auch sie den schwulen Sound heraus aus der barbarischen Brüllerei der Skins, ihrer schweißig rüden Männerkumpanei, ihrem latenten Weiberhaß, aus der Übertreibung alles Männlichen, hinter der die Angst vor Schwäche, der Horror vor der eigenen Weiblichkeit irrlichtert.Die findet Janosch am Ende bei einem Poesie deklamierenden Bauwagen-Punk namens Zottel: der küßt ihn einfach mitten auf den Mund, mit dem wälzt er sich im Schlamm. Koma, der Anführer der Skins, will Zottel dafür das Genick brechen: Janosch schlägt ihn tot, mit einem Beton-Stein. Am Ende sitzt Janosch da wie eine Piéta: den Leib Zottels auf dem Schoß. Und hinter ihm brennt die Welt.Im Angesicht solch starker Bilder mag man kaum glauben, dass Oi!Warning ganze 857.000 DM gekostet hat: ein großer kleiner Film in schwarzweiß. Wir werden ihn hoffentlich bald im Kino sehen können. Dominik und Benjamin Reding verhandeln zur Zeit unter anderem mit Zephir-Film, einem neugegründeten Verleih; der hat sich mit dem überaus geschickten Vertrieb von Werner Herzogs Kinski-Portrait Mein liebster Feind gerade bestens eingeführt.Die beiden zocken noch, weil - so Dominik - wenn man bei einem kleinen Film nicht zockt, darf man's auch bei einem großen nicht. Man hört es schon: Die beiden werden's noch weit bringen. Uns soll's recht sein.
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