Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel: Bevor von den Perlen im Programm der diesjährigen Berlinale die Rede sein kann, muss ich noch einmal auf den Eröffnungsfilm Duell - Enemy at the Gates zurückkommen: eine Stalingrad-Schmonzette von Jean-Jacques Annaud, die der teuerste Film sein soll, der je in Europa gedreht wurde; am 15. März soll Duell über unsere Kinos hereinbrechen.
Von den 180 Millionen Mark, die für Duell im Wortsinn verballert wurden - für Pyrotechnik, Statisten-Trupps und erstklassige Honorare für drittklassige US-Mimen -, stammen über 100 Millionen Mark aus deutschen Steuergeldern, via großzügiger Förderung dieser Mammut-Produktion durch das Filmboard Berlin-Brandenburg und die Landesinvestitionsbank von Brandenburg.
Duell wurde nämlich in und um Babelsberg gedreht, unter anderem in einem aufgelassenen Tagebau-Revier südlich von Brandenburg, das als Wolga herhalten musste. Ein paar Millionen wurden also hier "bei uns" ausgegeben: Arbeitsplätze seien geschaffen, die regionale Filmwirtschaft angekurbelt worden, heißt es. Duell als Eröffnungsfilm der Berlinale: Das war wohl vor allem als internationale Werbung für den Produktionsstandort (Ost-)Deutschland gedacht.
Dass Filmförderung immer auch Wirtschaftsförderung ist, Business, Umsatz, Profit, damit können wir leben. Sobald aber der Staat mit unserem Geld eingreift, bestimmte Filme fördert - was immer auch heißt: viele andere nicht fördert -, können wir erwarten, dass wir - als die Konsumenten dieser Filme - etwas davon haben. Bei einem Einsatz von über 100 Millionen Mark dürfen wir als "Verbraucher" wohl doch verlangen, auf einem uns angemessenen Niveau unterhalten zu werden.
Europas bis dato teuerster Film aber will uns die Schlacht um Stalingrad allen Ernstes als Scharfschützen-Duell mit rassiger Frau im Hintergrund aufschwatzen: Solch pubertärer Quatsch ist doch schon einem aufgeweckten Teenager zu doof. Dass so etwas auch noch mit Steuermitteln gefördert wird, zeigt mit drastischer Deutlichkeit, dass die für die Vergabe der Filmförderungsmittel Verantwortlichen keinerlei Rücksicht auf unser Herz und unseren Verstand nehmen.
In der Filmpolitik ist es nun freilich noch so wie jahrzehntelang in der Landwirtschaftspolitik: Die Lobbyisten der Film-Branche sitzen an den Schalthebeln der Macht und finanzieren - mit unserem Geld - die Großmachtsphantasien, die sie einem Hollywood von anno dunnemals hinterher träumen. Filmboard-Chef Klaus Keil und seine Brüder im Geiste bei der Berliner Filmförderungsanstalt (FFA) und der Brandenburger Landesbank stehen immer noch im Banne der Tonnen-Ideologie der fünfziger Jahre: je teurer und größer, umso besser.
Die kopernikanische Wende, die Gerhard Schröder Co kürzlich mit der Umwandlung des Landwirtschafts- in ein Verbraucherschutz-Ministerium vollbrachten, dieses Vom-Kopf-auf-die-Füße-Stellen hat die deutsche Filmpolitik also noch vor sich. Irgendwann wird sich die schlichte Tatsache geltend machen, dass die Berliner Filmbranche nur ein paar Tausend Arbeitsplätze schafft (dazu natürlich massenhaft ungeschützte, kurzfristige Arbeitsverhältnisse) - dass dieser Handvoll von Film-Profis in derselben Stadt jedoch dreieinhalb Millionen Verbraucher gegenüberstehen. Auch die deutsche Filmpolitik wird sich deshalb früher oder später zu einer "Verbraucher(schutz)politik" weiterentwickeln müssen. Im Austausch für die viele Staatsknete wird sie gegenüber den Produzenten auf ein Minimum an ästhetischer und inhaltlicher Qualität pochen müssen - und uns dann hoffentlich überteuerte Albernheiten wie Duell ersparen.
Es geht nicht nur um Film, ums Kino. Ästhetische Umweltverschmutzung, die Verunreinigung der inneren Natur unter dem Vorwand ihrer Unterhaltung, ist auf Dauer nicht weniger zerstörerisch als die Missachtung der Um- und Mit-Welt durch Überdüngung, Hormonspritzen und Tiermehl-Verfütterung an Pflanzenfresser.
Von Hollywood lernen!
Was das Premieren-Desaster von Duell so peinlich macht, ist, dass es sich mit einem bisschen Sachverstand hätte vermeiden lassen: Dieser Euro-Film hechelt einem US-Modell hinterher, das in Hollywood selbst schon längst keiner mehr fährt.
Nehmen Sie als aktuelle Beispiele die beiden Wettbewerbsbeiträge aus Hollywood. Dank de Hadelns vorzüglicher Auswahl wurde uns wieder einmal mit wünschenswerter Deutlichkeit vor Augen geführt, wie weit man dort den europäischen Nachahmern voraus ist: nicht nur ästhetisch, sondern vor allem moralisch und intellektuell.
Auch Steven Soderberghs Traffic und Roger Donaldsons Thirteen Days handeln von Krieg. Aber ihnen geht es nicht mehr ums Gewinnen; die alten Männerspiele haben sie hinter sich gelassen.
Beide Filme kreisen mit Nachdruck um die Verhinderung und Beendigung von Kriegen. Offenbar setzt sich eine Einsicht durch, die Gregor Gysi kürzlich auf den Punkt gebracht hat: "Kampf kann immer nur verlieren. Integration tut not." Und deshalb führen uns die wirklich großen US-Stars wie Kevin Costner und Michael Douglas dieser Tage vor, wie man - statt wie früher zuzuschlagen, wenn herausgefordert - die Kunst des Innehaltens übt.
Thirteen Days ist fast schon ein Anti-Action-Film. Rekonstruiert wird die Kuba-Krise im Oktober 1962, als die Amerikaner sich gegen die Stationierung russischer Mittelstreckenraketen auf Kuba zur Wehr setzten. Der Film handelt vom zähen, erfindungsreichen, erbittert intensiven Widerstand, den John und Robert Kennedy und ihr - von Kevin Costner gespielter - Berater den Militärs entgegensetzen mussten. Die US-Generäle wollten draufschlagen, am liebsten sofort: willkommene Revanche für die demütigende Niederlage in der Schweinebucht im Jahr davor.
Thirteen Days zeigt uns Männer, die (unter Schmerzen) lernen, wie man Aggressivität, die eigene und die der anderen, in Schach halten und allmählich transformieren kann. Ihr "Sieg" sieht am Ende so aus, dass - bis auf einen U2-Piloten - niemand zu Schaden kommt, indem sie die Konfrontation mit einem Deal aus der Welt schaffen: die Russen ziehen ihre Raketen aus Kuba ab - und die Amerikaner die ihren aus der Türkei. Am Ende bedrohen beide Seiten einander etwas weniger.
Was Thirteen Days zweieinhalb Stunden lang mit mikroskopischer Präzision vorexerziert, ist wie Intelligenz und Mitgefühl auch mit der anderen Seite die Oberhand behalten und sich durchsetzen können - und wie schwer es ist, dem Sog, der ständigen Verführung zum Zuschlagen zu widerstehen, diesem gewohnheitsmäßigen Reflex jahrhundertealter (Männer-)Machtpolitik.
Auch der Beauftragte des US-Präsidenten für den "Krieg gegen die Drogen", den Michael Douglas in Traffic spielt, durchläuft einen Lernprozess, der auf Abrüstung, zuvörderst im eigenen Schädel und Affekthaushalt, hinausläuft. Am Ende wirft er seinen Job hin, weil ihm die "Krieg den Drogen"-Rhetorik buchstäblich im Munde zerfällt: Man kann nicht Krieg führen gegen die eigenen Kinder, erkennt er zerknirscht. Inzwischen hat er nämlich erfahren müssen, dass auch seine Tochter Drogen nimmt.
Am Schluss des Films sitzt dieser Michael Douglas, der sonst gerne den unverwundbaren Machtmenschen gibt, neben seiner Frau inmitten einer Selbsthilfegruppe für Drogenkranke, während vorn ihre gemeinsame Tochter über ihre Drogen-Erfahrungen spricht. Als man ihn zum Reden auffordert, wehrt er ab: Er sei nur zur Unterstützung seiner Tochter gekommen, und - "um zuzuhören". Das tut er dann tatsächlich, zum ersten Mal in diesem Film: Er hält den Mund und hört zu: Was für ein "Happy End"!
Klaus Keil Co wollen sich mit Babelsberg an Hollywood messen? Bitte sehr, aber dann gefälligst an der ersten Garde! Vielleicht sollten die Herren Filmförderer öfters ins Kino gehen und Kevin Costner und Michael Douglas dabei zuschauen, wie sie große Themen in großes Kino verwandeln. Vielleicht fördern dann endlich Filmboard, Landesbank und FFA große deutsche Filme auf ähnlichem Niveau? Zum Beispiel einen über Willy Brandt, Franz-Joseph Strauß oder Schalck-Golodkowski, über die Spiegel-Affäre, die CDU-Schwarzgeld-Skandale oder über den Untergang der DDR? Bietet unsere jüngste Geschichte etwa nicht genug Stoff für packende Politthriller à la Traffic und Thirteen Days?
Vom Gegner lernen heißt siegen lernen! Gewiss doch, lieber Herr Keil, aber dann machen Sie Hollywood doch bitte richtig nach! Männer mit Schießeisen in wehenden Mänteln jedenfalls sind out.
Europe at its best
Dabei hat es der europäische Film doch dieser Tage gar nicht nötig, US-Modelle nachzuäffen. Italienisch für Anfänger von Lone Scherfig, Intimacy von Patrice Chéreau, Kurische Nehrung von Volker Koepp, Konzert im Freien von Jürgen Böttcher: Das Berlinale-Programm bot vorzügliches Anschauungsmaterial für unseren Reichtum an europäischen Stoffen, Obsessionen und Stilformen.
Dank Lars von Trier und den von ihm und Thomas Winterberg formulierten Dogma-Regeln ist der dänische Film zur derzeit führenden Innovationsschmiede des europäischen Films geworden. Im Wettbewerb war der nun schon sechste Dogma-Film zu sehen, der erste von einer Frau: Italienisch für Anfänger von Lone Scherfig.
Publikum und Kritik waren begeistert, der Film wurde mit Preisen überhäuft und auf dem "Europäischen Filmmarkt" in mehr Länder verkauft als jeder andere. Auch für mich war Italienisch für Anfänger der schönste, der beglückendste Spielfilm der Berlinale.
Woran liegt es nur, dass einem diese Geschichte aus einem öden dänischen Provinzkaff so ans Herz geht? Drei Männer und drei Frauen, alle schon ein bisschen lädiert vom Leben, finden in einem Italienisch-Kurs der örtlichen Volkshochschule zueinander, gruppieren sich zu Paaren. So erzählt klingt es nach Soap oder TV-Komödie, aber Lone Scherfig bringt es fertig, dass wir ihren Schauspielern an den Lippen kleben.
Die Authentizität ihres Spiels ist oft atemberaubend. Das ist eine Frucht der Dogma-Praxis. Sie fordert vom Regisseur, der Regisseurin eines: vollständig loszulassen im Augenblick des Drehs - nichts mehr zu wissen, nichts mehr zu wollen, sondern sich selbst überraschen zu lassen vom Eigenleben, das die Geschichte und die Schauspieler entwickeln.
Vor allem verlangt Dogma vollständiges Vertrauen in die Schauspieler. Die meisten großen Filmregisseure - auch Fritz Lang, dem die diesjährige Retrospektive gewidmet war - waren Diktatoren am Set, Kontroll-Freaks: Sie wussten genau, was sie wollten, und wenn's sein musste, pressten sie das den Leibern und Gesichtern ihrer Darsteller ab. Dogma dagegen speist sich aus der Einsicht, dass erst die Aufgabe der (Regie-)Kontrolle den Schauspielern den Raum zur vollständigen Entfaltung eröffnet - und das Wunder einer "Transsubstantiation" ermöglicht, die die geheime Mission des Kinos ist.
Für Augenblicke, im Bann der laufenden Kamera, werden Schauspieler und Rolle, Zeichen und Bezeichnetes eins. Immer dann springt der göttliche Funke über, und wir spüren uns selbst in dem Leib, dem Gesicht auf der Leinwand. Plötzlich sehen und fühlen wir mit und in einen Anderen.
So nahe dran, so unverhofft: Darauf können wir, im Kino wie im "wirklichen Leben", kaum anders antworten als damit, unser Herz zu öffnen. Nach Italienisch für Anfänger kommt man aus dem Kino und möchte die ganze Welt umarmen.
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