Potentiale und Fallstricke von Identitätspolitik

Volksentscheid Über den Umgang mit sexualisierter Gewalt bei Deutsche Wohnen & Co. enteignen

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Kathleen Stock, Max Czollek, Annie Ernaux, Didier Eribon, Deniz Ohde, Grit Lemke, Dirk Moses, Donald Trump. Ob Gender, Jüdisch-, Frau-, Schwulsein, aus der migrantisierten Arbeiterklasse, aus Ostdeutschland stammend, autoritäre Erinnerungskultur oder White Supremacy. Identitätspolitiken sind nicht nur omnipräsent, sondern mannigfaltig. Immer mit dabei: das Gespenst der Cancel Culture. Es huscht, angestachelt vom Getöse der medialen Aufregung, durch die großen Hörsäle, altehrwürdigen Katakomben, staubigen Bibliotheksregale, hoch frequentierten Telegram-Kanäle, unübersichtlichen Internetforen und digitalen Zoom-Meetings. Während die einen sich in eine Ecke verziehen und darauf hoffen, dass der Spuk bald vorbei ist, schwingen sich die anderen zu Ghostbustern auf und gehen mit heulenden Sirenen auf Geisterjagd.

Zwei Perspektiven haben ihre Berechtigung: Für die einen handelt es sich um essentielle Debatten. In ihnen entscheidet sich, wie wir in Zukunft unter anderem über Geschlecht, Antisemitismus, soziale Gerechtigkeit, die Shoah, Nationalismus und Rassismus denken. Den anderen begegnet die Debatte abstrakt, vermittels Medien, in der Form von Skandalen mit emotionalen Affekten, nicht selten als Bedrohung. Das breite Spektrum unterschiedlicher Perspektiven ist Ausdruck einer sich sozial immer stärker ausdifferenzierenden Gesellschaft, die sich wiederum selbst in Identitätspolitiken ausdrückt. Doch gesellschaftliche Ausdifferenzierung schafft ein Vermittlungsproblem. Je mehr Leute unter ihresgleichen bleiben, desto schwerer fällt die Kommunikation mit anderen.

Wohl wie kaum eine andere politische Kampagne ist Deutsche Wohnen und Co. enteignen ein Zusammenschluss von Verschiedenen. Sie zählt zu den erfolgreichsten zivilgesellschaftlichen Projekten der vergangenen Jahrzehnte. Am 26. September gewann sie in Berlin mit überragender Mehrheit einen Volksentscheid zur Vergesellschaftung der größten profitorientierten privaten Immobilienkonzerne. Wohnen soll als Menschenrecht begriffen und deshalb dem Kapitalmarkt entzogen werden. Nach der neoliberalen Wende samt Abschaffung der Wohngemeinnützigkeit im Zuge der Vereinigung von BRD und DDR geht wieder das Gespenst der Gemeinwirtschaft um. Dabei hatte kurz vor Ablauf der zweiten Unterschriftensammelphase ein Vorfall/Vorwurf sexualisierter Gewalt die Kampagne erschüttert. Identitätspolitische Reaktionen machten sie handlungsfähig und brachten sie zugleich an den Rand des Scheiterns.

Gespenstische Stimmung beim Volksentscheid

Der Vorfall/Vorwurf existierte zunächst nur als Gerücht. Eine Aktivistin hatte offengelegt, von einem Sprecher der Kampagne sexuell genötigt worden zu sein. Als Gerücht verbreitete sich der Vorfall/Vorwurf immer weiter und schob über Wochen eine unsichtbare Grenze zwischen Eingeweihten und Unwissenden vor sich her. Als er im Plenum offen besprochen wurde, sollten die Namen der Betroffenen und des Beschuldigten ungenannt bleiben. Dies öffnete den Raum, um allgemein über sexualisierte Gewalt zu sprechen.

Dank vorangegangenen identitätspolitischen Debatten, allen voran #MeToo seit Oktober 2017, war den meisten von Anbeginn klar: Sexualisierte Gewalt ist gesellschaftlich allgegenwärtig und es war ein Versäumnis, sich in einer Kampagne, in der hunderte Menschen zusammenkommen, für den Fall eines Übergriffs keine Struktur gegeben zu haben. Schnell wurde jedoch deutlich, dass eine allgemeine Diskussion an zwei Faktoren scheiterte. Erstens war der Ausgangspunkt der Debatte ein konkreter Fall mit einer betroffenen und einer beschuldigten Person. Zweitens handelte es sich bei dem Beschuldigten um einen führenden Aktivisten, dessen Rolle exponiert war und daher konkrete Maßnahmen gegen ihn eingeleitet werden mussten.

So begann das Gespenst der Cancel Culture zu spuken und konnte nur mit Mühe im Zaum gehalten werden. Im Sinne des Wortes „canceln“ konnte man den Vorfall/Vorwurf nicht zurücknehmen, sich dessen nicht entledigen. Nach eigener Aussage hatte die Betroffene Anzeige erstattet, der Beschuldigte wiederum mit einer Unterlassungserklärung reagiert. Und nicht zuletzt waren die sozialen Beziehungen, durch die sich die Kampagne viel stärker auszeichnet als durch institutionalisierte Abläufe, erschüttert. Die Absenz der Betroffenen spiegelte den Aktivist*innen ihr Versagen, nicht besser aufeinander aufgepasst, und ihre Trauer, die Kampagne als sicheren Raum verloren zu haben. Die Absenz des Beschuldigten, der den Vorfall/Vorwurf von Anfang an bestritt, spiegelte wiederum dessen Unterstützer*innen, dass eine ungerechte Vorverurteilung stattfinde.

Noch ist das Gespenst nicht in die Falle gegangen, der Machtkampf schwelt noch immer, wovon so manch öffentliche Einlassung der vergangenen Wochen zeugt. Die Interventionistische Linke, von Anbeginn ein wichtiger Baustein der Kampagne, äußerte sich Anfang November in der Monatszeitung analyse & kritik. Der linksradikalen Gruppe, welche sich stark für die Betroffene positionierte, war vom Beschuldigten und dessen UnterstützerInnen vorgeworfen worden, diesen kaltstellen und die Kampagne übernehmen zu wollen. Der Beschuldigte tweetete mittlerweile, der Staatsanwalt habe das Verfahren gegen ihn eingestellt – und insinuierte damit, vom Vorwurf der sexuellen Belästigung freigesprochen worden zu sein; ein mediales Heulen, das jenen Aktivist*innen, die sich derweilen um einen Aussöhnungsprozess bemühten, den Atem stocken ließ.

Alte oder neue Gespenster?

Von außen betrachtend, können viele Menschen kein Verständnis für derlei Auseinandersetzungen aufbringen. Lassen wir mögliche niedere Beweggründe außen vor, begründet sich das fehlende Verständnis oft durch: Wahrheit. Zumal in westlichen Gesellschaften, die ihr Selbstverständnis aus der Epoche der Aufklärung ableiten. Mit der Herausbildung und Demokratisierung des europäischen Nationalstaats veränderte sich auch die Wahrheit. Teil der Entzauberung der Welt war es, staatlichen Institutionen die Kompetenz zuzusprechen, über die Wahrheit zu verfügen. Insofern könnte die Einstellung des staatsanwaltlichen Verfahrens tatsächlich bedeuten, der beschuldigte Aktivist sei in Wahrheit zu Unrecht bezichtigt worden. Und wo die Wahrheit eindeutig gesprochen wurde, bestimmte Gruppe diese jedoch nicht akzeptieren, dort zeigt der Seismograf umso heftiger die paranormalen Aktivitäten des Cancelns an.

Selbstredend ist die Sache so einfach nicht. Die Einstellung behördlicher Ermittlungen bedeutet nicht im Umkehrschluss die Unschuld der Beschuldigten. Noch wichtiger allerdings ist die allgemeine Frage nach dem Wahrheitsregime. Denn die Institutionen des modernen Staates sind stets umkämpft, ihre Wahrheitssprechung immer prekär. Ob die antisemitisch motivierte Degradierung des französischen Artillerie-Hauptmanns Alfred Dreyfus 1894, die Hinrichtung der Anarchisten Sacco und Vanzetti im Staatsgefängnis von Charlestown 1927, die erste Demonstration von Sinti in Heidelberg 1973 wegen der Erschießung eines Sinto durch die deutsche Polizei, der Tod Oury Jallohs im Polizeigefängnis Dessau 2005 und die anschließenden Freisprüche der verantwortlichen Polizisten, die Tötung des Schwarzen Schülers Trayvon Martin 2012 und der anschließende Freispruch des Todesschützen – das staatliche Wahrheitsregime und die Rechtsprechung als dessen höchste Form sind, nicht selten über nationale Grenzen hinweg, umkämpft.

Führen wir also schlicht die alten Kämpfe, wenn wir von Postmoderne, Identitätspolitik und Cancel Culture sprechen? Vieles deutet weniger auf eine Kontinuität umkämpfter Wahrheitsregimes, dafür umso mehr auf neue Konstellationen hin: das Ende der Systemkonkurrenz seit 1989, die bröckelnde Hegemonie der USA, das Aufstreben Chinas, die Sprech- und Durchsetzungsfähigkeit vormals marginalisierter Gruppen, ein ungekanntes Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich. Das Hinterfragen des staatlichen Wahrheitsregimes mag also eine neue Qualität erreicht haben. Konkret zeugen davon Debatten über Racial Profiling, die Verabschiedung des Berliner Landes-Antidiskriminierungsgesetzes, eine vom Bundesinnenministerium finanzierte Studie zu institutionellem Rassismus im Rahmen des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt.

Wenngleich so manch staatliche Arena in Bewegung geraten ist, tritt die institutionelle Wahrheitsfindung anderenorts auf der Stelle. Davon betroffen bleiben Fälle sexualisierter Gewalt. Eine 2014 für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angefertigte Studie besagt, dass nur für 11 % der Fälle "schlimmster/einziger Situation körperlicher Gewalt" (definiert als Zwang zur sexuellen Handlung gegen den Willen der Betroffenen) die Polizei eingeschaltet wurde, 7 % überhaupt erst zur Anzeige gebracht wurden, mickrige 4 % vor Gericht landeten, lächerliche 2 % zu einer Verurteilung führten. Man braucht keine Statistikkenntnisse, um zu urteilen: Für sexualisierte Gewalt erfüllt der Rechtsstaat weder die Notwendigkeit der Wahrheitsfindung noch die der Gerechtigkeit, von Schutz und Prävention ganz zu schweigen. Die Gründe hierfür sind vielfältig und können unter dem Begriff des Patriarchats zusammengefasst werden. Entscheidend für gesellschaftliche Zusammenschlüsse wie die Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen ist, dass die Vorfälle/Vorwürfe sich nicht externalisieren, nicht an gerechte Institutionen abgeben lassen. Zwangsläufig müssen sie sich selbst um Wahrheit und Gerechtigkeit kümmern.

Keine Gespenster, aber gespenstische Strukturen

Selbstredend beeinflussen die soziale Situiertheit und politische Positionen den Blick auf die Wahrheit. Insbesondere ältere und marxistische Mitglieder der Kampagne stellten die Frage danach, was wirklich passiert sei. Doch ist Deutschen Wohnen und Co. enteignen ein zivilgesellschaftliches Bündnis, dessen Plenum weder für die Betroffene noch für andere Betroffene sexualisierter Gewalt einen sicheren Raum darstellen kann. Will man Retraumatisierungen vermeiden, setzt das ein besonderes Maß an Professionalität, Sensibilität und Vertrauen voraus. Zumal das Phänomen in linken Kontexten nicht neu ist. Bereits in den 1970er und 1980er Jahren machte die autonome Frauenbewegung die Erfahrung, dass Prozesse der Wahrheitsfindung zum Scheitern verurteilt sind. Dies gilt umso mehr, wenn Polizei oder Staatsanwaltschaft eingeschaltet sind, ein Strafermittlungsverfahren eröffnet wurde. Aussagen von Betroffenen und Beschuldigten, aber auch aus deren Umfeld, können von den ermittelnden Behörden gegen diese verwandt werden. Anstelle einer offenen Aussprache rückt die Furcht davor, sich selbst zu belasten.

Grundlage der Frage, wie mit dem Vorfall/Vorwurf umzugehen sei, konnte folglich nur dessen Plausibilität sein. Um diese einzuschätzen, benötigte es jedoch die einmalige Benennung des Vorfalls/Vorwurfs. Über Wochen – wenngleich mit der guten Intention, die Betroffene und andere Betroffene sexualisierter Gewalt zu schützen – überließen der Koordinierungskreis der Kampagne und die Unterstützer*innen der Betroffenen es der Fantasie der Aktivist*innen, sich ein Bild über das Vorgefallene zu machen. Bei manchen sorgte dies dafür, schlimmstmögliche Formen sexualisierter Gewalt zu imaginieren. Bei anderen nährte es die Vorstellung, einem gezielten Angriff der Immobilienlobby ausgesetzt zu sein.

Einer überragenden Mehrheit der Aktivist*innen war von Anbeginn klar, dass der Beschuldigte sich zumindest zeitweise von seiner exponierten Rolle, eventuell sogar gänzlich aus der Kampagne zurückziehen muss. Eine später folgende Abstimmung zementierte den Ausschluss. Wenngleich Unterstützer*innen der Betroffenen zurecht auf die Unmöglichkeit einer Wahrheitsfindung hinwiesen, operierten sie selbst mit einem strikten Wahrheitsregime – auch in Reaktion auf die unsensiblen bis respektlosen Wortbeiträge, mit denen die Unterstützer*innen des Beschuldigten für dessen Unschuld kämpften. Aktivist*innen der Interventionistischen Linken verwiesen u. a. darauf, dass nur drei Prozent der getätigten Anzeigen Falschbeschuldigungen seien, unterließen dabei aber eine kritische Einordnung ihrer Quelle. Dies trug dazu bei, Tatsachen durch Sprache zu schaffen. Im Plenum war geflissentlich nur noch vom Täter, nicht länger vom Beschuldigten oder potentiellen Täter die Rede. Kritik am Vorgehen des Koordinierungskreises und der Unterstützer*innen wurde mitunter als Täterschutz dargestellt.

Die Rhetorik in der Kampagne tendierte folglich dazu, Verhältnisse und Strukturen mit Personen gleichzusetzen. Mögen manche akademisierte Aktivist*innen noch so vehement behaupten, es sei nicht um individuelle Schuld oder Unschuld gegangen; der Vorfall/Vorwurf zwang die Kampagne dazu, Maßnahmen gegen eine konkrete Person zu ergreifen. Dabei zeigte sich, dass unser Denken sich kaum von den personifizierenden Kategorien des bürgerlichen Rechtsstaats entkoppeln lässt. Wie auch? Individuelle Schuld und gesellschaftliche Struktur bedingen sich gegenseitig, verhalten sich dialektisch zueinander. Dieses Verhältnis ist kompliziert. Die Ausweisung von Schuldigen und die manichäische Einteilung in Gut und Böse birgt das falsche Versprechen, die Schuld zu tilgen, die Gesellschaft - im konkreten Fall die Kampagne - erneut ins Lot zu bringen, eben die Komplexität aufzulösen. Auch bei Deutsche Wohnen und Co. enteignen rückte das eigentliche Problem in den Hintergrund: das Patriarchat, dessen manifester Ausdruck das Fehlen gerechter staatlicher Institutionen ist.

Anstelle der Geisterjagd: Widersprüche denken

Die strukturellen Verhältnisse führten die Kampagne folglich in ein Dilemma. Während staatliche Institutionen einerseits zurecht als Gerechtigkeitsinstanzen abgelehnt wurden, dienten ihre Statistiken andererseits als Wahrheitsinstanzen. Doch die drei Prozent falscher Anschuldigungen sind schon allein deshalb verzerrt, weil diese für angezeigte Vergewaltigungen und nicht allgemein für angezeigte sexualisierte Gewalt gelten. Entscheidender ist aber vielmehr: Die Wahrheit des einen kann nicht einfach auf einen anderen Kontext übertragen werden. Ein linkes Projekt, das sich ein antipatriarchales Selbstverständnis auf die Fahnen schreibt, bietet nicht-männlichen Personen einen anderen Möglichkeitsraum als – beispielsweise – die konservative Werteunion. Nicht-männliche Personen können hier zurecht mehr Macht als im gesellschaftlichen Durchschnitt ausüben. Selbstverständlich geht damit auch ein höheres Potential für Machtmissbrauch einher. So hörte (nicht nur) der Kreis um den Beschuldigten die Geister spuken.

Böse Zungen behaupten, es komme nicht von ungefähr, dass ausgerechnet eine aus akademischen Performer*innen bestehende Linke immer wieder zu überzogenen, den Widerspruch auflösenden, Identitätspolitiken neige. Einerseits ist es jenen kaum gelungen, innerhalb ihrer Strukturen sichere Räume zu etablieren, in denen Betroffene sexualisierter Gewalt ihre Erfahrungen teilen und in denen Männerrunden stattfinden, die sich nicht nur durch schamhaftes Schweigen auszeichnen. Andererseits schreit sie, dankenswerterweise, umso lauter, wenn es darum geht, Feminizide in Südamerika, das Verbot von Abtreibungen in Polen oder die häusliche Gewalt hierzulande anzuklagen. Doch insbesondere die schlimmsten Auswüchse sexualisierter Gewalt passieren zum überwiegenden Teil in der Familie, unter Freund*innen und Bekannten. Wenn das vorgeblich „Private“ ausgespart wird, tut sich ein Spannungsfeld auf, das mindestens für kognitive Dissonanzen sorgt, für Betroffene sexualisierter Gewalt gar zur Zerreißprobe werden kann.

Identitätspolitik erscheint als Chance und Fallstrick zugleich. Unter #MeToo fanden Selbstermächtigung, echte Begegnungen und soziale Veränderung genauso statt wie die Individualisierung sexualisierter Gewalt und der Ausschluss nicht-weißer Perspektiven. Identitätspolitiken, die ihre Widersprüchlichkeit nicht länger reflektieren, sondern mitunter als Cancel Culture auftreten, können nicht einfach als paranormale Geister abgetan werden. Mit einem Artikel in der Zeitschrift EMMA sorgte Vojin Saša Vukadinović im Juni 2017 für einen Aufschrei. Anhand erlesener Beispiele führte er die Leser*innen in die Abgründe der Gender Studies. Und man muss, beileibe nicht allein für das Feld der Gender Studies, konstatieren: Ja, es gibt sie, diese ominösen Fälle identitätspolitischer Grenzziehungen nach eindimensionalen Merkmalen: Geschlecht, Race, Migrationsgeschichte, Religion.

Doch reichen extreme Beispiele dazu hin, eine ganze wissenschaftliche Fachrichtung als „akademische[n] Sargnagel der Frauenemanzipation“ abzukanzeln? Im Missy Magazine nahm Paula-Irene Villa Braslavsky Satz für Satz von Vukadinović‘ Artikel unter die Lupe. Das Ergebnis ihrer Textanalyse: ein differenziertes, aber auch selbstkritisches Bild des eigenen Forschungsfelds.

Wie sehr die Kritiker*innen der Identitätspolitiken selbst projizierten Fremd- und Selbstbildern aufsitzen, hat Vukadinović in einem FAZ-Artikel im März 2021 bewiesen. Anlass war, dass das Berliner Leibniz-Zentrum eine Keynote absagte, welche die damals schon umstrittene Kathleen Stock im Rahmen einer Tagung hätte halten sollen. Mit einem salto mortale landete der Publizist in der autoritären Türkei, wo islamkritische Studenten und Professoren zuletzt heftig sanktioniert und verfolgt wurden. Vukadinović ging und geht es bis heute darum, in altbewährter Manier vor dem Islam zu warnen. Das queer-aktivistische Engagement gegen Stock drohe – weltweit? – unter dem Deckmantel der Kritik an „Islamfeindlichkeit“ die notwendige Kritik am Islam zu unterminieren. So war der Kritiker ausgezogen, einen Geist zu jagen. Zurück kam er mit dutzenden Dämonen. Seine Gegenspielerin einmal mehr: Villa Braslavsky. Erfrischend ehrlich reagierte die Münchner Professorin auf Stocks Rücktritt: „Schwer zu beurteilen, wer geht da wie zu weit“, antwortete sie dem Bayerischen Rundfunk. Trotzdem – oder gerade wegen einer solchen Antwort – lernt man hier weit mehr als von den kursierenden starken Meinungen, sowohl über Hintergründe des Konflikts als auch über milieuspezifische Diskurse und Machtverhältnisse.

Dem eigenen Dämon Platz, dem Widerspruch Struktur geben

Extreme Fallbeispiele und starke Meinungen taugen als wichtige Tools, um Debatten auszulösen. Häufig dienen sie aber schlicht zur Aufmerksamkeit, die gerade kein Interesse an Ausgewogenheit und Erkenntnisgewinn hat. Im Rahmen der Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen zeugten insbesondere Wortmeldungen aus dem Kreis des Beschuldigten von diesem fehlenden Interesse. Indem unter anderen das Bild des mittelalterlichen Prangers bemüht wurde, gerieten strukturelle Verhältnisse aus dem Blick, wurden gar verschleiert. Dabei hätte es unter dem Schlagwort „Männlichkeit“ viel zu erkennen gegeben – z. B. das Verhalten des Beschuldigten, welches sich unweigerlich mit der eigenen sexistischen Sozialisation der Aktivist*innen verquickte. Ich selbst, aber auch spätere Unterstützer*innen der Betroffenen, feierte noch vor Monaten die frivole Art, die direkte „Berliner Schnauze“ des Beschuldigten. Wir hätten dagegen auch sagen können: „Mach dein Mikro aus!“ „Hör auf reinzuquatschen!“ „Hör gefälligst zu!“ Wäre der Vorfall/Vorwurf auch dann geschehen, wenn wir das männliche Verhalten des Beschuldigten frühzeitig adressiert hätten?

Unser Versäumnis war selbst Ausdruck von Identitätspolitik. Wir hatten uns mit jemanden identifiziert, den wir als authentisch wahrnahmen – und damit mit einer Projektion, die unweigerlich mit unserer eigenen Akademisierung und Entfernung von „den normalen Menschen“ zusammenhängt. Bei manchen folgte nach dem Vorfall/Vorwurf eine Identifikation mit umgekehrten Vorzeichen. Sich mit der Betroffenen zu identifizieren, versprach, die Integrität der eigenen Position abzusichern und die politische Arena dichotom in falsch und richtig einzuteilen. Zu keinem Zeitpunkt äußerte sich Kritik am Vorgehen der Betroffenen, Anzeige erstattet und so den Prozess einer außerstaatlichen Aussöhnung verunmöglicht zu haben. Sowohl das jüngste Interview mit Aktivist*innen der Interventionistischen Linken als auch die Verlautbarungen des Beschuldigten und seiner Unterstützer*innen zeugen von der Vorstellung, selbst stets richtig gehandelt zu haben, die Schuld einer eskalierenden Gegenseite zuzuschieben.

In der Geisterbahn der Schuldzuweisungen ging dabei eine Perspektive unter, die insbesondere von Frauen* mittleren Alters artikuliert worden war. Unter dem widersprüchlichen Schlagwort der „doppelten Unschuldsvermutung“ sollte sowohl der Betroffenen geglaubt als auch die nicht bewiesene Schuld des Beschuldigten gewürdigt werden: eine Position aus zwei, sich eigentlich gegenseitig ausschließenden, Positionen. Als praktische Konsequenz war dennoch vorgesehen, den Beschuldigten zu suspendieren oder ihm zumindest einen eng abgesteckten Raum innerhalb der Kampagne zuzuweisen. Die Chaisen der Geisterbahn aber fuhren samt Aktivist*innen über den Vorschlag hinweg. Weder die Betroffene noch der Beschuldigte blieb Teil der Kampagne. Bis heute droht der Schrecken in Form von öffentlichen Äußerungen einzelner Aktivist*innen und Diffamierungen in der rechten Presse. Dabei ist es an der Zeit, aus der Geisterbahn auszusteigen, die eigenen Dämonen offenzulegen, Widersprüche auszuhalten und die Schuld bei der Struktur zu suchen.

Kristóf Pörkölt war in der Kampagne Deutschen Wohnen & Co. enteignen aktiv und arbeitet als Sozialwissenschaftler und historisch-politischer Bildner.

°Texte sind in Form gegossene Gedanken, die individuellen Autor*innen zugerechnet werden. Doch Denken geschieht niemals allein. Dieser Text wäre ohne Josi, Pussa und Tim so nicht entstanden. Danke!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Kristóf Pörkölt

Politikwissenschaftler und Historiker, Aktivist, Antifaschist, Lernender und Fragender

Kristóf Pörkölt

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