Der Schriftsteller Yu Jie verzieht kaum eine Miene, als sich ein dunkel gekleideter Mann schräg gegenüber an den Restauranttisch im Nordosten Pekings setzt. „Solange sie mich in Ruhe lassen, störe ich mich daran nicht weiter“, sagt der 35-Jährige und rückt sich seine Brille zurecht, „ich versuche, einfach schon so zu leben, als ob China ein freies Land wäre.“ Seit am 2. Dezember die politische Streitschrift „Charta 08“ erschienen ist, werden Yu und viele der insgesamt 303 Erstunterzeichner von den Behörden befragt. Wann, wie und warum sie das Dokument unterzeichnet hätten, ob es eine Organisation gäbe, die dahinter stehe und was es mit der Anspielung auf die „Charta 77“ damaliger CSSR-Dissidenten u
die „Charta 77“ damaliger CSSR-Dissidenten um Vaclav Havel auf sich habe.Sich im Krisenjahr 2009 als kompetenter und effizienter Herrscher zu präsentieren, ist für Chinas Regierung keine leichte Aufgabe. Nach den Fabrikpleiten mit Millionen entlassener Wanderarbeiter im Süden und Osten wird die Wirtschaftskrise auch in den Städten spürbar. Nach Angaben des Arbeitsministeriums haben sich im IV. Quartal 2008 eine halbe Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Damit stieg die – bislang nur in den Städten ermittelte – Arbeitslosenrate auf 4,2 Prozent, nicht unbedingt ein authentischer Wert, da Wanderarbeiter größtenteils nicht erfasst werden. Das Land müsse sich auf Unruhen einstellen, räumte die Regierung in ihrem Ausblick auf das Jahr 2009 ein und ließ offen, ob das auch eine Anspielung brisante Jubiläen war.Vorbild „Charta 77“Vor 90 Jahren, am 4. Mai 1919, zogen Intellektuelle gegen die „rückständige“ konfuzianisch-geprägte Staatsorthodoxie durch Peking und forderten, mit Hilfe von „Wissenschaft“ und „Demokratie“ das Reich der Mitte zu modernisieren. In diesem Geist rief Mao Zedong vor 60 Jahren, am 1. Oktober 1949, die Volksrepublik aus. Und vor 20 Jahren, am 4. Juni 1989, fand die Protestbewegung für Freiheit und Demokratie auf dem Tiananmen-Platz ein blutiges Ende. Werden in diesem Jubiläumsjahr sozialer Abstieg und politischer Dissens erneut eine Protestbewegung auslösen?Die Charta fordert 19 Maßnahmen, um die Menschenrechtssituation in China zu verbessern. Gefordert werden unter anderem eine unabhängige Justiz, die Freiheit, Vereinigungen zu gründen und ein Ende des Einparteiensystems. Mehr als 8.000 Bürger sollen nach Angabe der Autoren das Manifest per Mailzusendung unterstützt haben, doch zeichnet sich trotz der Unterschrift einiger Arbeiter keine Allianz zwischen Intellektuellen und anderen Volksschichten ab. Die meist abstrakt gehaltenen Postulate meiden den Bezug zu konkreten Sorgen und Nöten der Bevölkerungsmehrheit.Der Journalist Wang Xiaoshan meint, er habe die Charta nicht aus sozialen Gründen unterschrieben, sondern weil sie sich auf Prinzipien berufe, „die auf dem Papier längst existieren. Wenn sie mich dafür ins Gefängnis stecken wollen, dann bitte.“Keine klassische Dissidentin Cui Weiping, Professorin an der Nationalen Filmakademie, nickt bedächtig und schaut Wang schweigend an. Sie sagt von sich selbst, sie sehe sich eigentlich nicht als klassische Dissidentin, die den Konflikt suche. Die 50-Jährige wird von Chinas Offiziellen als „berühmte Gelehrte, Kulturkritikerin und Übersetzerin“ anerkannt. Sie habe mit ihrer Karriere von einem fortschrittlicheren und offeneren China profitiert, meint Cui, es gehe ihr nun aber mehr denn je um Wahrheit und Moral. Das Schweigen über die blutigen Ereignisse vom 4. Juni 1989 bedrücke sie bis heute. Aber deshalb die offenen Konfrontation mit der chinesischen Führung suchen? „Wie die einstige Charta 77 betont auch die Charta 08 den Dialog mit der Regierung“, sagt Cui „doch aus Verantwortung für unser Land konnte ich nicht länger schweigen.“Einer solch patriotisch gefärbten Kritik kann sich die chinesische Regierung nur schwer entziehen. Nach Berichten der oft gut informierten überseechinesischen Webseite Boxun soll Parteichef Hu Jintao angeregt haben, zurückhaltend auf die Charta 08 zu reagieren und zu klären, wer weshalb unterschrieben habe. So hat es denn bisher auch keine öffentliche Polemik gegen die Unterzeichner in den Medien gegeben. Gegen Dissidenten werde hart vorgegangen, so Hu laut Boxun, aber Bürger, die eigentlich auf unserer Seite stehen, dürften nicht durch Repressionen verprellt werden. Im Vorfeld der Jubiläen und bei einer sich möglicherweise verschärfenden Wirtschaftskrise könnte diese Politik der dosierten Toleranz zur Gratwanderung werden. Laut Boxun-Berichten empfinden manche in der Partei Hus politische Linie als zu konziliant und verlangen ein härteres Vorgehen gegen Aktivisten aller Art. Doch Divergenzen innerhalb der KP-Führung, zu denen es im Frühjahr 1989 wegen des Dialogs gekommen war, den der damalige Generalsekretär Zhao Ziyang mit der studentischen Protestbewegung gesucht hatte, sind bisher nicht erkennbar.