Hochkonzentriert bewegt Schülerin Wang Shaoyuan im Klassenzimmer der Xiangtang-Konfuzius-Schule nördlich von Peking ihren Zeigefinger über den Lehrtext. „Wenn Du eine gütige Regierung einsetzt, werden Dich die Leute lieben“, liest die Zwölfjährige mit halblauter Stimme aus einem Buch des klassischen Philosophen Menzius „Und sie werden bereit sein, für ihre Beamten zu sterben.“
Seit knapp einem Monat wohnt Wang mit 40 Kindern auf dem kleinen Schulgelände außerhalb von Peking. Ringsherum liegen grüne Felder und einstöckige Häuser im traditionellen Holzbaustil. Während eines strikt durchorganisierten Tagesablaufs mit Frühsport um vier Uhr und Abendmeditation lernen die Schüler vorrangig Büch
Bücher der klassischen chinesischen Philosophie und Literatur auswendig. In den schlicht gehaltenen Klassenräumen hängen schwarz-weiße Kalligraphien und Zitate über Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und weitere Tugenden an den Wänden.Rezitieren der KlassikerMit den Werken vorchristlicher Philosophen wie Menzius – er war ein Schüler des Konfuzius – oder Laozi erblühte vor Jahrtausenden die chinesische Kultur. Die dort beschriebenen Herrschaftsregeln dienten den Kaisern als Maßstab. Der Hofstaat wie auch das Gros der Beamten orientierten sich an Weisheit und Tugendhaftigkeit der Klassiker. Gelehrte und Revolutionäre wetteiferten um Wert und Gewicht einzelner Werke. Meditation und Studium galten viel – erst im 19. Jahrhundert mit dem Einfall der westlichen Kolonialmächte und ihrer Kultur in das Reich der Mitte sollte sich das ändern. Im Vertrauen auf Wissenschaft und Technik fühlten sich Chinas Herrscher plötzlich veranlasst, die Ideen der eigenen Philosophen als rückständig oder realitätsfremd zu verdammen.Aber immer wieder hat das Erbe eine Renaissance erlebt. So auch in diesem Jahr. China ist auf der Suche nach eigenen, authentischen Wurzeln. Mit der aktiven Erinnerung an einen tradierten Wertekanon soll die Gesellschaft harmonisiert, die Nation jenseits wirtschaftlicher Zwänge vitalisiert und – vor allem – moralischer werden.Aller Anfang liegt im Bildungssystem. Die chinesische Regierung hat deshalb nicht nur Konfuzius-Institute im Ausland gegründet, sondern auch Zentren für „chinesisches Lernen und chinesische Kultur“ (guoxue) in Peking. Die Elitehochschule Qinghua etwa ersetzt für eine Gruppe von Bachelor-Studenten aus geisteswissenschaftlichen Fächern versuchsweise das Studium des Marxismus durch die Beschäftigung mit vier konfuzianischen „Klassikern“. In der westlichen Metropole Chengdu wird ab September an allen Kindergärten, Grund- und Mittelschulen das Rezitieren aus philosophischen Werken eingeführt. Kritiker wie der kürzlich verstorbene Literaturprofessor Shu Wu sehen darin einen gefährlichen Trend – man kehre „zurück zu feudalistischen Praktiken“ und einem „engen Nationalismus“, klagte er.Wie auf Gehorsam getrimmt wirken die Kinder an der Xiangtang-Konfuzius-Schule in Peking allerdings nicht. Ihre Verbeugung und der höfliche Gruß vor jedem Lehrer erscheinen allenfalls befremdlich. Schülerin Wang Shaoyuan gefallen das feste Tagesregime und die Gepflogenheit, keine Prüfungen mehr ablegen zu müssen – von der Kontrolle der Konfuzius-Texte abgesehen. Die liest sie, ohne den Inhalt zu verstehen. „Es klingt interessant“, kichert Wang, „unser Lehrer hat gesagt, wir hätten das ganze Leben Zeit, dies zu verstehen.“ Ein Gong ertönt, sie springt auf und rennt mit anderen Schülern quer über den Hof in Richtung Speisesaal. Als die Kinder an Direktor Zhao Zhihong vorbeikommen, stoppen sie kurz, verbeugen sich und springen weiter. Der 35-Jährige in weiß-blauem Hemd und in Jeans schaut erst ernst, dann huscht ein Lachen über sein Gesicht.Ohne KonkurrenzwahnZhao ist Pädagoge aus Leidenschaft, wirkt aber niemals verbissen. Über seine von dem taiwanesischen Professor Wang Caigui übernommene Lern- und Lehrtheorie kann er stundenlang referieren. Vom Grundmotiv her geht es darum, den humanistischen Geist des Schülers zu wecken und ihn zu einem tugendhaften Menschen zu erziehen, dem der soziale Aufstieg nicht über alles geht. Die dafür prägende Phase im Leben eines Kindes endet laut Zhao im Alter von 13 Jahren. „Mit simplen Liedern und einfachen Spielen verschwendet die westlich geprägte Pädagogik viel Potential. Aber das geschieht auch bei uns, wenn zum Beispiel den Kindern mit naturwissenschaftlichem Wissen der Kopf zugestopft wird.“ So könnten weder kreative noch wertorientierte Menschen aufwachsen.Deshalb hat der studierte Elektroingenieur vor fünf Jahren erst eine kleine Schule in der Nachbarstadt Tianjin und dann in Peking auf die Beine gestellt. 30 bis 60-tägige Ferienkurse kosten zwischen umgerechnet 180 und 320 Euro inklusive vegetarischem Essen. Manche Eltern lassen ihre Kinder auch für mehrere Monate die Lese- und Rezitationslehre durchlaufen. „Die haben verstanden, der Konkurrenzwahn in unserem Bildungssystem erzieht die Kinder nicht zu wirklich großen Menschen.“ Zhao hofft, dass seine als Ausbildungszentrum registrierte Anstalt irgendwann als Grundschule staatlich anerkannt wird.Ob sich hinter seinem pädagogischen Idealismus auch nationalistische Träume verbergen, ist schwer zu sagen. Der Tagesablauf kann wie ein Drill wirken. An der Xiangtang-Konfuzius-Schule herrscht für die unter 13-Jährigen striktes Handy- und Popmusik-Verbot. Es gibt kein Fernsehgerät und kein Internet. Zhao möchte Persönlichkeiten ausbilden, wie es einst die Huangpu-Militärschule in Südchina tat, gegründet während der zwanziger Jahre im Namen der Kuomintang (Nationalistenpartei). Zhao prophezeit, dass die westliche Kultur wegen ihres Hangs, den Menschen von sich selbst zu entfremden, keine große Zukunft mehr habe. Nur die chinesische Kultur mit ihrem „Glauben an das rechte Maß und die Rationalität“ könne künftig noch wertvolle Inspirationen liefern. In Zhaos Visionen ist China einzigartig, aber nicht absolut. Deshalb lässt er seine Schüler auch die Bibel oder Werke von Shakespeare und Goethe lesen und auswendig lernen sowie die Sinfonien von Beethoven hören. „Kern der chinesische Kultur ist der Wille, das jeweils Beste vom anderen zu lernen. Das sollte die Basis für ein respektvolles Miteinander und tiefere Erkenntnis sein“, glaubt Zhao.