Während die westliche Welt noch rätselt, wie sich die Wirtschaftskrise 2010 bemerkbar machen wird, wächst Chinas Ökonomie offenbar ungebremst. Im abgelaufenen Krisenjahr lag die Rate bei 10,7 Prozent. Vergessen sind die „mageren“ 6,1 Prozent aus dem ersten Quartal 2009. Die Volksrepublik ist auf ihren Wachstumswunderkurs zurückgekehrt, löst Deutschland als Exportweltmeister ab, empfiehlt sich als größter Automobilmarkt (klar vor den USA) und holt dazu aus, Japan als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt zu verdrängen.
Mehr hofiert denn je
Alles schaut gebannt nach Fernost und fragt: Wie schaffen das die Chinesen? Gibt es ein „Modell China“, das eine Alternative zum westlichen Weg der Modernisierung und des Wachstums wird – oder schon ist? „Es ist egal, ob der Kater schwarz oder weiß ist. Solange er Mäuse fängt, ist er ein guter Kater.“ Dieser Ausspruch von Deng Xiaoping, des Inspirators der postmaoistischen Reformpolitik der frühen achtziger Jahre, sorgte für die pragmatische Rechtfertigung eines „Großen Wurfs“, dessen Resultate der amerikanische Ökonom Jeffrey Sachs eine „welthistorisch einzigartige Erfolgsgeschichte“ nennt. Westliche Wissenschaftler destillierten aus dem Mut der Chinesen zum Experiment, ihrem Willen zur Effizienz und ihrer ideologischen Unbekümmertheit das „China-Modell“, von dem freilich außerhalb des Reiches der Mitte mehr geredet wird als in Peking selbst.
Diese Modell hat sich bewährt, als die Zentralregierung unter dem Eindruck der ausbrechenden Weltfinanzkrise Ende 2008 sofort ein gigantisches 460-Milliarden-Euro-Konjunkturpaket auf den Weg brachte. Zu Recht wird China nun als Retter der Weltökonomie gefeiert. Ohne Chinas Ressourcen hätte die globale Ökonomie mehr Schaden genommen als geschehen, ohne 800 Milliarden Dollar chinesische Staatsanleihen könnte die US-Regierung ihrer Wirtschaft kein einziges Konjunkturprogramm anbieten.
Andererseits macht die Rigidität mancher Entscheidung dem Westen immer wieder Angst. Trotz internationaler Proteste wurde der Dissident und Publizist Liu Xiaobo wegen „Aufwiegelung zum Umsturz der Staatsmacht“ zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Auch blieben Appelle ungehört, den mit vier Kilogramm Heroin gefassten britischen Staatsbürger Akmal Shaikh nicht hinzurichten. Doch was zählt, das ist ökonomische Reputation – auf internationalem Parkett wird Peking wegen seiner hohen Devisenreserven und seines riesigen Binnenmarktes mehr hofiert denn je. Der weltgrößte Suchmaschinenbetreiber Google kommt weder gegen seine lokale Konkurrenz noch gegen die chinesische Internetzensur an.
Leben im Schlangennest
Es wäre allerdings fatal, wollten sich westliche Industriestaaten vom unbestreitbaren Erfolg des „Modells China“ über Gebühr blenden lassen. Chinesische Ökonomen schauen unisono mit Skepsis in die Zukunft. „Welche Lokomotive der chinesischen Wirtschaftsentwicklung zieht denn noch?“, fragt der in Hongkong lehrende Ökonom Lang Xianping. Der zum Abbau der Exportabhängigkeit anvisierte Schub des Binnenkonsums bleibt vorerst aus. Der Exportboom kann keinen Ewigkeitswert beanspruchen, allein die politischen Widerstände in den USA sind nicht zu unterschätzen – bereits jetzt gibt es Überkapazitäten. Helfen könne nach Auffassung von Lang Xianping allein der Ausbau der Infrastruktur, doch auch das nur temporär. „Kein Land auf der Welt wird zu einer Wirtschaftsgroßmacht, wenn es sich ausschließlich auf nachhaltige Investitionen für die Infrastruktur stützt“, so Lang.
Es scheint brisant, dass von den jüngsten, eher systemischen Krisenerscheinungen erstmals auch die urbane Mittelschicht – bisher Gewinner der Wirtschaftspolitik und loyaler Partner der Regierung – betroffen ist. Ein Großteil der Mittel aus dem staatlichen Konjunkturprogramm ist als spekulatives Kapital in den Immobiliensektor geflossen. Allein für Peking legten die Immobilienpreise in den ersten sechs Monaten des Jahres 2009 um 30 Prozent zu. Im Internet entbrannte daraufhin eine hitzige Debatte über horrende Mieten und Wohnungskosten. In mehreren Großstädten an der Ostküste zogen junge Männer mit Zelten und „Willst du mich auch ohne Wohnung heiraten“-T-Shirts durch die Gegend, um gegen diesen Trend der Maßlosigkeit zu protestieren. Ohne eigene vier Wände kann ein junger urbaner Chinese heutzutage kaum eine Ehe schließen, was der kürzlich offiziell bekannt gegebene Männerüberschuss sowieso schon erschwert. Nutzer des World Wide Web kürten denn auch den Begriff Schlangennest – gebräuchliche Metapher für winzige und überteuerte Wohnungen – und den Ausdruck arm in zweiter Generation zu den Worten des Jahres 2009. Junge Studenten, die mit Arbeitslosigkeit nach dem Examen kämpfen, hatten auch Volk der Ameisen vorgeschlagen, bezogen auf Disziplin und Fleiß, die sich nicht mehr auszahlen.
Li Datong, Ex-Herausgeber der parteinahen Zeitung China Youth Daily, hält das „China-Modell“ für eine Illusion. Dessen so genannte Vorteile beruhten auf niedrigen Standards in puncto Menschenrechte und soziale Sicherung. Das Vermögen der chinesischen Führung Probleme zu lösen, basiere nach seinem Eindruck weniger auf administrativer Fähigkeit denn einer Durchsetzungskraft, wie sie aus der Macht eines ergiebigen Staatshaushalts nun einmal erwachse. „Die Führung präsentiert sich alles andere als selbstbewusst“, so Li. „Sie weiß längst, dass ihr viele Entwicklungen außer Kontrolle zu geraten drohen.“
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