„Demokratie ist Arbeit“

Interview Dr. Robert Grimm erforscht populistische Einstellungen in Deutschland und weltweit

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„Demokratie ist Arbeit“

Foto: John Macdougall/AFP/Getty Images

69 Prozent der Deutschen denken, dass das Wirtschaftssystem zugunsten der Reichen und Mächtigen manipuliert wird. 60 Prozent der Weltbevölkerung findet, dass Arbeitgeber in schwierigen Zeiten Einheimische gegenüber Zugewanderten bevorzugen sollten. Das sind Ergebnisse einer neuen Ipsos-Studie zu populistischen und nationalistischen Einstellungen. Das französische Marktforschungsinstitut hat dafür über 18.000 Menschen in 27 Ländern der Welt befragt. Dr. Robert Grimm, ist Leiter der Politik- und Sozialforschung bei Ipsos Deutschland in Berlin und hat die Studie betreut.

Herr Grimm, wie steht es um Deutschland in Sachen Populismus?

Im Vergleich zu den Umfragen in anderen Ländern sind die Ergebnisse gar nicht so negativ. Dennoch gibt es ein paar bemerkenswerte Punkte: 63 Prozent der Deutschen stimmen der Aussage zu, die Gesellschaft sei „kaputt“, also geteilt oder fragmentiert. Wir liegen damit neun Prozentpunkte über dem globalen Durchschnitt. Das hat mich überrascht, weil Deutschland ja ein Land ist, in dem es viel Wohlstand gibt. Gleichzeitig ist die Teilungsdiskussion in Deutschland sehr präsent. 30 Jahre nach dem Mauerfall brennen Themen wie Unterschiede zwischen Ost und West, das berühmte „Abgehängt-Sein“ aber auch soziale Ungleichheit in der Gesellschaft den Menschen noch unter den Fingernägeln.

Die Studie zeigt auch, dass es in der deutschen Gesellschaft eine Ambivalenz gibt, was populistische Tendenzen und ihre realen, negativen Konsequenzen angeht: 78 Prozent sehen keine Lösung in einem starken Führer, das ist weltweit die niedrigste Zustimmung. Da hilft uns die historische Erfahrung mit Totalitarismus. So weit, dass wir uns einen Boris Johnson oder Donald Trump wünschen, sind wir also noch nicht.

Noch nicht?

Ja. Ob wir dort irgendwann wieder hinkommen, ist die Frage – ich hoffe es nicht. Beunruhigend ist der Blick auf die Entwicklung seit 2016: Deutschland ist eines der Länder, in dem sich der Populismus heute stärker manifestiert als vor drei Jahren. Und das, obwohl zum Beispiel die Flüchtlingskrise heute nicht mehr so stark präsent ist.

Es gib also diesen Widerspruch: Eigentlich geht es uns gut, alle Politiker und Wirtschaftsexperten sagen, es gehe uns gut, aber irgendwo fühlen wir uns abgehängt, unbeteiligt oder auch dieser globalisierten Welt ausgeliefert, die wir nicht verstehen.

Das berühmte Problem mit der gefühlten Wahrheit also?

Es ist zumindest Nörgeln auf hohem Niveau. Ich will nicht abstreiten, dass manch einer das Gefühl hat, gerade im unteren und mittleren Lohnniveau, dass wir uns in der Gesellschaft mehr und mehr in einem Wettbewerb befinden.

Andererseits haben wir auch Studien in strukturschwachen Regionen durchgeführt, und den Leuten ging es eigentlich den Aussagen nach sehr gut. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass wir in einer negativen „Newsbubble“ leben. Wir werden überflutet und sind empfänglicher für negative Nachrichten, und das prägt dann unsere Wahrnehmung.

Was müssten demokratische Politiker tun, damit sich der Rechtspopulismus in Deutschland nicht noch weiter ausbreiten kann?

Eines der großen Probleme, das ich in den letzten Jahren in Deutschland beobachtet habe, ist, dass die Basis der Koalitionsfindung nicht mehr am Regieren und am Identifizieren und Lösen von Problemen orientiert ist, sondern am permanenten Ausschluss der Opposition – nach dem Motto „Hauptsache nicht die AfD“. Das ist leider keine Antwort auf die Symptome des Populismus.

Die traditionellen Parteien sollten sich darüber Gedanken machen, wie sie wieder inhaltliche Politik betreiben können. In Deutschland wollen die Leute zwar keinen Führer, aber sie wollen einen Staat. Und von diesem erwarten sie, dass er Antworten liefert auf bestimmte Lebensängste – zum Beispiel in Punkten wie Digitalisierung, Investitionen in Infrastruktur, Renten, Sozialversicherung, Schulsystem. Es ist ja nicht so, dass es in unserem Land keine Baustellen gibt. Aber ich glaube, es gibt wenig konkrete Antworten.

Also den Populismus nicht mit Populismus bekämpfen, sondern mit Sachlichkeit?

Genau. Man wird keine Lösung für das populistische Problem finden, wenn man keine Antworten auf die Fragen der Bürger entwickelt.

64 Prozent der weltweit Befragten sehnen sich nach einem starken Führer. Hat Demokratie als Gesellschaftssystem überhaupt eine Chance? Wollen viele Menschen sie am Ende vielleicht gar nicht?

Das ist eine sehr schwere Frage. Demokratie ist kein einfaches System. Es gibt einem ja keiner klare Antworten vor, man hat grundsätzlich die Qual der Wahl. So gesehen ist es echt schwer, in einer Demokratie zu leben. Man muss sich informieren – Demokratie ist Arbeit, und zwar nicht nur für die Politiker, sondern permanent für jeden, der in ihr lebt.

Ich denke, wir sind in Deutschland gerade in einer Zwischenphase, in der man versucht, sich neu zu finden. Es gibt noch keinen neuen Konsens, keinen neuen Gesellschaftsvertrag, so wie es ihn mal nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat oder vielleicht auch nach 1989.

Wir sind auf der Suche nach einem Konzept, wie sich dieses Land in Zukunft entwickeln soll. Das kann man vielleicht auch positiv sehen und sagen: Ok, viele Leute haben sich vorher nicht getraut, was zu sagen. Die AfD hat viele Leute mobilisiert, die vorher nicht gewählt haben. Die sind jetzt alle hineingezogen worden in diesen politischen Prozess. Vielleicht ergibt sich daraus, dass mehr Leute an politischen Prozessen teilhaben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Kristina Auer

Kristina Auer ist freie Journalistin in Berlin und schreibt meistens über Lokales. Für die Meko Factory berichtet sie über Veranstaltungen.

Kristina Auer

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