Mit Digitalisierung zu mehr analogem Genuss

Gastronomie Digitale Ideen für das Gastronomiegewerbe und ein Projekt für Zusammenarbeit in Kunst und Technik beim Netzwerktreffen young+restless in Berlin

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Roboter-Kellner im Restaurant, komplizierte Automaten oder kochende Maschinen: Digitalisierung der Arbeitswelt, das klingt für skeptische Ohren oft nach Entmenschlichung und Technik-Diktatur. Mehr analogen Genuss durch digitale Ansätze versprechen stattdessen die Unternehmen, die ihre Ideen beim Netzwerktreffen young+restless am 4. Juli im Telefónica-Basecamp vorgestellt haben. Kunst, Technik und Essen sollen so verbunden werden, dass das Leben für Menschen noch einfacher und schöner wird.

EU-Initiative für künstlerisches Denken in der Technik-Entwicklung

Den Anfang des Abends macht die Kunst: Thomas Bendig, Forschungskoordinator vom Fraunhofer-Verband Informations- und Kommunikationstechnologie, stellt das EU-Projekt STARTS vor – der Name steht für „Science, Technology and Arts“. STARTS bringt Künstlerinnen und Künstler mit Technologie-Betrieben zusammen, indem sie dort über mehrere Monate an der Produktentwicklung mitarbeiten und eigene Kunstwerke umsetzen.

Das Team hinter STARTS hat es als Problem erkannt, dass neue Technologien meist ausschließlich von Ingenieurinnen und Ingenieuren und Technikerinnen und Technikern entwickelt werden. „Sie denken alle auf die gleiche, zielorientierte Art und Weise“, sagt Bendig. Die Folge: Anstatt wirklich neue Visionen zu entwickeln, werde an der Perfektion alter Ideen getüftelt. Bendig zeigt, dass viele Erfindungen wie Kopfhörer, platzsparende Parkhäuser oder sogar das 3D-Fernsehen viel älter sind als gedacht und oft bereits früherer Generationen entstammen.

Um also wirklich innovativ zu werden, will das STARTS-Projekt mehr Vielfalt in die Entwicklungsteams bringen – mithilfe von Künstlerinnen und Künstlern. „Sie denken nicht nur über die Funktion eines Gegenstands nach, sondern weiten den Raum der Möglichkeiten und bedenken auch Aspekte von Design, Ergonomie, Ethik oder Nachhaltigkeit“, sagt Bendig. Kreatives Potential und technisches Know-How könnten so verbunden werden. Als Beispiel dient eine zu großen Teilen kompostierbare Drohne aus abbaubaren Materialien, die ein Künstler im STARTS-Projekt entwickelt hat.

Gastronomie-Software: Arbeitskräfte einsparen, kleine Unternehmen retten

Patrick Brienen hat gewissermaßen ein umgekehrtes Anliegen: Er möchte einen auf Sinneserfahrungen ausgelegten Wirtschaftszweig – die Gastronomie – funktionaler machen. Mit orderbird hat er ein iPad-Kassensystem erdacht, das auch für kleine Betriebe erschwinglich ist. „Wir wollen Gastronomen mithilfe von Technologie erfolgreicher machen“, sagt Brienen.

Der Ausganspunkt: 40 bis 50 Prozent der Gastronomie in Deutschland ist laut Brienen noch überhaupt nicht digitalisiert. Oderbird wolle mittelständischen Gastronomiebetrieben helfen, sich neben großen Ketten behaupten zu können. Chancen für digitale Lösungen in der Gastronomie sieht Brienen nicht nur in klassischen Bereichen wie der einfacheren Abwicklung der Buchhaltung oder Online-Reservierungen. Technologie könne auch dabei helfen, die verkaufte Ware besser zu erfassen und dadurch die Bestellung und Lieferung neuer Lebensmittel effizienter machen.

Nicht abstreiten lässt sich der Abbau von Personal in der Gastronomie durch die zunehmende Digitalisierung, oder „das Schonen der Ressource Mensch“, wie es Brienen ausdrückt. Beispielsweise durch piepende Sender, die – in Biergärten inzwischen häufig eingesetzt – zum Abholen von fertigen Gerichten auffordern, werden Kellner oder Kellnerinnen ersetzt. „Wir verstehen uns aber eigentlich so, dass wir Arbeitsplätze erhalten, statt sie zu zerstören“, betont Brienen. Wenn mittelständische Betriebe mithilfe der Technologie erfolgreicher werden und dadurch überleben könnten, sichere das auch viele Stellen.

Und dann ist da noch das altbekannte Mantra: „Daten sind das neue Gold, gilt auch in der Gastronomie“, sagt Brienen. Zu verstehen, wie Gäste Restaurants auswählen, worüber sie reservieren oder wie oft sie ein bestimmtes Gericht bestellen, seien für Unternehmerinnen und Unternehmer wertvolle Informationen. Aus Sicht von Kundinnen und Kunden klingt das erstmal nicht besonders erstrebenswert und eher nach Big Brother als nach schöner, neuer Welt. „Derzeit wissen Gastronomen so gut wie nichts über ihre Gäste“, sagt Brienen. Wahr ist: Mit Daten über Gäste wird sich in Zukunft mit Sicherheit Geld verdienen lassen. Digitalisierung der Gastronomie könnte aber auch weniger gruselige Folgen haben: „Stellen Sie sich vor, Sie könnten nachvollziehen, ob der Preis für einen Kaffee in ihrem Restaurant gemessen an den umliegenden Lokalen angemessen, eher teuer oder eher billig ist“, erläutert Brienen.

Digitale Küche: mehr Zeit für analogen Genuss

Weniger auf Organisation und mehr auf den Genuss beim Essen hat sich die Data Kitchen spezialisiert. Das digitale Restaurant in der Rosenthaler Straße will ein allgegenwärtiges Problem von young professionals lösen: Zeitdruck. Nur noch 23 Minuten dauere die durchschnittliche Mittagspause in Berlin-Mitte, berichtet Betriebsmanager Christian Hamerle. Das ist zwar gerade genug Zeit, um fettiges Junkfood in sich hineinzustopfen. Ein hochwertiges, gekochtes Mittagessen wird aber zum Ding der Unmöglichkeit. Hier setzt die digitale Küche an: Die hungrigen Angestellten bestellen über das Internet ihr Mittagessen zu einem bestimmten Zeitpunkt vor. Die Köchinnen und Köche fangen 15 Minuten vorher in der Data Kitchen mit der Zubereitung an, sodass das fertige Mittagessen pünktlich auf dem Tisch steht.

Wer online vorbestellt, speist auch mit gezücktem Smartphone, oder? Nur schwer vorstellbar, doch laut Hamerle ist das in der Digital Kitchen gerade nicht der Fall: „Wir beobachten, dass die meisten während des Essens ihre Handys weglegen und sich auf den analogen Genuss konzentrieren.“

Die digitale Küche begeistert laut Hamerle nicht nur junge Angestellte im Mittagspausen-Stress. „Zeit sparen finde ich gut, ich habe ja nicht mehr viel“, habe eine 85-jährige Kundin einmal zu ihm gesagt.

Digitaler Bauernmarkt: Durch Nachhaltigkeit zum guten Gewissen

Unter dem Leitspruch „Bauer to the people!“ tritt die App marktschwärmer seit vier Jahren an, um die Welt des Lebensgewerbes zu retten. Wie Sprecher Volker Zepperitz erklärt, hat marktschwärmer Verbraucherinnen und Verbraucher nach ihren Wünschen in Sachen Lebensmitteleinkauf befragt. Das Ergebnis: Viele Menschen würden Essen gern saisonal, regional, zu fairen Preisen und mit hoher Qualität einkaufen und dabei möglichst Verpackungen reduzieren. Weil diese Wünsche in krassem Gegensatz zur allgegenwärtigen Supermarkt-Realität stehen, hat marktschwärmer den digitalen Bauernmarkt als Lösungsansatz erdacht. „In vielen Städten gibt es keine echten Bauernmärkte mehr“, sagt Zepperitz, „sondern nur noch Repliken mit Großmarkt-Ware verkaufenden Ständen, deren Verkäuferinnen und Verkäufer genauso wenig über die Produkte wissen, wie Kundinnen und Kunden“.

Marktschwärmer funktioniert aus Sicht der Kundinnen und Kunden wie ein konventioneller Online-Shop, in dem Lebensmittel aus der Region gekauft werden können. Den Unterschied macht die Warenübergabe: Einmal pro Woche wird ein zweistündiger Bauernmarkt organisiert. Dort können die Waren übergeben und Verbraucherinnen und Verbraucher mit Produzentinnen und Produzenten ins Gespräch kommen. Kontakt und Vertrauen sind laut Zepperitz wichtige Aspekte für das Konzept des digitalen Bauernmarkts. 50 dieser Märkte gibt es bisher in Deutschland, berichtet Zepperitz. Marktschwärmer berechnet eine Gebühr von zehn Prozent des Kaufpreises, weitere rund acht Prozent gehen an die Organisatorinnen und Organisatoren der jeweiligen Märkte. Der Bauer oder die Bäuerin erhält so fast 82 Prozent des Verkaufspreises – weitaus mehr als in der traditionellen Nahrungsmittelindustrie. „Bis jetzt ist das nur ein kleiner Teil der Branche, wir stehen noch ganz am Anfang“, sagt Zepperitz.

Digitalisierung macht Angst und Hoffnung zugleich

Der Abend zeigt recht eindrücklich die Bandbreite von vielversprechenden bis hin zu furchteinflößenden Folgen der Digitalisierung von Arbeitsprozessen in der Lebensmittelbranche: mehr Zeit für Genuss, Stärkung kleiner Unternehmen – ja! Aber immer mehr Einsparung von menschlichem Service-Personal? Regionalität, Qualität und einfachere Erfassung und Nachbestellung verbrauchter Waren – ja! Aber Überwachung beim Restaurantbesuch?

Die Gäste auf dem Podium sind sich jedenfalls einig: Wenn richtig angewandt, steht Digitalisierung nicht in Kontrast zum Genuss, sondern begünstigt ihn. „Sie kann uns wieder näher zur Natur bringen und den Fokus auf das analoge Genießen richten“, meint Christian Hamerle von Data Kitchen. Hier liege eine große Chance. Generell wünsche er sich, dass nicht Angst, sondern Neugierde die treibende Kraft in der Gesellschaft werde.

Hätte Volker Zepperitz von marktschwärmer einen Wunsch frei, es wären zwei: „Dass die Politik sowohl im Verbraucherschutz als auch in der Landwirtschaft längst versprochene Richtlinien umsetzt, anstatt Lippenbekenntnisse abzugeben.“ Und Patrick Brienen von orderbird wünscht sich vom Staat eine klarere Umsetzung, was Steuerangelegenheiten in der Gastronomie angeht: „Nur wenn sich alle an die Regeln halten, gibt es auch faire Chancen für jeden und jede“.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Kristina Auer

Kristina Auer ist freie Journalistin in Berlin und schreibt meistens über Lokales. Für die Meko Factory berichtet sie über Veranstaltungen.

Kristina Auer

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