Wie Claas Relotius die Reportage entzauberte

Medienbranche Welche Auswirkungen der Fall Relotius auf die Glaubwürdigkeit des Journalismus’ hat, diskutiert ein prominentes Podium in einem brechend vollen Mediensalon

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Als er im Dezember 2018 vom Fall Relotius erfahren habe, sagt Peter Freitag von der Journalistengewerkschaft dju, sei sein erster Gedanke gewesen: „Na und? Es gibt betrügerische Automobilhersteller, betrügerische Geflügelzüchter, Taxifahrer – und eben auch Journalisten“. Schnell sei ihm jedoch klar geworden, dass der Skandal um die gefälschten und teils frei erfundenen Geschichten des Spiegel-Journalisten das Glaubwürdigkeitsproblem des Journalismus noch einmal verschärfen würde.

Fragiles Vertrauen

Nach Freitag betreten am 6. Februar acht Menschen das langgestreckte Podium in der neuen taz-Kantine. Größen wie die Chefredakteurin der „Frankfurter Rundschau“ Bascha Mika, die langjährige Chefredakteurin der „Berliner Zeitung“ Brigitte Fehrle, der Autor Hajo Schumacher und Holger Stark aus der Chefredaktion der „Zeit“ geben sich im Mediensalon die Ehre. „Wir sind davon ausgegangen, dass die Hälfte der eingeladenen Gäste absagen wird – das war nicht der Fall“, sagt Moderatorin Tina Groll.

Dem Podium gegenüber haben sich über 200 Zuhörende in den Saal gepresst. Thema des Abends: Der Fall Relotius und die Folgen für die Glaubwürdigkeit des Journalismus’. Allein der Andrang zeigt, welche Erschütterung die gefälschten Reportagen von Claas Relotius in der Medienlandschaft ausgelöst haben.

Das Glaubwürdigkeitsproblem betrifft nicht allein das Magazin Spiegel, sondern die gesamte Medienlandschaft, sind sich die Journalistinnen und Journalisten auf dem Podium einig. Noch dazu fällt es in eine Zeit, in der das Vertrauen in wahrheitsgemäße Berichterstattung höchst fragil ist, Medienschaffende sich mit Lügenpresse-Vorwürfen konfrontiert sehen. „Das hat uns gerade noch gefehlt, bei all den Abwehrkämpfen und Debatten, die wir um demokratisches Selbstverständnis führen müssen“, fasst Mika zusammen.

Die „Überparfümierung“ der Reportage

Hajo Schumacher sieht das anders: „Wir können Relotius sehr dankbar sein, dass wir jetzt alle zusammen Dinge in Frage stellen, die wir in den letzten Jahrzehnten haben hochleben lassen – teils zu Unrecht.“ Der Betrugsfall habe ein höchst fragwürdig zelebriertes Genre entzaubert. Gemeint ist die Entwicklung der journalistischen Reportage zur Königsdisziplin in der deutschen Medienlandschaft. Für Schumacher hat sie zu einem strukturellen Problem im gesamten Journalismus geführt. Die Kolleginnen und Kollegen auf dem Podium stimmen zu: Durch die Glorifizierung der Reportage wird die schöne Erzählung über die handwerklich saubere Recherche gestellt. Stark spricht von einer „Überparfümierung des Genres“, Mika berichtet von Praktikantinnen mit Begeisterung fürs Geschichtenerzählen anstatt für die Quellenarbeit und fügt hinzu: „In den Journalistenschulen wird Dramaturgie gelehrt.“ In solch einem Klima falle es dann auch weniger auf, wenn jemand betrügt.

Vom Druck, die "Wahrheit hübscher zu machen"

Wirkt sich diese falsche Priorisierung auf die Arbeitsweise von Journalistinnen und Journalisten aus? Viel ist an diesem Abend die Rede vom „Druck, etwas zu liefern, was gewollt ist“, wie Karsten Kammholz, Mitglied der Chefredaktion der Funke-Mediengruppe, es ausdrückt. Auch Schumacher bestätigt die hohe Nachfrage nach spektakulären Geschichten. In der Jury von Journalistenpreisen habe er schon mehrmals das Gefühl gehabt, da könnte „die Wahrheit ein bisschen hübscher“ gemacht worden sein.

Katharina Dodel vom Lokaljournalismus-Magazin „Drehscheibe“ entgegnet: „Reden wir vom Druck, Journalistenpreise zu gewinnen oder davon, am nächsten Tag drei Seiten zu füllen, fünf Geschichten zu redigieren und zwei Artikel noch selbst zu schreiben?“ Das sei in etwa das gängige Arbeitspensum einer Lokaljournalistin. Relotius habe diesen Druck als Star-Reporter beim Spiegel nicht gekannt.

Allerdings stehe das hohe Arbeitspensum einer gründlichen Überprüfung von Texten im Weg, meint Mika: „Oft kommt um 16 Uhr ein Text an, der um 17 Uhr gedruckt wird.“ Da sei es schwer, noch Fakten zu checken. Trotzdem steht die Frage im Raum, ob es bei berühmten Betrugsfällen im Journalismus neben dem Druck nicht auch um Ehrgeiz geht. Mika merkt lakonisch an: „Es sind ja meistens Männer...“

Die drängende Frage nach der Finanzierbarkeit

Neben der Rückkehr zu journalistischen Werten wie Substanz, Gründlichkeit und Analyse nimmt ein Thema in der Diskussion großen Raum ein: Die Frage nach der Finanzierbarkeit von Journalismus. Wenn Redakteure mehr Zeit für die Recherche hätten, gäbe es automatisch weniger Fehler, meint Dodel. Schumacher vertritt die These, dass Qualitätsjournalismus nicht mit einer marktwirtschaftlichen Logik zusammen passt. Es brauche eine öffentliche Finanzierung der vierten Gewalt. „Medien sind Teil des Sozialen und nicht der Marktwirtschaft“, sagt Schumacher. Aber auch die Leserinnen und Leser seien in der Pflicht: „Qualitätsjournalismus braucht eben auch Qualitätsleser, die bereit sind, dafür monatlich Geld abzudrücken – nicht nur für Netflix und Spotify.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Kristina Auer

Kristina Auer ist freie Journalistin in Berlin und schreibt meistens über Lokales. Für die Meko Factory berichtet sie über Veranstaltungen.

Kristina Auer

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