Götter - Kleber der missratenen Zivilisation

Religiosität: Der Götter-Trick hat schon den Anführern der ersten Hochkulturen geholfen, das Fuß-Volk gefügig zu machen und „die Welt“ umzukrempeln – mit fatalen Folgen.

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So langsam dämmert es uns, das Zivilisationsmodell der letzten 6.000 Jahre hat deutliche Schieflagen und hat keine Zukunft. Als die Menschen das „Paradies der Nomaden“ verließen, sind sie falsch abgebogen. Was lief falsch?

Der Evolutionsbiologen und Pulitzer-Preisträger Jared Diamond nannte das Sesshaftwerden vor rund 10.000 Jahren den größten Fehler in der langen Geschichte der Menschheit. Es sieht wie eine Erfolgsgeschichte aus, was ab diesem Zeitpunkt passierte. Aber der Weg mündete in eine Sackgasse.

Was geschah vor dem Sesshaftwerden?

Der Mensch als Jäger und Sammler lebte über 200.000 Jahre im Einklang mit der Natur. D.h. diese Menschen lebten unter dem Diktat der Natur. Sie zogen umher und suchten Nischen, die ihnen das Überleben mit Jagen von Tieren und Sammeln von Früchten sicherten. Ein Evolution-getriebenes Lebensmodell für nur wenige Millionen Menschen weltweit - bis zur Sesshaftwerdung.

Die Jäger und Sammler organisierten sich in kleinen Gruppen (Horden); es gab weder nennenswerten Besitz noch ausgeprägte Hierarchien. Der Zusammenhalt der Horde war Voraussetzung für die erfolgreiche Nahrungsbeschaffung; die Beute wurde geteilt, Vorratshaltung über längere Zeit war nicht möglich. Behausungen waren provisorisch und auf kurze Zeit angelegt. Sie folgten als Nomaden dem Nahrungsangebot.

Wie die Mitglieder der Hordengesellschaft miteinander auskamen, beschreiben die Anthropologen so: 30 bis 100 Menschen, bestehend aus mehreren Großfamilien, verteilten die wenigen Aufgaben in der Gruppe – jeder musste mithelfen: Nahrungsbeschaffung, Kümmern um Kinder und Alte, Verteidigung gegen feindliche Horden. Diese Lebensform finden wir beispielsweise noch bei den „Buschleuten“ im südlichen Afrika.

Nur eine funktionierende Horde konnte überleben. Die Gemeinschaft setzte die Regeln und der Gruppendruck dominierte. Dieser Druck unterdrückte das Ausleben von Egoismen bis zum Ausmerzen, wie der Anthropologe Christopher Boehm von der University of Southern California aufzeigen konnte.

Das Leben der Jäger und Sammler ist gebunden an ihre Umwelt. Sie waren Naturereignissen und Naturkatastrophen schutzlos ausgesetzt, aber durchschauten die Ursachen nicht. Sie vermuteten dahinter geheimnisvolle Kräfte und machten Geister dafür verantwortlich, die sie mit Opfern versöhnen wollten. Ebenso blieben der Tod und das Danach ein Mysterium. Entsprechende Opferritual und Bestattungsriten sowie Ahnenkulte sind bekannt.

Das Unbegreifliche von Naturphänomenen und Tod entfaltete den Glauben an übernatürliche Kräfte, an Geister. Zur Besänftigung sind kultische Riten entstanden. Geister-Glaube und kultisch-religiöse Riten haben sich über Jahrzehntausende als Gedankengut und Tradition in den Menschen verfestigt.

Der Umbruch in die „missratene Zivilisation“

Den großen Umbruch mit umfangreichen Folgewirkungen verursachte die Neolithische Revolution. Vor rund 10.000 Jahren begannen Menschen im fruchtbaren Halbmond, Wildgetreide zu domestizieren, Wildtiere zu zähmen und zu züchten und sich in Dörfern niederzulassen.

Diese neue Lebensform fand immer mehr Nachahmer und verbreitete sich in alle Himmelsrichtungen. Was änderte sich?

  • Bindung an das bewirtschaftete Land und Inbesitznahme
  • Einstieg in Bautätigkeit für Behausung und Vorratshaltung
  • Mauern für die Dörfer als Schutz gegen Diebe und Überfälle
  • Erfindung neuer Werkzeuge und Spezialisierung
  • Wachsen der Gemeinschaften durch höhere Geburtenraten

In den größer werdenden Gesellschaften bildeten sich spezialisierte Berufsgruppen wie Handwerker, Verwalter und Krieger. Die Organisation wurde komplizierter und konnte nicht mehr gemeinschaftlich abgestimmt werden.

Die erfolgreichsten Gemeinschaften bildeten vor 6.000 Jahren in Mesopotamien die ersten Stadtstaaten. Mit Bewässerungsanlagen wurden die notwendigen Erträge für die großen Gemeinschaften erwirtschaftet. Sie bauten Städte mit Tempeln im Zentrum und Mauern zum Schutz um ihre Städte.

In Gemeinschaften mit deutlich mehr als 1.000 Menschen mussten Probleme gelöst werden, für die es keine Lösungs-Erfahrungen gab: Wem gehören das bewirtschaftete Land und die erwirtschafteten Vorräte, wem die Gebäude? Wer übernimmt welche Aufgaben, wer verwaltet die Vorräte, wie werden bevorratete Nahrungsmittel verteilt? Wer hat die Leitung bei größeren Bauvorhaben, wie wird die Arbeiten „entlohnt“, wer kümmert sich um Kranke, …? Diese Fragen klingen wie Probleme in unserer Zeit.

Was war die Lösung? Es entstanden Hierarchien mit einer Oberschicht, die das Zusammenleben über neue Regeln zu steuern versuchten. In den Stadtstaaten etablierten sich Priesterfürsten an der Spitze, die ihre Gemeinschaft lenkten. Wir bezeichnen diese Stadtstaaten als die ersten „Hochkulturen“. Die Sumerer, eine der ersten Hochkulturen, lebten das Modell und schrieben ihre Verhaltensregeln nieder.

Die Tempelwirtschaft als erste Antwort

Die Anführer der Stadtstaaten suchten nach einer Autorisierung für ihre Herrschaft. Dabei spielte der Tempel im Zentrum eine wichtige Rolle. Er diente als Heimstatt der Götter, der Herren über Leben und Tod. Die Priesterfürsten etablierten sich als Stellvertreter dieser Götter und gaben sich so die Autorität, der Gemeinschaft Regeln zu geben und Verteilungsfragen zu entscheiden. Der Lösungsansatz hieß Tempelwirtschaft. Mit einer zentralen Verwaltung verteilten die Fürsten Arbeit und Ertrag.

Die Gruppenentscheidung der Jägergesellschaft war nicht mehr möglich. Das Entscheidungsrecht in den „Hochkulturen“ nahm sich exklusiv eine zahlenmäßig kleine Oberschicht, an deren Spitze ein Anführer (Fürst, Pharao, König) stand. Die großen Gemeinschaften waren erstmals sozial geschichtet: oben der Adel, unten die Unfreien, die Leibeigenen, die Sklaven. Die Gleichberechtigung in der Gemeinschaft war verschwunden.

Für das Überdauern des Oben-unten-Modells waren zwei Grundelementen ausschlaggebend: der Gottesbezug und das Kriegswesen.

Der Götter-Kleister der Zivilisation

Oberschichten setzten bei ihrer Autorisierung wie schon die Priesterfürsten der ersten Stadtstaaten auf die transzendenten Traditionen der Jäger-Sammler-Gemeinschaften. Sie erfanden immer neue Götterwelten und gründeten Religionen. Fast alle Religionsgründer der Zivilisation entstammen der Oberschicht. Die von unten kommenden Jesus-Lehren wurden von Kaiser Konstantin instrumentalisiert, neu geordnet und zur Staatsreligion erklärt.

Die Strategie: Die Götter sind Herr über das Leben und bestrafen Regelverstöße. Riten und Opfer sollen die Götter gegenüber den Menschen gewogen halten. Die Anführer autorisieren sich als Stellvertreter der Götter und definieren „gottgegebene Regeln“ für die Gemeinschaft.

Das Götter-Modell hat sich bis heute gehalten. Zwar hat sich der Einfluss der Religionen in den westlichen Demokratien verringert, doch die Lehren der Welt-Religionen haben nach wie vor großen Einfluss. Die Scharia, die Gesamtheit aller religiösen und rechtlichen Normen des Islam, hat viele islamisch-geprägten Staaten fest im Griff. Politiker in Deutschland betonen gerne die „jüdisch-christliche Tradition“ als den grundlegenden Ordnungsgedanken der Gesellschaft.

Die „heiligen Schriften“ überzeugen weiterhin viele Gläubige, obwohl die „göttlichen Regeln“ bis zu Unkenntlichkeit interpretieren werden müssen, um in unsere Zeit zu passen, denn die „göttlichen Regeln“ waren immer Problemlöser der Entstehungszeit. Das Vertrauen in die „göttlichen Regeln“ hat sich tief in die DNA der Menschen eingegraben, die Regeln sind zur Tradition geworden. Die Götterwelten wurden so zum Kleber der Zivilisation - Zivilisation und Götterwelt verschmolzen zu einer Einheit.

Das Teilen von Macht ist Neuland für die Zivilisation. Vor 200 Jahren die erste Umkehr: Die Französische Revolution hatte dem französischen Adel die politische Herrschaft weggenommen. Danach entstanden Demokratien, die die Macht auf das Volk verteilten - "Politische Teilhabe" ist entstanden. Das Götter-Modell verliert dort seine Wirkung, wenn auch zögerlich.

Aber das Oben-unten-Modell der Zivilisation wurde damit nicht aufgehoben und lebt in den Demokratien weiter, wenn auch in einer anderen, wirtschaftlichen Form (dazu mehr zum Schluss).

Die Krieger der Zivilisation

Die Gewaltdominanz von Oberschichten führte schnell zur „Berufung der Adeligen“, dem Krieg führen: andere Gemeinschaften überfallen, plündern, unterwerfen und versklaven. Die Oberschicht fühlte sich immer als „Kriegsherr“ und unterhielt große Heere. Schon die sumerischen Könige und die ägyptischen Pharaonen lebten das Modell. Sie unterwarfen Nachbargemeinschaften und bildeten erste Großreiche.

Die Untertanen der Zivilisation – die große Mehrheit – ertrugen 6.000 Jahre die Diktatur der Monarchen; deren erklärtes Ziel immer die Eroberung und Unterdrückung war.

Absolute Herrscher (lange als Erbmonarchen, zuletzt als selbsternannte Autokraten) sahen immer ihre Aufgabe in der Expansion ihres Herrschaftsbereiches durch Überfallen und Unterwerfen anderer Völker. Bis heute wird das als große Leistung gerühmt, so wenn wir plündernde, zerstörende und mordende „Eroberer“ als Alexander den Großen oder Friedrich den Großen hervorheben.

Die Zivilisation verkennt: Ohne das Kriegstreiben von Autokraten und Monarchen wäre der Menschheit in den letzten 6.000 Jahren viel erspart geblieben. Wäre die Kriegsenergie in die Entwicklung der Gesellschaft geflossen, würde die Menschheit besser da stehen und hätte vielleicht das Teilen von Besitz gelernt und ein anderes Gesellschaftmodell entwickelt.

Die explosiven Folgen

Die „missratene Zivilisation“ hat das Kriegs-Wesen wie das Götter-Wesen verinnerlicht und schaffte es bisher nicht, beide „Un-Wesen“ in Frage zu stellen.

Kriege waren und sind Spielball der Götter-Stellvertreter, der „Adeligen“ und auch der Autokraten. Dem wurde und wird alles im Staat unterworfen. Immer neue, gefährlichere Waffen wurden und werden erfunden.

Dieser Erfindergeist wird oft als beispiellose Erfolgsgeschichte der Zivilisation gerühmt. Dabei wird übersehen, viele Erfindungen sind Beiwerk von Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung. Heute haben wir mit der Atombombe eine Waffe in der Hand, die unseren Lebensraum vernichten kann.

Daneben haben wir in den letzten 200 Jahren eine weitere Vernichtungsmaschine entwickelt, die ungehemmt wachsende, industrielle Wirtschaft.

Die Schieflage der zivilen Gesellschaften – wenige haben Privilegien, der Rest ordnet sich unter – findet sich wieder im Markt-Modell der Kaufleute. Die Prinzipien der Märkte schaffen Wohlstand und belohnen nur wenige Erfolgreiche (Geldadel). Mit Unterstützung der Politik treiben sie die Wirtschaft mit immer mehr Wachstum an. Und viele glauben an das Heil dieses Wachstums und merken nicht, wie die Ausbeutung von Umwelt und Rohstoffen unsere Lebensgrundlage vernichtet.

Wir müssen vom Götter-Denken der Zivilisation wegkommen und uns auf die alte Jägergesellschaft besinnen, die auf nachhaltigem Umgang mit unserer Erde und auf dem Teilen von Macht, Besitz und Aufgaben basierte.

Die Zivilisation 2.0 ist dringend nötig – mit dem „Glauben an das Teilen“.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kritikaster

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