Irrweg Zivilisation

Untertanen-Gesellschaft. Der Beginn der Zivilisation veränderte das Zusammenleben der Menschheit mit Erfindungen und neuen Gemeinschaftsstrukturen, bescherte aber ein Leben in der Unterdrückung. Heute mühen wir uns, da rauszukommen.

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Das Entstehen der Hochkulturen vor 5.000 Jahren veränderte das Zusammenleben der Menschheit gravierend. Angestoßen von Erfindungen entstanden neue Lebensformen und neue Gemeinschaftsstrukturen mit hoher Anziehungskraft. Doch leider bescherte dieser Beginn der Zivilisation der Mehrheit der Menschen ein Leben in Unterdrückung und Ausbeutung – für viele bis heute. Wie das? Und gibt es einen Ausweg?

Der Wechsel in die Bauern-Gemeinschaft

Vor etwa 10.000 Jahren begann die Neolithische Revolution im “fruchtbaren Halbmond” in Vorderasien – die ersten Jägergemeinschaften wurden sesshaft und betrieben Ackerbau. Dies krempelte die Lebensweise des Homo sapiens komplett um, der 200.000 Jahre als Nomade unterwegs war.

Die Jäger und Sammler lebten in Familien-Verbänden. Die Männer waren für die Jagd, die Frauen für das Sammeln und den Nachwuchs zuständig. Sie teilten die gejagte Beute und die gesammelten Früchte; es gab keine Vorräte. Waffen und Bekleidung waren der einzige Besitz. Alter, Erfahrung und Fähigkeit bestimmten den Rang in der Gemeinschaft.

Der Schritt in den Ackerbau führte nicht nur zu örtlicher Gebundenheit, sondern zu einem grundsätzlich anderen Lebensmodell. Die sesshafte Gemeinschaft erfand neue Werkzeuge und Geräte, erzielte Überschüsse und entwickelte die Vorratshaltung; später kam die Nutztierhaltung dazu. Schließlich entstanden familiäre Behausungen, die zu neuen Besitzverhältnissen und zur Dorfgemeinschaft führten. Während die Familien ihre speziellen handwerklichen Fähigkeiten vertieften, verloren die gemeinschaftlichen Aufgaben an Bedeutung.

Das Modell Bauern-Gemeinschaft war schließlich so erfolgreich, dass die Jäger-Sammler-Gemeinschaft nach 2 - 3 Tausend parallelen Jahren ausgedient hatte. In Europa setzte sich die Sesshaftigkeit vor 5 - 6 Tausend Jahren durch.

Die Etablierung der Untertanen-Gesellschaft

Vor 5.000 Jahren entstanden in Vorderasien aus den Bauern-Gemeinschaften die ersten Hochkulturen - eine neue Entwicklungsstufe der Sesshaften. Die Kennzeichen sind große Gemeinschaften in Städten mit einem Oberhaupt, hierarchischen Strukturen, starkem sozialen Gefälle und Zuteilung von Aufgaben auf soziale Schichten. Diese komplexe Lebensform wird als Zivilisation bezeichnet – eine Gesellschaftsform, die bis heute Bestand hat. Was war der Anstoß?

Gut organisierte, erfolgreich wirtschaftende Bauern-Gemeinschaften wuchsen und gewannen an Attraktivität. Dies führte zu Begehrlichkeiten bei den weniger erfolgreichen Nachbarn; die Habgier trieb sie zu Überfällen. Die Verteidigung des eigenen Besitzes wurde wichtig. Beides erforderte die Bewaffnung und führte zu feinseligen Auseinandersetzungen.

In der Folge bildete sich eine Krieger-Schicht, die die eigene Gemeinschaft verteidigte, aber auch dominierte. Aus der Dominanz der Krieger entwickelte sich eine asymmetrische Gesellschaftsstruktur, die Merkmal der Zivilisation bis heute geblieben ist:

  • Auf der einen Seite dominiert eine kleine Oberschicht, die weniger als 10 Prozent der Gesellschaft ausmacht und die Rollen Herrscher, Krieger, Verwalter und Priester besetzt. Die Rollen werden durch die Geburt in der Familie vererbt.
  • Auf der anderen Seite verbleibt eine große Unterschicht, die mehr als 90% Prozent der Gesellschaft ausmacht und der die Rollen Handwerker, Bauern und Sklaven zugeteilt sind. Die Rollen werden in der Familie weiter gegeben; ein Aufstieg in höhere Schichten ist kaum möglich.

Aus der Oberschicht bildeten sich Herrscher, die die Unterschicht zu Untertanen machte. Dieser Würgegriff gegen die große Mehrheit prägt die Zivilisation bis heute – ein langer Irrweg über 5.000 Jahr, der vor 3.000 Jahren auch in Europa Fuß fasste.

Die Herrscher-Prinzipien: Gewalt, Besitz und Götter

Zur Durchsetzung dieser asymmetrischen Untertanen-Gesellschaft bediente sich der Herrscher dreier Prinzipien: Gewalt-Herrschaft, Besitz-Monopol und Götter-Kult. In vielen Staaten werden diese Prinzipien heute noch angewendet.

Gewalt-Herrschaft:
Die Oberschicht der Waffenmänner festigte ihre dominante Stellung durch Gewalt. Damit wurde der oberste Rang in der Gemeinschaft gesichert. Gleichzeitig wurde versucht, die Machtposition territorial zu vergrößern bis hin zu Weltreichen; es war die Erfindung des Eroberungskrieges.
Die Hochkulturen haben über 5.000 Jahre lang die Welt mit Kriegen überzogen. Die Leidtragenden waren immer die Menschen der 90-Prozent-Unterschicht, egal ob sie auf der Sieger- oder Verliererseite standen.
Die Oberschicht opferte nicht nur Milliarden von Menschenleben in Kriegen, sondern zwang die Unterschichten zu schlecht oder nicht bezahlten Diensten. Es galt das Recht des Stärkeren. Die Unterschicht war rechtlos. Die Bezeichnungen Leibeigene und Sklave kennzeichnen deren Abhängigkeit am besten.

Besitz-Monopol:
Der Herrscher beanspruchte den Grundbesitz “seines Landes“. Seinen Gefolgsmännern in der Oberschicht teilte er Lehen (geborgten Besitz) zu und hielt sie so in der Abhängigkeit. Der Unterschicht wurde Grundbesitz verweigert. Bauern, denen für den Ackerbau Land zugeteilt wurde, mussten Abgaben an die Oberschicht entrichten. Damit wurde der Unterschicht jegliche Chance genommen, wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Die Oberschicht beutete die Unterschicht aus, lebte auf deren Kosten.

Götter-Kult:
In fast allen Hochkulturen hat der Herrscher über die behauptete Nähe zu Göttern seine Autorität und Legitimation abgeleitet. Die Zugehörigkeit zu einem Stand definierten die Herrscher als gottgewollt; wer oben oder unten in der Gesellschaftshierarchie verhaftet ist, bestimmt die Geburt.
Gleichzeitig diente der Götter-Kult zur Disziplinierung der Unterschichten. Regeln des Zusammenlebens wurden über „heilige Schriften“ (Bibel, Koran) vorgegeben. Auch Kriege wurden immer wieder mit dem religiösen Kampf gegen Andersgläubigen begründet.

Die Zivilisation steht für eine Fülle von Erfindungen, auf die wir gerne mit Stolz zurückblicken. Die asymmetrische Gesellschaftsstruktur wird dabei meist übergangen, in der wenige auf Kosten der Mehrheit eine Unterdrückungskultur erzwungen haben. Für die übergroße Mehrheit der Menschen war und ist die Zivilisation ein Irrweg, beginnend mit den ersten Hochkulturen in Mesopotamien vor 5.000 Jahren.

Der unvollendete Einstieg in die Bürger-Gesellschaft

Das Erstaunlichste an dem Irrweg der Zivilisation ist dessen Dauer, erst vor 700 Jahren ein Umbruch: Neue Gesellschaftsschichten gewannen in Europa an Bedeutung; es waren Handwerkerzünfte und Kaufleute, die in den Städten dem Adel Mitspracherechte abtrotzten. Über ihre Geschäftstätigkeit (Handel und Produktion) bauten sie eine neue Form von Besitz auf. Die Erfolgreichsten bildeten schließlich eine neue Oberschicht in den Städten. Das Los der Unterschicht war damit nicht beendet. In den Städten fand die Unterschicht neue Beschäftigungen, aber die Abhängigkeiten blieben und wechselten nur auf neue Herren – vom Leibeignen zum rechtlosen Arbeiter.

Erst vor 200 Jahren begann mit der französischen Revolution die Befreiung von der politischen Erb-Herrschaft der feudalen Oberschicht. Die Befreiung begann allmählich und ist noch längst nicht nachhaltig gelungen. Denn zeitgleich entwickelte sich ein neuer Mitspieler, der die Politik beeinflusst, für sich zu vereinnahmen versucht: Großkapital und Monopolisten.

Auslöser war die Industrielle Revolution mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen. Die selbstversorgende Agrargesellschaft wandelte sich in eine Industrie-Gesellschaft, die sich über Märkte versorgte und organisierte - die Markt-Gesellschaft. Rund um die neuen Industriezentren siedelt sich eine neue Arbeiterklasse an, deren Abhängigkeit vom Großgrundbesitzer zum Großindustriellen wechselte. Die Herrscher über das Kapital veränderten die Oberschicht. Aber sie agierten außerhalb der üblichen politischen Herrscher-Sphären und das bis heute.

Den größten Fortschritt der politischen Befreiung haben die modernen Demokratien (nach dem 2. Weltkrieg) gemacht – gerade mal wenige 60 - 70 Jahre. Die politische Teilhabe der Unterschicht wurde möglich, die wirtschaftliche Teilhabe blieb jedoch zurück.

Die modernen Demokratien definieren sich über Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Wahlrecht. Freiheit und Gleichheit stehen dort allen Bürgern zu. Der Aufstieg in eine höhere gesellschaftliche Schicht ist möglich. Doch die Teilhabe an der Wertschöpfung wird dem Markt überlassen.

Der Markt verteilt die Chancen auf die Marktteilnehmer nur bedingt nach Leistung und belohnt Marktmacht. Ausschlagebend für den Erfolg der Anbieterseite ist letztlich die Laune der Nachfrage, also der Zufall. Daher ist Markterfolg nicht planbar. Ausnahme bilden Monopole oder Marktsituationen, die dem nahe kommen.

Am Arbeitsmarkt ist nicht für alle Arbeitswilligen Platz. Hier ist das Verhältnis von Angebot (Arbeitsuchenden) und Nachfrage (Arbeitgebenden) schief; schwach auf der Seite der vielen einzelnen Arbeitsuchenden. Viele bleiben erfolglos, werden ausgegrenzt und so zu Bittstellern auf Almosen. Die soziale Marktwirtschaft lindert die Ausgrenzung, aber fördert nicht die wirtschaftliche Teilhabe.

Wie kann die Bürger-Gesellschaft vollendet werden?

Auch die wirtschaftliche Teilhabe kann für alle umgesetzt werden. Sie funktioniert dann, wenn der Zugang zu Arbeit und Kapital für alle möglich gemacht, politisch organisiert wird. Wie bei der politischen Teilhabe muss auch hier "das Teilen" sichergestellt werden.

Die Marktwirtschaft ist äußerst effizient für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, weil sie über den Wettbewerb anstachelt, unternehmerische Energie freisetzt, aber auch gnadenlos aussortiert. Die Aussortierten am Arbeitsmarkt trifft das besonders hart. Marktwirtschaft verfolgt per se keine sozialen Ziele, aber sie lässt sich sozial gestalten. Mit gezielten "Wegweisern" für den Arbeitsmarkt kann die wirtschaftliche Teilhabe umgesetzt werden. Wenn dafür die Prinzipien des Marktes genutzt und die Mengenrelationen von Angebot und Nachfrage beeinflusst werden. kann allen der Zugang zu Arbeit und Vermögensbildung geebnet werden.

So lässt sich die Bürger-Gesellschaft vollenden. Dann erst ist die Untertanen-Gesellschaft der Zivilisation endgültig abgeschafft und der Irrweg beendet. So findet der Homo sapiens zu den Prinzipien des Jägergesellschaft zurück: gemeinsam arbeiten und die Ergebnisse teilen. Und es wäre eine Win-Win-Situation für alle, wenn die Gesellschaften das Zerstören, Ausbeuten und Übervorteilen in Kooperationen verwandeln und statt in Zerstörungswerkzeuge in Aufbauhilfen investieren würden.

Die "Wirtschaftliche Teilhabe" sollte die Robin-Hood-Lösungen der sozialen Marktwirtschaft ablösen. Ein Lösungsansatz, der auf die Gestaltung von Marktmechanismen setzt, ist hier erläutert.

Die Lösungen der sozialen Marktwirtschaft sind das Gegenteil von wirtschaftlicher Teilhabe; sie verfestigen die Ausgrenzung. Damit bleibt die asymmetrische Gesellschaft bestehen: einerseits Abhängige vom Staat ohne Rolle in der Gesellschaft und andererseits Privilegierte des Wirtschaftssystems als Arbeitnehmer und Unternehmer.

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Geschrieben von

kritikaster

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