Zwischen Mittelfinger und Küssen

Bosnien-Herzegowina In Sarajevo hat die erste Pride Parade stattgefunden. Auch wenn sie nur mit massivem Sicherheitsaufgebot stattfinden konnte, war sie ein Erfolg
Ausgabe 38/2019
Der Andrang zur ersten Pride Parade in Sarajevo war riesig
Der Andrang zur ersten Pride Parade in Sarajevo war riesig

Foto: imago images/ZUMA Press

Schon nach zehn Minuten sind die Bändchen für die Teilnehmerinnen an der Sicherheitskontrolle vergriffen. Die Organisatorinnen haben mit rund 500 Teilnehmern gerechnet, es kamen mehr als vier Mal so viele zur ersten Pride in Sarajevo.

Die Umarmungen sind fest, manche haben vor Glück Tränen in den Augen.Im Vorfeld war die Sicherheitslage angespannt. In der Vergangenheit war es bei den Prides in der Region, konkret in Belgrad, Zagreb und Split, zu Gewaltexzessen gekommen. Anti-LGBT Gruppen und Hooligans drohten nun auch in Sarajevo mit Gewalt gegen Teilnehmerinnen vorzugehen. Der Demonstrationszug ist abgeschirmt. 1100 Polizisten aus dem ganzen Land sind da, um die Veranstaltung zu schützen. Nicht weil den bosnischen Behörden die Rechte von LGBT am Herzen liegen, sondern weil die internationale Gemeinschaft und die EU Druck machen.

Auf der Route zeigen manche Anwohner ihre Sympathien und winken aus den Fenstern, auch wenn mitunter ein ausgestreckter Mittelfinger dabei ist. Eine alte Dame steht auf ihrem Balkon und verteilt Handküsschen im Akkord. Man sollte das nicht mit der Stimmung im Land verwechseln. Die Altstadt Sarajevos gehört zu den liberaleren Ecken Bosnien-Herzegowinas.

Am Vortag fand eine Gegenveranstaltung statt, die denselben Weg durch die Innenstadt nahm und deren Teilnehmer behaupteten, für die „traditionelle Familie“ einzutreten. In Wirklichkeit steht diese Anti-Pride für Nationalismus, eine antisäkulare Politik und in diesem konkreten Fall für eine islamistische Agenda. Homophobe Kriegsveteranen sagen, sie hätten das Land nicht für „Perverse“ verteidigt, ein Imam aus Sarajevo behauptet, der CSD in Sarajevo hätte die Straßen beschmutzt, die einst von den „Märtyrern“ gereinigt wurden. Als seien LGBT nicht Teil dieses Landes, als seien unter den mehr als 10.000 Todesopfern der Belagerung Sarajevos keine Lesben und Schwulen gewesen.

Manche Homophoben fragen, ob Bosnien-Herzegowina nicht besseres zu tun hätte, als sich um die Rechte von LGBT zu kümmern. Das Argument funktioniert aber nur umgekehrt: In einem Land, in dem die halbe Jugend keine Arbeit findet, Menschen in Massen das Land verlassen, seit über 25 Jahren Kriegsverbrecher und ihre geistigen Erben regieren und die Korruption grassiert – warum hat man in so einem Land nicht besseres zu tun als sich darüber aufzuregen, dass einmal im Jahr Menschen mit Regenbogenflaggen durch Sarajevo laufen?

50 Jahre sind zwischen dem Aufstand von Stonewall, dem Geburtsmoment des CSD, und der ersten Pride in Sarajevo vergangen. 50 Jahre, in denen sich LGBT in Bosnien-Herzegowina und auf dem Balkan verstecken mussten, geschlagen und bespuckt wurden und werden. Sarajevo ist die letzte Hauptstadt auf dem Balkan, in der nun eine erste Pride stattgefunden hat. Und eine der ersten Hauptstädte in einem mehrheitlich muslimischen Land, in dem eine Pride läuft.

Die Demonstration endet am Parlamentsgebäude. Der letzte Redner beendet sie mit den Worten „Pride für Alle, Tod dem Faschismus“.

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