Fernes Land

Lied über ein paar eigentümliche Diskrepanzen zwischen Beobachtung und medialer Berieselung.

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(Wer sich's lieber gesungen anhört, kann das hier tun: Audio-Version)

Ich weiß von den Fahrten, dreihundert Pakete,
zu viele Adressen in zu kurzer Zeit,
an zwölf Stunden täglich, und kann auch oft mehr sein,
und doch reicht am Ende die Einkunft nicht aus.
Dann schalt ich das Fernsehen ein,
und seh' schöne Menschen in edler Umgebung
und deren Probleme sind stets nur privat.
Wie kommt's, dass diese Filme auf mich wirken
wie Nachrichten von einem andern Stern?
Wie gerne wär ich auch in diesem da beschriebnen Land,
das gleichzeitig hier ist und ist doch so fern.

Ich weiß von den Ämtern, die tragen jetzt Namen,
in englischer Sprache, das klingt so modern,
Da warten die Menschen, karriereberaten,
gemänädschte Fälle und doch chancenlos.
Dann schalt' ich das Radio ein
da preisen Experten die Aktienkurse,
und loben die Zahlen von NASDAQ und DAX.
Wie kommt's, dass diese Meldungen so wirken
wie Nachrichten von einem andern Stern?
Wie gerne wär ich auch in diesem so gelobten Land,
das gleichzeitig hier ist und ist doch so fern.

Ich weiß von der Suche hoch Qualifizierter
nach passender Arbeit in ihrem Beruf,
Nicht hundert Prozent die gewünschte Erfahrung,
zu alt und zu teuer, und sind viel zu viel.
Dann schlag' ich die Zeitungen auf,
uns lese die Klagen vom Fachkräftemangel
und dass arbeitssuchend zu wenige sind.
Wie kommt's, dass diese Schlagzeilen so wirken
wie Nachrichten von einem andern Stern?
Wie gerne wäre ich auch in diesem da beschriebnen Land,
das angeblich hier ist und ist doch so fern.

(Seite 2: Erläuterungen zum Lied)

Erläuterungen

Gemäß dem zweifachen Pulitzer-Preisträger Walter Lippmann ("Public Opinion", 1922) haben Massenmedien die Aufgabe, der "verwirrten Herde" die Sichtweise der herrschenden Eliten zu vermitteln. Lippmann sah darin kein Problem, da es auch innerhalb der Eliten eine ausreichende Meinungsvielfalt gebe. Ungeachtet dessen hat dies aber den Effekt, dass der Diskurs in den Massenmedien einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung wie aus einer Parallelwelt vorkommt und im Widerspruch zu dessen täglicher Erfahrung steht.

Strophe 1: Die Arbeitsbedingungen der Paketzusteller beschreibt Günter Wallraff in "Aus der schönen neuen Welt" (KiWi-Taschenbuch, 2012). Demnach kalkuliert z.B. der Paketdienstleister GLS mit einer täglichen Arbeitszeit der Fahrer von 12 Stunden. Die Überschreitung der gesetzlich zulässigen Grenze von 10 Stunden für die tägliche Arbeitszeit wird durch Kniffe wie das Deklarieren des Beladens der Wagen als Vorbereitungszeit erreicht sowie durch die Auslagerung an "Subunternehmer", die zur Selbstausbeutung gezwungen werden. Die Zahlungen von GLS an die Subunternehmer decken häufig nicht einmal deren Kosten, so dass deren Privatkapital mit aufgebraucht wird und sie in den Ruin getrieben werden.

Strophe 2: Die früheren Arbeitsämter heißen mittlerweile "Jobcenter" und deren Angestellte sind jetzt "Fallmanager". Dazu schreibt die "Agentur für Arbeit" auf Ihrer Webseite:

"Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement umfasst spezifische Betreuungs-, Beratungs- und Steuerungsaufgaben und bietet Menschen mit multiplen Einschränkungen besondere Unterstützung im Hinblick auf ihre berufliche und soziale Integration an."

Im Radio werden seit einigen Jahren als Teil der Nachrichten die Kurse der Aktienindizes DAX und NASDAQ gemeldet, auch wenn dies für nur einen sehr geringen Teil der Hörer von Interesse sein dürfte (ich kenne niemanden, aber vielleicht bewege ich mich in den falschen Kreisen ;-). Auch wenn in dem Lied die beiden Welten als Widerspruch gegeneinander gestellt werden, besteht ein direkter Zusammenhang: Ankündigungen von Entlassungen werden nämlich an den Börsen in der Regel "freundlich" aufgenommen, weil sie das "Vertrauen" der Investoren in das betreffende Unternehmen erhöhen. So führt die Ankündigung von Entlassungen in der Regel zu einer Erhöhung des Aktienwerts.

Strophe 3: Auch wenn Arbeitgeberverbände und die deren Pressemitteilungen wiedergebenden Medien regelmäßig vor einem "Fachkräftemangel" warnen (so haben Welt und SZ in ihren Onlineausgaben sogar einen Themenschwerpunkt "Fachkräftemangel"), zeigt eine Studie von Karl Brenke ("Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht", Wochenbericht des DIW Berlin, Nr. 46, 2010), dass generell ein Fachkräftemangel weder besteht noch droht. Statt dessen sei sogar im naturwissenschaftlich-technischen Bereich mit einer Fachkräfteschwemme zu rechnen, denn im Jahr 2010 gab es z.B. fast so viele Maschinenbaustudenten wie überhaupt beschäftigte Maschinenbauingenieure. Wobei das natürlich eine Frage der Perspektive ist: Was aus der Sicht der Arbeitnehmer "droht", ist aus Sicht der Arbeitgeber wünschenswert.

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