O Sapientia

Lamentatio. Über die Weisheit, die sich heute der wirtschaftlichen Nützlichkeit und und den Plänen der Mächtigen unterzuordnen hat und so der Seligkeit abträglich wird.

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Ó sapiéntia dáta mortálibus áb Appollóne,
Út veritátem exquírant assídue púra cordéque,
Ét ut invéniant ártes, quae lévent misériam frátris,
Téctum paupéribus párent, deósque per músicam cólant.

Ó sapiéntia sérva poténtium cónsiliórum,
Út veritátem abscóndant dolóse fingéntibus vérbis,
Ét ut invéniant ártes, quae éminus hómines cáedant,
Étiam ínopem prívent, et fáciant térram desértam.

Vére fortásse dicébat, de quó vetus fábula nárrat,
Spíritu páuperes éum in mónte vocáre beátos.

Hinweis

Lateinexperten seien darauf hingewiesen, dass es sich um um einen spätlateinischen Text handelt (also eigentlich außerordentlich spät, quasi postmortal). Das Gedicht verwendet deshalb die mittelalterliche Akzentrhythmik: (a) das Versmaß ergibt sich durch Abfolge betonter (im Text oben mit Akzenten hervorgehoben) und unbetonter Silben, nicht wie im klassischen Latein durch lange und kurze Vokale (b) alle Silben werden gesprochen (keine „Elisionen“). Der seltenere Ablativ „Appolóne“ wird hier wegen der Rhythmik anstelle der häufigeren Form „Apólline“ verwendet.

Übersetzung und Erläuterungen

Folgen auf der zweiten Seite, damit diejenigen, die irgendwann mal Latein gelernt hatten, nicht der Freude beraubt werden, sich den Text selbst zu erschließen.

Übersetzung

O Weisheit, Sterblichen von Apollon gegeben, / damit sie die Wahrheit suchen beharrlich und mit lauterem Herzen, / und damit sie Mittel finden, zu lindern das Elend des Brudes, / ein Dach den Armen zu bereiten und die Götter durch Musik zu verehren.

O Weisheit, Dienerin der Pläne der Mächtigen, / dass sie die Wahrheit verstellen listig mit erfundenen Worten, / und dass sie Mittel finden, aus der Ferne Menschen zu töten, /
selbst den Mittellosen noch zu berauben und die Erde zur Wüste machen.

Wahr sprach vielleicht, von dem eine alte Geschichte erzählt, / er habe auf einem Berg die Armen im Geiste selig genannt.

Erläuterungen

Apollon ist u.a. der Gott der Heilkunst, der Weissagung und der Künste. "Deosque per musicam colant" ("und die Götter duch Musik zu verehren") bezieht sich auf die kosmotheistische Vorstellung, dass den Göttern ein Teil des Geschenkten wieder zu opfern ist, was nicht nur auf materielle Gaben (Speiseopfer, Trankopfer), sondern auch auf geistige Gaben anwendbar ist.

"Quae eminus homines caedant" ("die aus der Ferne Menschen töten") bezieht sich z.B. auf Drohnen zur ferngesteuerten Hinrichtung. Die letzte Zeile der zweiten Strophe bezieht sich darauf, dass die Reichen sowohl die Armen, als auch die Natur als auszubeutende Ressource betrachten und viel schlaue Überlegungen darauf verwenden, wie Ihnen das am effektivsten gelingt.

"Beati pauperes spiritu" ("Selig sind die Armen im Geiste") ist die erste Seligpreisung der Bergpredigt ("in monte"). Auch wenn diese Seligpreisung oft verulkt wird, hat sie m.E. im Zusammenhang mit den anderen Seligpreisungen eine tiefere Bedeutung: Gott legt andere Maßstäbe an als die Menschen. Über die persönliche Seligkeit hinaus kann man sie auch gesellschaftlich interpretieren im Sinne einer Bemerkung von N. Chomski:

"It’s beyond irony that the richest most powerful countries in the world are racing towards disaster while the so-called primitive societies are the ones in the forefront of trying to avert it."

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