Hinreichend Solidarisch

Genug Wettbewerbsfähig Im Rahmen des ethisch Möglichen

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In der Corona- Pandemie waren wir, also Deutschland, ja, erfreulicher Weise, wenn auch „leicht“ verzögert, wieder solidarisch in der EU.
Aber „solidarisch“ sagt eben noch nichts über den Umfang, das Ausmaß, der Solidarität aus. Waren wir jetzt ein bisschen solidarisch? Mittelmäßig solidarisch? Zu wenig solidarisch? Eventuell sogar zu solidarisch? Waren wir vernünftig solidarisch? Durchdacht solidarisch? Und auch die Frage aus welcher Intention heraus wir solidarisch gehandelt haben, ist vor allem für unser Umfeld wichtig.

Auch solidarisches Handeln sollte, wie jede Handlung, einem Ziel folgen.

Und die Erreichung von Zielen lässt sich nun mal nachprüfen. Meistens hat ein Ziel mehrere Kriterien die erfüllt sein müssen bevor das gesamte Ziel erfüllt ist. Die Erfüllung jedes dieser Kriterien ist dann notwendig. Wenn alle erfüllt sind ist das Ziel dann hinreichend erreicht. Und nur dann. „Hinreichend“ kommt aus der mathematischen Logik. Mathematik sollte man zwar, zumindest meiner Meinung nach, nicht über priorisieren. Ab und zu gibt es eben leider tatsächlich Wichtigeres. Aber das, was man für die Praxis und für das Grundsätzliche braucht sollte man schon kennen und auch anwenden.

Also wenn wir jetzt geklärt haben, was, zumindest im Rahmen dieses Blogs, „hinreichend“ bedeutet, können wir uns jetzt mal überlegen, welche Kriterien für „hinreichend“ solidarisches Handeln, sagen wir mal in der EU, für „uns“ wichtig sind. Also wir überlegen uns zusammen diese Kriterien. Aber wie einigen wir uns da? Nach John Rawls und Immanuel Kant würden wir uns jetzt versuchen in jeden EU- Bürger hinein zu versetzen und überlegen ab wann wir unser eigenes Verhalten und das der anderen als zumindest genug solidarisch ansehen würden. Und wir würden auch noch so tun als wüssten wir nicht welcher EU- Bürger wir selbst hinterher wären.

Das ist jetzt nicht so kompliziert setzt aber natürlich einen entsprechenden Willen voraus.

Am Ende wird man da wohl einmal seine eigene Vorstellung von hinreichend solidarischem Handeln in der EU, zumindest für diese konkrete Situation entwickelt haben. Und auch einen gewichteten Rahmen wie viel Abweichung davon man noch akzeptieren oder zumindest tolerieren möchte.

Dann muss man schauen, ob man sich mit den anderen auf gemeinsame Kriterien einigen kann.

Da kann man erst mal schauen, ob man anderen bei Abweichung der Kriterien noch Informationen liefern kann, die diese eventuell noch nicht berücksichtigt haben, oder ob diese welche kennen die man selbst noch für seine eigene Entscheidung berücksichtigen muss.

Wenn man sich dann im Konsens, z. B. durch systemisches Konsensieren oder auch eine andere Methode, geeinigt hat, ist das natürlich am besten, da dann jeder die Kriterien akzeptiert. Aber das wird kaum immer der Fall sein.
Dann stellt sich die Frage, ob wirklich jeder zustimmen muss. Da kann man dann auf die „90% reicht“ Regel zurückgreifen. Oder gleich zu einfachem Mehrheitsrecht.

Und auch dann haben wir ja erst mal nur mit denen gemeinsam eine Entscheidung über die Kriterien getroffen, die ethisch- moralisch Werte- gebunden, normativ, zu einer Entscheidung gelangen wollten oder dies konnten.

Es bleibt als noch der Rest der einfach nur seine eigenen Interessen verwirklicht sehen möchte oder ideologisch an Grundsätzen hängt, die er nicht von konkreten Ergebnissen abhängig machen möchte.

Hier kann man dann versuchen Gemeinsamkeiten bei den Interessen zu finden und schauen, ob man sich so einig wird.

Wenn man dann hier am Ende nur die Kriterien im Ergebnis haben möchte denen tatsächlich auch aus dieser Gruppe jeder freiwillig zustimmt, ist man beim streng individuell legitimierten Ansatz eines Buchanans, Homanns, Vanbergs und Co. angelangt. Dann wird das Ergebnis aber tatsächlich der kleinste gemeinsame Nenner sein. Also der unsolidarischste hat da dann das letzte Wort. Und alle sollen es tolerieren. Oder eben Revolution machen. Das schreibt ja auch James M. Buchanan schon als Konsequenz. Denn es kommt eben nicht nur darauf an welche Kriterien drin stehen im Ergebnis sondern auch welche nicht drin stehen. Und durch die Revolutions- und damit auch Zusammenbruchs- Option kommt natürlich zu dem Unsolidarischstem noch derjenige als untere Schranke hinzu der eine Revolution oder den Zusammenbruch haben möchte. Und spätestens mit denen wird man sich dann nicht mehr auf Stabilität garantierende Kriterien einigen können.

Also wenn wir den streng individuell legitimierten Ansatz jetzt als zumindest ab einer bestimmten Größe, als fast immer zum Zusammenbruch führend, begründet als selbstzerstörend abgelehnt haben bleibt wohl bei einer Einigung mit den rein Interessierten nur noch die Mehrheitsentscheidung.

Und auf Ebene von Parteien, sollte man dann aber auf keinen Fall von den bei der Entscheidung zur Minderheit gehörenden ein Mitlaufen und schon gar kein „mitwahlkämpfen“ einfordern. Man muss weiterhin die Kritik der Minderheit auch Partei- intern akzeptieren. Einen Zusammenhalt kann nur der Einfordern der auch abweichende Meinungen zulässt. Aber natürlich kann und sollte auch, nach meiner Meinung, die Mehrheit in Parteien, Mitglieder mit zu stark abweichender Meinung ausschließen oder sogar durchaus wohlwollend zur Gründung einer neuen Partei auffordern. Um dieses politische Programm dem Wähler anbieten zu können. Parteien die mehrheitlich aus Mitgliedern bestehen, die nur wollen, dass ihre Partei mit welchem Programm auch immer möglich viel Stimmen erzielt oder die nur für sich opportunistisch motiviert ein Amt haben wollen, braucht keiner.

Der Mehrheitswille oder die Werte der Mehrheit in Parteien ändert sich ja auch im laufe der Jahre meist. Deshalb sollte man dann auch die Partei wechseln, entweder als Wähler oder als Mitglied, wenn einem das vom politischen Ergebnis her Werte- gebunden mehr zusagt. Es kann ja für Koalitionen auch sinnvoll sein in Parteien zu bleiben, die man eigentlich nicht als aktuell am nächsten an der eigenen politischen Position ansieht.

Aber nun (noch) einmal zur Frage ab wann ich eigentlich unser, als Deutschland, handeln als hinreichend solidarisch, zumindest aktuell ansehen würde.

Da muss ich dann erstmal unterscheiden zwischen hinrechend solidarisch im aktuellem System, in „dieser aktuellen Welt“ und arbeiten am System, an „dieser aktuellen Welt“. Auch in der Bildung ist es wichtig, dass man nicht nur das Wissen und das Können vermittelt, um in „dieser aktuellen Welt“ bestehen zu können. Sondern auch das Wissen und Können, das man braucht, um einschätzen zu können, ob man dabei ethisch- moralisch und hinreichend solidarisch genug vorgeht. Sowohl im Eigeninteresse als auch unmittelbar Werte- orientiert. Und auch das nötige Wissen, um „diese Welt“ nach den eigenen Werten und Interessen gemeinsam oder auch fair und vernünftig begrenzt alleine oder in Teilgruppen formen zu können. Im System alleine reicht eben nicht auch am System muss man arbeiten. Und schauen wer da gerade sonst noch dran arbeitet.

Wir haben zum Beispiel mit dem Zwang zur Gewährung der 4 wirtschaftlichen und individuellen Grundfreiheiten in der EU Anfang der 90er, ohne für jeden einklagbare gemeinsame soziale und ausgleichende Grundrechte, einen Weg eingeschlagen den noch nie ein Staatenbund gegangen war. Und dann haben wir auch noch eine gemeinsame Währung eingeführt in der Mehrheit der EU Staaten. Und all das nachdem wir Ende der 80er Jahre auch weltweit erstmals in der Menschheitsgeschichte den Kapitalverkehr (fast) komplett freigegeben haben.

Nach dem 2.Weltkrieg hatten wir zumindest im Ansatz mit dem Bretton Woods System und im Geiste von Keynes ein System bis Anfang der 70er, das auf die Einsicht der Notwendigkeit eines Ausgleiches, wirtschaftlicher, Währungs- technischer und finanzieller Art zumindest „etwas“ aufbaute. Wenn eben auch nicht hinreichend, deshalb war es bei den ersten Krisen, Vietnam und den Ölkrisen zügig zusammengebrochen. Dann hatten wieder die Anhänger der wirtschaftlichen Freiheit fast überall in Forschung, Bildung, Medien und langsam auch in den Parteien das Ruder übernommen. Nach der Formel wer hat soll es behalten und höchstens freiwillig was abgeben müssen. Eben freiwillig im Sinne der streng individuell legitimierten Verfassungsethik. Damit holt man aber eben auch die Revolutions-, Schwächungs- und Zusammenbruchs freudigen mit ins Boot. Und da individuell legitimiert doch nicht so toll klingt, wird daraus dann doch schnell göttlich legitimiert. Dann ist der Reichtum, oder einfach nur das kurzfristige „Mehr“, plötzlich ein Zeichen göttlicher Auserwähltheit. Oder das höhere Einkommen. Dann sind auch die Propheten und Apostel meist nicht mehr weit. Und eine wichtige Gruppe innerhalb der Bewegung der Anhänger der wirtschaftlichen Freiheit heißt übrigens „Marginal Revolution“. Denen ihr Wahlspruch lautet, oder lautete zumindest: „Die Welt jeden Tag ein Stückchen besser machen“. Nun heißt es nicht, dass sich jeder sonst, der dieses Motto verwendet, zum Beispiel bei politischen Aschermittwoch- Veranstaltungen, als Anhänger dieser Gruppe outen will. Das Motto an sich ist ja gut. Aber über diese Information sollte man schon verfügen, um bei Wahlen, die nach den eigenen Wertvorstellungen, passendste Entscheidung treffen zu können. Am besten unverzüglich. :).

Und ganz nebenbei erwähnt, was haben eigentlich Botschaften für „Freimarkt“ und gegen „Schutzzölle“ auf Abschlussveranstaltungen von IT- Konferenzen wie der BASTA! Spring 2021 verloren? Das ist dann wirklich E- Nudging (Evil- Nudging). Ein paar mehr mit hohem Einkommen in die „Zwangssystem Wirtschaftlicher Freiheit“- Titanic mit reinlocken. Da passt dann der alte Spruch von Andrew Stuart Tanenbaum zu Linus Torvald: „That’s not the way it should be done“.

Also wir haben in der EU aktuell ein in dreifacher Hinsicht erstmals in der Menschheitsgeschichte eingeführtes System, dass von Menschen erdacht wurde, denen ideologische Prinzipien wichtiger waren als das Ergebnis. Ein System, dass auf der Freiheit auch zur Gier aufbaut. Bei dem in wichtigen Bereichen immer noch Konsenspflicht aller beteiligten Staaten besteht. Das ein unregulierter, unausgeglichener und unpriorisierter gemeinsamer Markt mit einem Zwang zur wirtschaftlichen Freiheit auch bei zu unsolidarischem Verhalten eher einem Selbstmordsystem ähnelt, kann man ja auch bei Makroskop und in meinem Blog häufig genug nachlesen. Denn auch die goldigste Zeit für einige endet ziemlich schnell wenn es den anderen zu schlecht geht.

Deshalb, können wir endlich mal über diese genannten Neuerungen Evidenz- basiert diskutieren und entsprechende hinreichend ausgleichende, denn das bedeutet solidarisch nun mal nach meiner Meinung hauptsächlich, priorisierende und regulierende Reformen durchführen, die auch in der Rücknahme zum wirtschaftlichen Zwang bestehen kann und zur Not auch nur in einer neuen Koalition der Willigen erfolgen kann? Anstatt immer nur die Symptome des „Zwangssystems wirtschaftlicher Freiheit ohne hinreichende soziale und ausgleichende Rechte“ zu bekämpfen. AlsoamSystem, als nurinder Titanic, wenn in Deutschland auch nicht wenige aus der ersten Klasse heraus, aber die geht halt mit unter, wenn es so weiter geht.

Nur was man versteht und häufig genug überprüft kann man beherrschen. Und aus Werte- orientierter Sicht auch noch Werte- gebunden beherrschen.

Und meine Ansicht zur aktuellen Solidarität in der EU bei Corona habe ich ja hier schon veröffentlicht:
https://rkslp.org/2021/02/06/das-problem-der-ungleichgewichte-in-der-eu-steht-weiter-auf-der-todo-liste/

Ach ja und zur Wettbewerbsfähigkeit wollte ich ja auch noch was schreiben.

Um international in einem Zwangssystem wirtschaftlicher Freiheit bestehen zu können, muss man eben tatsächlich wettbewerbsfähig genug sein, oder vielleicht ist die Formulierung „für den eigenen Importbedarf genug exportieren“ hier genauer. Sobald der Importbedarf aber bedeckt ist, kann man den Verweis auf die Wettbewerbsfähigkeit aber auch nicht mehr als Begründung verwenden, irgendetwas anderes zu beschneiden. Meist sind das dann soziale, ökologische oder sicherheitsbezogene Forderungen. Wenn man mehr exportiert als importiert ist man daher meist unsozial, unökologisch oder nicht sicherheitsbewusst. Auch der Verweis, dass man für später sparen will, ändert daran nicht unbedingt viel. Denn wer entscheidet denn über das Verhältnis Sparen und Konsumieren? Vor allem wenn so einige wenig bis zuwenig haben. Vor allem spart man dann für sich selbst und nicht zusammen mit anderen. Man spart also über den Außenbeitrag auf Kosten der anderen, der Umwelt und der gemeinsamen Sicherheit. Ob die anderen dann schlau sind sich dies gefallen zu lassen, wenn sie es nicht müssen? Und ist ein Zwang dies akzeptieren zu müssen wirklich zu legitimieren und aufrecht zu erhalten? Oder bekommt man dann früher oder später doch die Rechnung serviert und hat dann umsonst gespart? Das hängt wohl nicht zuletzt davon ab, ob man hinreichend solidarisch war. Und darum ging es im ersten Teil ja.

Also in diesem Sinne: Hinreichend solidarisch, im Rahmen des Möglichen, sein. Und das Prüfen und Begründen nicht vergessen. :)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

KSLP

Sozial. Sicher. Standhaft. Je nach innen und außen. Und relativ konservativ. :)

KSLP

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