"Kapital und Ideologie" von Thomas Piketty

Buchbesprechung Vom Neoproprietarismus bis zur Freimarktideologie

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So, ich habe jetzt auch mal das Buch „Kapital und Ideologie“ von Thomas Piketty ausgelesen. Die ganzen 1281 Seiten der deutschen Übersetzung.

Zwar nicht alles Wort für Wort, zumindest in den Abschnitte mit historisch empirischen Daten, ich hatte ja auch schon „Das Kapital im 21.Jahrhundert“ gelesen, aber zumindest Seite für Seite.

Eigentlich stand dieses Buch auf meiner „Möchte ich bald lesen“- Liste gar nicht mal so weit oben. Es ist eben sehr umfangreich, nicht unbedingt preiswert und in den meisten Buchbesprechungen, die ich über es gelesen hatte, wurde eher auf den Part über die weltweite historische Entwicklung der Ungleichverteilung von Eigentum und Einkommen eingegangen. Und es wurde teils bemängelt, dass die Vorschläge ganz am Ende des Buches, wie man dieser Ungleichverteilung entgegentreten könnte nichts wirklich neues beinhalten und sich in supranationalen Ideen erschöpfen würden ohne darauf einzugehen was man den machen kann wenn man sich nicht auf gemeinsame supranationale Institutionen, Steuern usw. einigen kann.

Zum Teil stimmt es auch was in diesen Buchbesprechungen stand.

Den größten Teil des Buches nehmen tatsächlich Darstellungen der historischen Entwicklung der Ungleichheit ein. Die zwar auch sehr interessant, aber eben, wenn auch weniger detailliert, bereits bekannt. Zumindest denjenigen die sich schon etwas länger mit diesem Thema beschäftigen. Und auch die Vorschläge am Ende des Buches sind zum größten Teil tatsächlich nicht wirklich neu. Also wenn man, wie wohl die meisten eher wenig Zeit hat, und sich genau überlegen muss/sollte was man als nächstes liest, und wofür man sein Geld ausgibt, drängt sich dieser 1281 Seiten „Wälzer“ einem nun wirklich nicht unmittelbar auf den ersten Blick direkt auf.

Dann hatte mich aber einer der Hauptverantwortlichen von Goliathwatch, Thomas Dürmeier, der auch bei meiner online Weltsozialforum 2021 Veranstaltung zu den Themen „Ausgleichsunion“ und „Verfassungsethik“ mit dabei war, darauf aufmerksam gemacht, dass es in dem Buch „Kapital und Ideologie“ sehr wohl doch auch um Verfassungsethik ging und dieses Thema da auch durchaus auch genauer als bisher beleuchtet würde.
Es würde auch um „Buchanan“ und so gehen.

Also hatte ich mir das Buch eben Anfang des Jahres doch gekauft. Und erst mal ganz grob überflogen. Den Namen „Buchanan“ konnte ich zwar nicht finden aber immerhin einiges über den Einfluss sozialdemokratischer Wert und Parteien bei der Phase des größten Rückganges an Ungleichheit in der Geschichte der Menschheit vom Ende des 1. Weltkriegs, wenn auch vor allem nach dem Ende des 2.Weltkriegs bis zum Ende der 1970er Jahre.

Diese Phase hätte die Zerfallsphase der „Eigentümergesellschaften“ vom 1. Weltkrieg bis Ende des 2. Weltkriegs abgelöst. Diese Eigentümergesellschaften hätten ihre moralisch-ethische Legitimation aus der Ideologie des Proprietarismus (https://de.wikipedia.org/wiki/Proprietarismus) gezogen.

Diesen Begriff hat Herr Piketty neu erfunden oder zumindest geprägt, er versteht darunter „politische“ Gesellschaften, in deren Verfassungen, z. B. durch Zensuswahlrecht, das Wahl- und damit politische Entscheidungsrecht abhängig vom Vermögen ist. Also Gesellschaften in denen nicht die Mehrheit der Mitglieder die Wahl- und Entscheidungsmacht besitzt. Über staatliche Umverteilung ihres Vermögens auf Betreiben des Mehrheitswillens mussten sich die Vermögenden solcher Gesellschaften also keine Sorgen machen.

Und genau diese proprietaristische Ideologie hätte seit den 1980ern wieder Schritt für Schritt, diesmal als
Neoproprietarismus, „Oberwasser“ in den Demokratien der Welt erhalten. Vor allem in Europa und den USA.

Nur ging es diesmal, zumindest habe ich ihn so verstanden, darum die staatliche Verfügungsgewalt über Privatvermögen und privates Einkommen einzuschränken, um so dem Mehrheitswillen wieder die Macht zum Umverteilen zu nehmen. Und zwar durch Verfassungsänderungen und internationale Verträge, welche auf der Freimarkt- Ideologie aufbauen.

Alleine dafür das Thomas Piketty diesen Bestrebungen endlich mal einen Namen gegeben hat, eben „Neoproprietarismus“, lohnt sich der Kauf, gebraucht oder neu, dieses Buches schon.

Und auch der Umfang, denn so wird diese neue ideologische Phase in der sich die Menschheit gerade, noch recht unreflektiert und journalistisch weitgehend unkommentiert befindet, endlich (auch) mal von einem anerkannten Sozialökonomen, in einen historischen Entwicklungsstrang eingebunden.

Danke dafür Herr Piketty.

Auch wenn er James M. Buchanan, die Institute der Koch Brüder, das Atlas Network und die Mont Pelerin Gesellschaft nicht explizit erwähnt, höchsten F.A. Hayek, macht er doch deutlich, dass wir vor allem seit den 1990ern in eine Phase reingerutscht sind, in der Ungleichheit und das hinnehmen müssen von „unsozialen“ und „unausgeglichenem“ Marktverhalten (wieder) zur neuen Normalität geworden ist und zunehmend auch durch internationale Abkommen und nationale Verfassungsänderungen (gut, das hatte er vielleicht nicht explizit geschrieben) verfestigt wird. Und das man da eben nicht nur zufällig reingerutscht ist, sondern dass es da auch Akteure gab, die das genau so wollten. Diese benennt Herr Piketty eben nur nicht. Ist vielleicht auch besser so, dann kann er sich auf die Analyse des theoretisch und ideologischen Unterbaues konzentrieren.

Konkreter wurde was diese Akteure angeht ja schon Frau Prof. Nancy Maclean für die USA in ihrem Buch „Democracy in Chains“ und ich für Deutschland in meinen Blogbeiträgen und bei meinem Vortrag beim online Weltsozialforum 2021.

Was Herr Piketty aber noch etwas mehr hätte beleuchten können ist die Verbindung zwischen dem Neoproprietarismus und der Freimarktideologie (zusammen mit der Investitionsschutzideologie).

Beim Neoproprietarismus geht es ja kurz gesagt darum, dass es Mehrheits- demokratisch legitimiert nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt möglich sein soll, staatlich auf das private Vermögen und Einkommen zuzugreifen. Und bei der Freimarkt-/ Investionsschutzideologie darum, dass auch andere Staaten, nicht mehr in Handelsbeziehungen, legitimiert durch den nationalstaatlichen Mehrheitswillen, durch Zölle, Quoten usw. korrigierend eingreifen können.

Und letzteres betrifft eben auch, durch den Standortwettbewerb, die Regierungen, Parteien und auch Gewerkschaften der einzelnen Nationalstaaten. Das Kapital und die Arbeit wandern im freien Markt eben dorthin wo die produktivsten, sei es historisch gewachsen oder von Natur aus, Standorte sind. Und mit diesen auch die Steuern und Sozialversicherungseinnahmen.

Also die Arbeiter und Angestellten in Staaten mit Standortvorteilen, zusätzlich zu denjenigen aus Staaten mit Vorteilen im Steuerwettbewerb, die hatte Piketty in der Beschreibung des „Kleines Land“- Vorteil, wie bei Luxemburg u. Irland ,aber schon erwähnt, können leicht zu einer Kooperation mit den Neoproprietarianern verführt werden, auch wenn Ihnen die Standortvorteile entweder durch Aufholprozesse oder eventuell auch durch Zuwanderung sowieso wieder entgleiten, der Vorteil also nur zeitlich begrenzt vorhanden sein wird.

Thomas Piketty beschriebt ja auch schön die Ausrichtung der Parteien nach der Gesinnung der Wähler, also zwischen national – international und egalitär und inegalitär.

Er könnte nun noch einmal die Verschiebung der Wählermehrheiten zwischen den Staaten, mit Standortvorteilen im freien Markt und ohne diese Vorteile beschreiben. Man kann unter internationalistisch in Bezug auf den freien Markt ja auch die Möglichkeit und Bereitschaft zum Ausbeuten durch Standortvorteile verstehen. Also in Staaten mit Standortvorteilen sollte der freie Markt ja auch sehr viel breiter zumindest unter der national gesinnten Arbeiter und Angestellten Schicht befürwortet werden, zumindest solange diese einen Vorteil aus diesem für sich sehen, als in Staaten ohne Standortvorteil.

Und nach meiner Beobachtung gibt es diesen Unterschied auch sehr deutlich, wenn auch noch verstärkt durch die neoproprietaristische eingestellte Presse.

Wobei auch die Neoproprietarianer nicht vergessen sollten, dass die Proprietarianer selbst keine Beschränkungen in ihren Verfassungen bezüglich der staatlichen Handlungsfreiheit in Bezug auf Vermögen und Einkommen eingebaut hatten. Und auch internationale Handelsbeziehungen, wie während des Golden Age der Niederlande zum Beispiel, durchaus nach ihren Interessen und nicht nach der Freimarkt Ideologie ausgerichtet hatten.

Die einzelnen Marktteilnehmer haben eben kaum Zeit ihre Marktentscheidungen auch nur in Bezug auf ihre langfristigen und nicht nur die aktuelle Entscheidung betreffenden Interessen, egal ob aus Gruppen oder individueller Sicht, angemessen prüfen zu können. Auch schon deshalb, aus Eigeninteresse, muss man das Marktergebnis durch gemeinsame Institution hinreichend korrigieren können.

Reine Freimarkt- Ideologien bieten aber schon diese Möglichkeit nicht mal mehr.

Deshalb sollte man sich wieder an Gustav von Schmoller`s Lebensweisheit erinnern: „Nur der inkonsequente kann für einen rein freien Markt sein oder derjenige der seinem eigenen Land schaden will.“

Wenn man also solch eine Ideologie verfolgt, wird man sich mit Sicherheit auch großer Unterstützung aus gewissen Teilen des Außen erfreuen können. Und sei es nur durch einseitige Kauf-, Leih- und Investitionsfreudigkeit.

Zum Schluss noch ein Kommentar zu Herrn Pikettys extensiver Verwendung des Ausdrucks „konservativ“ :).

Konservativ heißt, dass man skeptisch gegenüber Änderungen ist. Lieber alles noch mal prüft, bevor man vielleicht etwas „verschlimmbessert“. Konservativ heißt nicht automatisch, dass man monarchistisch, neoliberal, religiös- dogmatisch, rassistisch- nationalistisch, usw. ist.

Wenn man etwas ändern möchte und andere zum Mitmachen bringen möchte, wird sich da wohl hoffentlich fast jeder erstmal kurz konservativ verhalten und den Änderungsvorschlag erstmal zumindest prüfen wollen, und nicht einfach durchwinken. Wenn man als „Progressiver“ nun alle die zu einem Zeitpunkt x noch nicht zugestimmt haben, sei es weil sie die Richtung der Änderung generell ablehnen oder sei es weil sie zwar auch in diese Richtung wollen aber mit dem Prüfen noch nicht durch sind, zusammen als „Konservative“ abstempelt, anstatt zu differenzieren und auf die jeweiligen Gründe einzugehen, wird man kaum je eine demokratische Mehrheit erreichen können.

Wenn ich eine soziale Änderung veranlassen möchte gibt es eben diejenigen die das komplett nicht wollen, zum Beispiel weil sie in diesem Punkt weniger bis gar nicht sozial eingestellt sind. Und es gibt diejenigen die zwar auch eine solche Änderung möchten, aber eben vielleicht etwas anders oder einfach noch mehr Zeit zum Prüfen brauchen, eventuell auch da ihnen etwas anderes zurzeit wichtiger ist.

Also wenn man die „neoliberale Revolution“, um mal Nancy Fraser zu zitieren, welche seit den 1980ern in Gang ist, schon zusammen mit anderen als „konservativ“ titulieren will, sollte man zumindest „Markt(ergebnis)- konservativ“ oder so bezeichnen, also relativ begrenzt auf einen bestimmten Erhaltungswillen.

Denn dann stimmt diese Gleichsetzung zumindest einseitig, die Neo- /Altliberalen wollen tatsächlich u.a. das Ergebnis der individuellen Marktentscheidungen beibehalten. Aber das wollen aus anderem Grund aber in Bezug auf konkrete Änderungen eben auch erstmal mehr oder weniger lange auch viele Soziale, die noch am Prüfen sind. Und die wollten bestimmt nicht erreichen was auch durch Herrn Piketty als „konservative Revolution“ bezeichnet wurde.

Also „neoliberale Revolution“ ist dann doch die „vernünftiger“ Bezeichnung, nach meiner Meinung.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

KSLP

Sozial. Sicher. Standhaft. Je nach innen und außen. Und relativ konservativ. :)

KSLP

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