Natürlich wird der Text, den die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes 1948/49 erarbeitet haben, nicht einfach frontal vorgetragen, sondern durch Verfremdungstechniken kritisch befragt und abgeklopft: Wenn die sehr divers zusammengesetzte Gruppe der Performer*innen die beiden Wörter „Alle Deutschen“ in den Artikeln 8,9,11 und 12 derart überbetonen, steht zwangsläufig die Frage als Elefant im Raum, wie es mit den Migrant*innen aussieht. Die Asylrechts-Garantie in Artikel 16a wird sooft entschlossen und lautstark wiederholt, bis auch der letzte Besucher ins Grübeln kommt, wie es um die Flüchtlingspolitik bestellt ist und welche Auswirkungen der Asylkompromiss von 1993 hatte, der den so klaren Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ mit zahlreichen Einschränkungen und Fußnoten ergänzte.
Ironisch aufgebrochen wird das Chorprojekt durch eine kurze David Hasselhoff-Parodie, der 1989 an dieser Stelle „Looking for freedom“ sang, oder durch taumelnde, untergehakte Gestalten, die „BRD.de“ skandieren und an „Reichsbürger“ erinnern.
Wenn man die Schönheit und Klarheit der Sprache des Grundgesetzes so eindrucksvoll wie hier vor Augen und Ohren geführt bekommt, ist eine Botschaft beruhigend: Unser Grundgesetz ist eine Verfassung, auf die wir stolz sein können. Mit dem Parteienverbot, dem Widerstandsrecht, dem Grundrechtskatalog und der Ewigkeitsgarantie ist unsere Demokratie auch sehr bewusst als „wehrhaft“ konzipiert. Einen echten „Stresstest“ hatte das Grundgesetz in den vergangenen Jahrzehnten noch nicht zu bestehen. Aber mit dem Einzug einer Fraktion in den Bundestag, die gezielt mit Ressentiments gegen Europa, Minderheiten und „Lügenpresse“ spielt, die aufhetzt und spaltet, könnte sich dies ändern.
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