Harald Schmidt, schwankender Westen, Mirna

Aktuelle Rezensionen "Und dann kam Mirna" (Sibylle Berg, Gorki), Claus Leggewie über Antikapitalismus (Schaubühne), argentinisches Kino (HKW), "Back to Black" (DT), "Schwankender Westen"

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„Und dann kam Mirna“: die neurotischen Furien sind zurück am Gorki

Mitte 30 und verzweifelt, aber immer noch im Schlabberpulli und in Trainingsjacken, kehren die wütenden jungen Frauen aus „Es sagt mir nichts das sogenannte Draußen“ ans Gorki zurück.

Unter dem Pulli tragen sie mindestens genauso häßliche, geblümte Umstandskleider: die Träume sind geplatzt, stattdessen schlagen sie sich alleinerziehend mit altklugen, nervigen Gören herum. „Wir können uns neu erfinden“, das Mantra der Ratgeberliteratur, „sagen nur Dummköpfe!“, höhnt der Chor der vier Furien, die sich so viel mehr vom Leben erhofft hatten.

Wie konnte es nur soweit kommen? Auf den Partys standen sie im Abseits, ohne Chance bei den schönen Menschen, die ihre Körper als durchtrainierte Präzisionsinstrumente präsentierten. Da blieb nur Torben, der One-Night-Stand mit ihm war allerdings so prickelnd wie eine mit „Stiefmütterchen bepflanzte Verkehrsinsel“. Und dann kam eben Mirna. Die Teenie-Tochter ist ebenfalls auf vier Schauspielerinnen aufgespalten: vier Mädchen mit Pferdeschwanz und rosa Röckchen, die gleich mal einen Stapel Bücher mit lautem Knall fallen lassen.

Die Mittdreißigerinnen schieben großen Frust: mit dem Idealbild einer warmherzigen, sorgenden, sanften und glücklichen Mutter können sie sich so gar nicht anfreunden, Muttergefühle wollen sich nicht einstellen und das Zusammenleben mit dem Erzeuger ist natürlich überhaupt keine Option. Das Leben sollte eigentlich so weiter gehen wie bisher, nur mit Kind. „Das sogenannte Draußen“ sagte ihnen bekanntlich noch nie etwas, aber nach Mirnas Geburt wurde es noch schlimmer. Einziger Kontakt zur Außenwelt sind die in Mirnas Augen „peinlichen“ Freundinnen, denen es auch nicht besser ergangen ist. Auch für sie wurde die Reproduktion zur „Frauenentsorgungsmaßnahme“. So glasklar und bitterböse kennen wir Sibylle Berg.

Was bleibt dann noch? Den Liebesbrief an David Guetta, den frau, wenn die nervige Tochter nachts im Bett ist, nach einem Gläschen zu viel in den Computer getippt hat, schickt sie dann doch lieber nicht ab. Deshalb scheint die Uckermark die last exit-Option zu sein: Gemeinsam mit den anderen depressiven Frauen, die „von der Lebensabwicklung genauso erschöpft sind“, und ihren soziopathischen Kindern eine Kommune im leider von Neonazis bevölkerten Umland gründen!

Sibylle Bergs neue Textcollage feuert die bissige Beschreibung der Neurosen einer frustrierten, alleinerziehenden Mittdreißigerin mit der Präsision eines Maschinengewehrs ins Publikum. Die giftig-funkelnden Sätze werden von den Schauspielerinnen manchmal ganz beiläufig dahin gesagt, meist aber mit kollektivem Aufstampfen herausgeschleudert. Regisseur Sebastian Nübling tat gut daran, auf schmückendes Beiwerk zu verzichten. Die Bühne ist leer. Im Mittelpunkt stehen der starke Text und die nicht weniger beeindruckenden Darstellerinnen. Gemeinsam mit Tabea Martin machte Nübling aus einer XXL-Kolumne eine gelungene Choreographie von Gift und Galle spuckenden Frauen.

Streit ums Politische an der Schaubühne: den populistischen Bewegungen auf der Spur

Die Flüchtlinge werden wohl bald wieder vor verschlossenen Türen stehen, prognostiziert der Soziologe Heinz Bude zum Auftakt der Gesprächsreihe „Streit ums Politische“, die an der Schaubühne in Kooperation mit der Vodafone-Stiftung fortgesetzt wird. Seine düstere Analyse: die gesellschaftliche Mitte droht zwischen wachsendem Prekariat und einer reichen Oberschicht zerrieben zu werden. Der demokratische Kapitalismus kann seine Versprechen kaum noch einlösen. Linke Volksparteien werden fast in ganz Europa zum Auslaufmodell, neue Bewegungen entstehen am rechten Rand.

Am ersten von vier Abenden, die sich mit dem „heimatlosen Antikapitalismus“ auseinandersetzen wollen, ist Claus Leggewie zu Gast. Der Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen engagierte sich in der 68er-Protestbewegung und hat die wissenschaftliche und öffentliche Debatte über gesellschaftliche Konflikte in den vergangenen Jahrzehnten mit zahlreichen Veröffentlichungen mitgeprägt.

In einer Tour d´horizon skizzierte Leggewie das antikapitalistische Denken der vergangenen anderthalb Jahrhunderte als ein „freiflottierendes“ Phänomen: Noch in den 1940er Jahren war Kapitalismuskritik auch in den westlichen Gesellschaften tief verwurzelt, ein bekanntes Beispiel ist das ganz der katholischen Soziallehre verpflichtete Ahlener Programm der CDU von 1947.

In den Nachkriegsjahrzehnten ist es gelungen, den Kapitalismus durch den Sozialstaat zu domestizieren und breite Bevölkerungsschichten am Wohlstand eines „Spätkapitalismus auf Pump“ teilhaben zu lassen: In den 1970ern kam es zu einem markanten Einschnitt: der Club of Rome und die Ökologiebewegung stellten die Frage nach den Grenzen des Wachstums. Maoistische und trotzkistische Kadergruppen debattierten an den Universitäten über die aus ihrer Sicht bevorstehende Revolution. Weltpolitisch setzte sich jedoch plötzlich die Deregulierungsphilosophie der Chicago-Schule in den Regierungsprogrammen von Thatcher und Reagan durch, China begann seinen langen Marsch in den Staatskapitalismus.

Leggewie zeichnete das Bild einer seit den 80er Jahren anhaltenden Dauerkrise. Gleichzeitig erstarkte der Populismus an den Rändern, vor allem dort ist der antikapitalistische Diskurs heute zu Hause. Die Front National-Vorsitzende Marine Le Pen wettert gegen die Ausbeutung billiger „Arbeitssklaven“, auf der linken Seite des politischen Spektrums wird Jeremy Corbyn mit seiner entschiedenen Absage an Tony Blairs „New Labour“-Kurs und der Forderung nach Verstaatlichungen der umjubelte Star der Urwahlen um den Parteivorsitz in Großbritannien.

An dem Abend dominierte die Ratlosigkeit, mit welchen Rezepten man diesem Populismus begegnen und kritisches politisches Denken wieder satisfaktionsfähig machen kann. Rückbesinnung auf die Rezepte von John Maynard Keynes? Oder eine sozial-ökologisches Modernisierung, die sich Rot-Grün auf die Fahnen geschrieben hatte, bevor Gerhard Schröder das Ruder übernommen hat?

Neues argentinisches Kino zwischen Wildnis und K-Gruppen-Intrigen

Tief in die ideologischen K-Gruppen-Debatten taucht auch El estudiante, der Debütfilm von Santiago Mitre aus dem Jahr 2011, ein. Roque (Esteban Lamothe), der zunächst mehr an Partys und seinen Kommilitoninnen als an politischen Diskussionen interessiert ist, gerät in ein Gewirr aus Intrigen und Machtspielen der Hochschulpolitik. Ständig wechselnde Allianzen und erbitterte Kämpfe um jede noch so klein erscheinende Meinungs-Differenz prägen die 110 Minuten dieses Films, der fast ausschließlich unter der Käseglocke einer universitären Parallelwelt spielt. Als Studie über einen jungen Mann, der die Winkelzüge politischer Strategie kennenlernt und mit Charme und Raffinesse nach und nach selbst anwendet, zeigt der Film einige vielversprechende Ansätze. Er kreist aber doch zu monothematisch um seine eigene kleine Welt, so dass er für ein breiteres Publikum kaum interessant ist.

Ein weiteres Beispiel für das Nuevo Cine Argentino , dem das Haus der Kulturen der Welt eine Reihe widmete, ist Los salvajes/Wild Ones. Der Hollywood Reporter war begeistert von der visuellen Kraft dieses Regie-Debüts, das Alejandro Fadel mit seinen Laiendarstellern in einer Nebenreihe des Festivals von Cannes 2012 präsentierte.

Der Film beginnt mit dem Gefängnis-Ausbruch junger Straftäter, die in den kommenden zwei Stunden durch dunkle Wälder irren und mehr oder minder erfolgreich ums Überleben kämpfen. Auch dieser Film versandet nach vielversprechendem Beginn in zu vielen Längen. Leider fehlt beiden Filmen die Wucht, die Relatos salvajes – Wild Tales zu Beginn des Jahres zu einem Kinoerlebnis machte.

„Back to Black“: Tänzeln um den Tod in der Box des Deutschen Theaters

Der Anfang des Abends wirkt fast wie ein Meditationskurs: die Box des Deutschen Theaters ist bis auf Notbeleuchtung abgedunkelt, mit sonorer Stimme fordern die drei DT-Ensemblemitglieder Katrin Wichmann, Markwart Müller-Elmau und Thorsten Hierse das Publikum auf, sich auf die Dunkelheit einzulassen und die kommenden 90 Minuten über Kopfhörer zu verfolgen.

Das Regie-Duo Auftrag: Lorey, das sich selbst an der Grenze zwischen Performance und installativer Kunst verortet, hat sein „Back to Black“-Experiment im Programmheft als Schule für die Wahrnehmung folgendermaßen theoretisch aufgeladen: „Die Dinge, die uns umgeben, sind nicht einfach da und müssen nur passiv wahrgenommen werden. Unser Gehirn konstruiert sie, indem es alle Sinneseindrücke miteinander verbindet, verarbeitet, filtert und formt. Mithilfe einer spezifischen Zuschauersituaton trennen Auftrag: Lorey die Ebene der akustischen Wahrnehmung von der visuellen. Dahinter steckt der Versuch, die Wahrnehmung darauf zu lenken, wie wir wahrnehmen und mit der gleichzeitigen An- und Abwesenheit von Sinnesinformationen zu spielen. Hier eröffnet sich mithilfe des Theaters ein Raum, unser Verständnis von Tod als kulturelles und geschichtlich bedingtes Konstrukt zu erkennen. Darin liegt die Chance, die eigenen Wahrnehmungsmuster und die Gestalt der eigenen Realität zu befragen.“

Als das Licht wieder angeht, geht der Abend zum Glück nicht so verquast weiter. Zunächst schildern die Schauspieler sehr persönliche Erlebnisse, wie sie mitten im Alltag mit dem Tod konfrontiert wurden. Katrin Wichmann erzählt von einem Workshop mit Flüchtlingskindern in diesem Sommer, bei dem ein Jugendlicher ertrank. Thorsten Hierse berichtet von einem Ausflug, bei dem seine Mutter plötzlich das Bewusstsein verlor und erst nach einigen Minuten wiederbelebt werden konnte.

Im Saal wurde es bei diesen traurigen Schilderungen sehr still. Die Schauspieler legen nun schnell den Schalter um und versuchen für den Rest des Abends, auf möglichst humorvolle Art um die Themen Sterben und Tod zu kreisen. Katrin Wichmann stimmt den Gute-Laune-Song Dumb Ways to die an, ihre beiden Mitstreiter schlenkern mit ihren Armen und Beinen – genauso wie die Animationsfiguren im Video. So leichtfüßig tänzeln die Drei um ihr Thema auch im Rest des Abends herum, der streckenweise aber zu leichtgewichtig daherkommt.

Assoziativ kommen sie vom Hundertsten ins Tausendste, springen von den Sterbeszenen, die sie schon immer mal spielen wollten, über die letzten Worte und Mahlzeiten in US-Todeszellen zu einem weiteren Web-Video, das eine Anleitung gibt, wie man den eigenen Tod fingiert und dann – am besten in der Ostukraine – untertaucht. Wir erfahren außerdem, dass das Kunstblut am Deutschen Theater nach Himbeere schmeckt. Ganz basisdemokratisch wurde das ausdiskutiert, zur Auswahl standen noch die Geschmacksrichtungen Erdbeere und Pfefferminz.

Während Thorsten Hierse im Kugelhagel zu Boden sinkt und sich langsam eine Kunstblutlache um ihn herum ausbreitet, fragen sich seine Kollegen Katrin Wichmann und Markwart Müller-Elmau gegenseitig, was sie unbedingt noch erleben möchten, bevor sie sterben: ein Jahr in Paris leben, in einem Kostümschinken á la „Sissi“ mit wallenden, schönen Kleidern mitspielen, lange Gespräche mit guten Freunden führen. Als das Ping-Pong nach einigen Runden endet, hat das Publikum einen streckenweise unterhaltsamen Abend überstanden, der sein Thema nicht recht zu fassen kriegt, aber uns immerhin mit der interessanten Frage in den Herbst-Abend entlässt: Was will ich vor dem Sterben unbedingt noch erleben?

Harald Schmidt meldet sich zurück und befasst sich mit dem Schwankenden Westen

Wann haben wir eigentlich das letzte Mal etwas von Harald Schmidt gehört? In diesem Jahr, in dem sich die Schlagzeilen nur so überschlagen, wird so richtig klar, welche Leerstelle er hinterlassen hat. Harald Schmidt fehlt mit seiner bissigen, manchmal auch zynischen, immer lebensklugen Rundschau über die Aufgeregheiten des Politikberiebs und mit seinem Spott über aufgeblasene Nichtigkeiten im Medienbusiness und Kunstgewerbe.

Am Donnerstag Abend durften wir ihn auf Einladung des C.H.Beck-Verlags im Auditorium Friedrichstraße erleben. Es war absehbar, dass er sich bei der Buchvorstellung von Schwankender Westen des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo di Fabio nicht brav auf die Rolle des Stichwortgebers beschränken würde. Harald Schmidt lief sich im Lauf des Abends wieder warm, setzte hier einen kleinen Nadelstich mit einer Anekdote über die schon fast vergessenen „Stuttgart 21“-Wutbürger, ließ dort eine kleine Sotisse aus dem Gehege seiner Zähne fallen.

Ansonsten bot der Abend wenig Neues: in gewohnt selbstverliebter Art zitierte Udo di Fabio seine bekannten Stichworte von Pico della Mirandola bis zur normativen Doppelhelix. Wer wollte seiner Gegenwartsanalyse widersprechen, dass wir uns in einem merkwürdigen Schwebezustand zwischen Hoffnung und Angst, zwischen Öffnung der Grenzen und neuen Kontrollen befinden?

Schmidt und di Fabio endeten am selben Punkt wie Leggewie und Bude: der Druck der Populisten macht es den „Krawattenträgern“ und „Eliten“ schwerer, auf die Krisen besonnen zu reagieren. Di Fabio konstatierte „Verkantungen“ und fragte bang, ob die Stabilitätskultur der gesellschaftlichen Mitte noch tragfähig sei.

Das Selbstbewusstsein der westlichen Gesellschaften sei durch Finanz- und Staatsschuldenkrise erschüttert, die Träume á la Francis Fukuyama von einer Idylle nach 1989 geplatzt. Als Ausweg hatte di Fabio nur anzubieten, dass wir unser kulturelles Erbe besser kennenlernen und unserer Identität selbstvergewissern müssten: das sind natürlich Steilvorlagen für weitere bohrende Sticheleien von Schmidt, der mit Seitenhieben und Anekdoten die Frage umkreiste, was sich denn nun eigentlich hinter den Schlagworten vom kulturellen Erbe des Westens und der Aufklärung verberge.

Der Text ist zuerst hier erschienen: http://kulturblog.e-politik.de

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