In den Fängen von Sekten, Kirche und Religion

Kino-Highlights "Mustang" erzählt vom Ausbruch türkischer Mädchen. "Colonia Dignidad" beschreibt die Mechanismen einer Sekte. "Spotlight" arbeitet Missbrauch katholischer Priester auf.

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In den Fängen von Sekten, Kirche und Religion

Foto: Majestic / Ricardo Vaz

„Mustang“: packender Film über den Ausbruch von türkischen Mädchen aus ihrem Gefängnis

„Vorher waren wir frei und plötzlich wurde alles Scheiße“. So beginnt Lale (Güneş Nezihe Şensoy), ein Mädchen irgendwo tief in der türkischen Provinz, 1.000 km von Istanbul entfernt, ihren Bericht.

Mit dem Sommerferien-Spaß am Strand ist es für sie und ihre vier älteren Schwestern bald vorbei. Als sich eine Nachbarin über harmlose Spiele empört, bauen die Großmutter und der Onkel, bei denen die Mädchen nach dem Tod ihrer Eltern aufwachsen, ihr Haus zu einem lustfeindlichen Gefängnis um. Ein Stacheldrahtzaun wird errichtet und vom Computer bis zu Postern alles entfernt, was nur entfernt an westlichhe Konsumkultur und Hedonismus erinnert. Die Schwestern werden in „hässliche, kackbraune Kleider“ gesteckt, wie Lale kommentiert, und in einer „Hausfrauenfabrik“ von der Welt abgeschirmt. Ihr ganzer Daseinszweck ist es, eine fromme Ehefrau zu werden. Eine nach der anderen wird zwangsverheiratet. Besonders demütigend sind die Jungfrauentests, denen zwei Schwestern im Lauf des Films unterzogen werden.

Die Regisseurin Deniz Gamze Ergüven erzählt packend und in beeindruckenden Bildern vom Schicksal der Mädchen. Immer wieder gelingen ihr trotz des bedrückenden Themas auch komische Momente, z.B. als die Frauen im Dorf gemeinsam dafür sorgen, dass der verbotene Ausflug der Mädchen zu einem Fußball-Match unentdeckt bleibt.

„Mustang“ ist ein erstaunlich reifer Debütfilm einer Regisseurin, die 1978 in Ankara geboren ist und als Diplomatentochter in der Türkei, Frankreich und den USA aufwuchs. Bei der Premiere in Cannes gewann dieses Sozialdrama, das von französischen und deutschen Sendern wie ZDF und arte co-produziert wurde, zwei Preise in der Quinzaine des Réalisateurs, darunter den Preis des Europäischen Parlaments. Am Sonntag schaffte es der Film bis in die Endrunde der fünf Oscar-Kandidaten für den besten nicht-englischsprachigen Film.

Dieses beeindruckende Drama ist ein Höhepunkt des Kinojahres, den man auf keinen Fall verpassen sollte. In der Geschichte der Mädchen, die entfernt an Sofia Coppolas ebenso glänzendes Debüt „Virgin Suicides“ (1999) erinnert, spiegelt sich die Lage der Türkei: zerrissen zwischen westlichem Lebensstil in den weltoffenen Vierteln der Metropole Istanbul, wo dieser Film nach dem geglückten Ausbruch endet, und den rigiden islamischen Moralvorstellungen, wie sie auch von der AKP propagiert werden.

Bemerkenswert ist außerdem die Nebenrolle von Burak Yiğit: in zahlreichen TV-Produktionen, vorzugsweise im „Tatort“, trat er als Ganove oder Dealer auf. Auch in Sebastian Schippers Kinohit „Victoria“ war er noch auf diese Rolle festgelegt. Im „Mustang“ spielt er als LKW-Fahrer Yasin einen der wenigen Sympathieträger in diesem Film. Der große Erfolg von „Mustang“ ist vielleicht für den deutsch-türkischen Schauspieler die Chance, aus der Schublade seiner Klischeerollen so erfolgreich auszubrechen, wie es Lale und einer ihrer Schwestern gelingt.

Der Film startete am 25. Februar in den deutschen Kinos: Webseite und Trailer zum Film

Politthriller „Colonia Dignidad“: Daniel Brühl und Emma Watson in den Fängen einer Sekte

Aus einem albtraumhaften Gefängnis müssen auch die beiden Hauptfiguren Daniel (Daniel Brühl) und Lena (Emma Watson) im Thriller „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ fliehen.

Dieses Liebespaar ist fiktiv: Daniel ist ein politisch engagierter deutscher Student, der nach Chile kam, um den Präsidenten Salvador Allende zu untersützen. Seine Freundin Lena arbeitet als Stewardess und trifft ihn regelmäßig bei Zwischenstopps.

Der Ort, an den Daniel nach dem Militärputsch von General Pinochet am 11. September 1973 verschleppt wird, ist dagegen sehr real: Das 30.000 Hektar große Gelände der „Colonia Dignidad“ wurde von Paul Schäfer hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt. Als Anführer einer evangelisch-fundamentalistischen Sekte herrschte Schäfer (von Mikael Nyqvist glänzend gespielt) mit einem sadistischen Terrorregime über seine Jünger: Frauen, Männer und Kinder waren streng getrennt. Harte Arbeit und brutale Strafen waren an der Tagesordnung. Für den sexuellen Missbrauch an Jungen wurde Schäfer 2004 in Chile zu 20 Jahren Haft verurteilt, im April 2010 starb er im Gefängnis von Santiago. In einem weiteren Prozess gestand Gerhard Mücke, ein ehemaliges Führungsmitglied der Sekte, im Juli 2006, dass 22 Regimegegner nach dem Putsch in der Colonia Dignidad ermordet und anschließend verbrannt worden waren.

Über diese Schreckenswelt wurde zu lange geschwiegen: Nicht nur Pinochet hielt seine schützende Hand über Schäfer und die Colonia Dignidad. Auch der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß war dort zu Gast, sein signiertes Porträt hing dort angeblich noch bis Mitte der 90er Jahre.

Die Stärke von Florian Gallenbergers Film ist es, dass er die brutalen Mechanismen dieser abgeschotteten Sekte sehr genau beschreibt und in eine packende Thriller-Handlung einbaut. Bemerkenswert ist an diesem Film auch, wie er die Rolle des Auswärtigen Amtes und des deutschen Botschafters (gespielt von August Zirner) thematisiert. Wie im Film angedeutet, hatten deutsche Diplomaten während der Diktatur die Colonia Dignidad teilweise in Schutz genommen. Personen, die aus der Siedlung fliehen konnten, wurde nicht ausreichend geholfen, so dass sie von Führungsmitgliedern wieder in die Colonia Dignidad zurückgebracht wurden. Vor einigen Tagen organisierte das Haus der Wannseekonferenz eine Sondervorführung in Berlin, zu der auch Opfer der chilenischen Diktatur und Bewohner der Colonia Dignidad eingeladen waren. Vertreter des Auswärtigen Amtes sagten dort zu, sich an der Aufarbeitung der Geschehnisse zu beteiligen.

Der von Pro7 und Sky co-produzierte Politthriller hat jedoch auch einige nicht zu übersehende Schwächen: die Liebesgeschichte ist vor allem im ersten Drittel zu melodramatisch geraten, die Streicherklänge sind zu dick aufgetragen. Auch manche Szenen im Action-Plot sind etwas zu effekthascherisch inszeniert.

Trotz dieser Mängel ist Florian Gallenberger ein bemerkenswerter Film zu einem wichtigen Thema gelungen. Um den Kurzfilm-Oscargewinner („Quiero ser“) von 2001 war es in den vergangenen Jahren still geworden, seine letzte Regiearbeit „John Rabe“ kam bereits 2009 ins Kino. Auf seine nächsten Projekte dürfen wir gespannt sein.

Der Film „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ startete am 18. Februar in den Kinos: Webseite und Trailer zum Film

Denkmal für Investigativ-Reporter und Anklage gegen sexuellen Missbrauch: Oscar-Gewinner „Spotlight“

Ebenso wie Florian Gallenberger in „Colonia Dignidad“ widmet sich auch Tom McCarthy in „Spotlight“ einem gesellschaftlichen Missstand, der zu lange unter den Teppich gekehrt wurde. McCarthy geht aber einen ganz anderen Weg: statt eines actionreichen und zugleich melodramatischen Thrillers entschied sich McCarthy wie in seinen früheren Filmen „Station Agent“ und „Ein Sommer in New York – The Visitor“ für leise Töne.

Sein Thema ist der sexuelle Missbrauch katholischer Priester: in Deutschland kam der Skandal erst 2010 in einer Welle von Enthüllungen ans Licht. Die USA wurden schon 2002 wachgerüttelt, maßgeblich ist dies dem „Spotlight“-Team für Investigativ-Recherche der Tageszeitung „Boston Globe“ zu verdanken, das mit dem Pulitzer-Preis 2003 ausgezeichnet wurde.

Akribisch zeichnet der Kinofilm die damaligen Vorgänge nach: ein neuer Chefredakteur (gespielt von Liev Schreiber) kommt zur Zeitung. Er gibt seinen Investigativ-Experten nicht nur die nötige Rückendeckung, der Kirche und vor allem dem Erzbischof Bernard Law im katholisch-irisch geprägten Boston unangenehme Fragen zu stellen, sondern spornt das Team zu Beginn erst richtig an.

Der Film bleibt nah an dem Recherche-Team (Michael Keaton, der die Hauptrolle in „Birdman“, Oscar-Gewinner von 2015, spielte, Rachel McAdams und Mark Ruffallo). Er erzählt von ihren Zweifeln und Rückschlägen, aber auch von ihren Erfolgserlebnissen, ein neues Puzzle-Teil entdeckt zu haben. Täter- und Opferperspektive kommen nur am Rande vor.

Nicht nur der gesellschaftskritische Inhalt, sondern auch der Stil erinnern an das sogenannte „New Hollywood“ in den 70ern, vor allem an den Watergate-Film „Die Unbestechlichen“, der 1977 vier Oscars bekam. Das Erzähltempo von McCarthy ist fast so langsam wie damals, er verzichtete bewusst auf jede Emotionalisierung des Publikums druch dramatische Effekte. Stattdessen vertraute er ganz auf die Fakten, die der Boston Globe hier in einem Online-Dossier inklusive der Original-Artikel von 2002 zusammenstellte.

„Spotlight“ ist ein ungewöhnlicher Gewinner der Oscar-Königsklasse als Bester Film 2016 und wurde schon bei seiner Premiere in Venedig 2015 gefeiert. Er setzt den Journalisten, die den Skandal aufdeckten, ein Denkmal, weist aber deutlich auf jahrelange Versäumnisse hin: Frühere Hinweise waren abgetan, Missbrauchs-Betroffene als „Spinner“ und Querulanten nicht ernstgenommen worden.

Im Abspann zählt „Spotlight“ seitenlang die Orte weltweit auf, an denen Kinder und Jugendliche von Priestern missbraucht wurden: ein sehenswerter Film zu einem wichtigen Thema, der auch beispielhaft zeigt, wie existentiell die als „Lügenpresse“ diffamierten unabhängigen Qualitätsmedien für eine funktionierende Demokratie sind.

Der Film „Spotlight“ läuft seit 25. Februar in den Kinos: Webseite und Trailer

Der Beitrag ist zuerst hier erschienen: http://kulturblog.e-politik.de/

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