Klingeln im Prenzlauer Berg: "Wodka-Käfer"

Recherchetheater Mit ganz einfachen Mitteln stellte das Deutsche Theater Berlin bei seiner letzten Produktion vor Weihnachten einen interessanten Theaterabend auf die Beine.

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Anne Jelena Schulte klingelte an den Türen eines Altbaus im Prenzlauer Berg, unterhielt sich mit den Bewohnern und verdichtete die Quintessenz ihrer Gespräche zum Theaterstück „Wodka-Käfer“.

Auf die Idee zu dieser Klingel-Recherche-Expedition brachte Schulte der Reportageband „Berliner Mietshaus“ aus dem Jahr 1980. Vor 36 Jahren verwickelte Irina Liebmann die Bewohner desselben Mietshauses im damaligen Ost-Berliner Arbeiter- und Dissidenten-Bezirk Prenzlauer Berg in Gespräche an der Haustür oder in der Küche mitten im „Bratkartoffelgeruch des Alltags“.

Die Stärke dieses Abends ist es, dass er präzise Momentaufnahmen aus dem Prenzlauer Berg liefert, über den so viele Klischees von Latte Macchiatto-Müttern bis Bioladen-Bionade-Schwaben kursieren. Gabriele Heinz und Barbara Schnitzler, zwei große Damen des DT-Ensembles, wechseln sich mit Olivia Gräser und Jonas Vietzke ab, die Hausbewohner zu verkörpern: den alleinerziehenden Architekten Peter, der sich mit Minijobs über Wasser hält. Die in der DDR aufgewachsene Pharmaassistentin Katja, die sich von Zeitvertrag zu Zeitvertrag hangelt, es aber in der geerbten Eigentumswohnung in Lichterfelde nicht aushielt. Die gerade aus Hamburg zugezogene Startup-Kreativagentur-Beraterin Steffi, die Berlin so supercool findet, aber bisher keine sozialen Kontakte aufbauen konnte. Der Punksänger Mark, der von der Kreuzberger Hausbesetzer-Szene geprägt ist und sich mit seiner Partnerin, einer Schauspielerin, die als Sekretärin jobbt, und zwei im Hintergrund zankenden Kindern mehr schlecht als recht über Wasser hält. Astrid, die Tischlerin mit dem Faible für Astrologie, die sich wie eine Billardkugel fühlt, da sie wesentliche Lebensentscheidungen ihren wechselnden Männern überlassen hat, die sie nach Belieben hin und herschubsen. Die junge Mutter Steffi, die von Panikattacken geplagt wird, sobald sie S-Bahn fährt, und sich deshalb am liebsten mit dem kleinen Kind in ihrem Nest verkriecht.

Erst ganz am Ende landet der Abend bei Prototypen, wie sie durch Prenzlauer Berg-Klischees geistern: bei der schwäbischen Architektin Cordula und ihrem Mann, die eine Sechs-Zimmer-Wohnung großzügig umgestaltet haben. Neben ihren repräsentativen Coffee Table Books und ihren klavierspielenden Kindern liegt ihr vor allem eine Bürgerinitiative am Herz, mit der sie sich bislang vergeblich für eine verkehrsberuhigte Straße einsetzt.

Diese Porträts aus dem Prenzlauer Berg von heute werden von Livemusik (Ingo Schröder) untermalt und in der Regie von Brit Bartkowiak mit nachgespielten Szenen aus dem Jahr 1980 gespiegelt. Auf der Video-Leinwand erleben wir beispielsweise Vietzke und Gräser, wie sie ein junges Paar Anfang 20 spielen, das voller Stolz auf die eigene Wohnung die Parolen des Arbeiter- und Bauern-Staates nachbetet, aber schon bei ersten zaghaften Nachfragen der Interviewerin rat- und sprachlos wird.

Als Faktotum geistert außerdem ein Kammerjäger über die Bühne: Michael Gerber schildert, wie sehr sich der Prenzlauer Berg in den Jahrzehnten gewandelt hat und belegt dies ganz praktisch an den unterschiedlichen Maßnahmen zur Schädlingsbekämpfung. Bei einem seiner letzten Auftritte lüftet er auch das Geheimnis, was es mit dem Titel auf sich hat: der „Wodka-Käfer“ ist eines seiner Lieblingsinsekten.

Nach manchen Enttäuschungen in dieser Spielzeit ist mit „Wodka-Käfer“ in der Box des Deutschen Theater ein kleiner, feiner Abend gelungen. Er unterhält mit seinen zu amüsanten Szenen verdichteten Wohnzimmer-Interviews und zeichnet ein angenehm differenziertes Bild des vielgescholtenen Bezirks, über den sich in einigen Köpfen vorschnelle Urteile verfestigt haben.

Der Text ist zuerst hier erschienen: http://kulturblog.e-politik.de

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