Rückblick auf die Berlinale 2018

Festival-Kritik Die 68. Berlinale ist Geschichte. Was bleibt von diesen zehn Tagen?

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Eine Bilanz ist kaum möglich: Das Festival ist mit seinen vielen Sektionen derart ausgeufert, dass es faktisch unmöglich ist, mehr als nur einen Bruchteil der knapp 400 Filme zu sehen. Dies ist auch einer der zentralen Kritikpunkte an der Ära des Berlinale-Chefs Dieter Kosslick, die im nächsten Jahr enden wird: Statt kuratorischer Sorgfalt und des Prinzips „Klasse statt Masse“ muss sich der Berlinale-Zuschauer erst mal durch das wildwuchernde Gestrüpp verschiedener Sektionen schlagen und aus zu vielen mittelmäßigen oder zweitklassigen Filmen die Perlen herausfischen.

Ein Berlinale-Rückblick kann deshalb immer nur eine subjektive Rückschau auf die ausgewählten Filme und Schwerpunkte sein. Ich habe mich auf den Wettbewerb um die Bären und das Panorama konzentriert, das nach dem Ausscheiden von Wieland Speck von einem neuen Trio geleitet wird.

Zunächst zum Wettbewerb: Das Startwochenende bot zwar einigen Glamour mit Robert Pattinson, Bill Murray, Scarlett Johansson und Isabelle Huppert. Nach dem schönen Eröffnungsfilm „Isle of Dogs“, für den Wes Anderson zurecht einen Silbernen Bären für die Beste Regie gewann, war das Niveau jedoch erschreckend schwach. Filme wie „Eva“ enttäuschten auf ganzer Linie. Der zweite große Vorwurf an Berlinale-Chef Dieter Kosslick ist, dass Berlin gegenüber den beiden anderen großen A-Festivals in Cannes und Venedig deutlich ins Hintertreffen geraten ist.

Erst in der zweiten Hälfte des Festivals stieg die Qualität des Wettbewerbs an. Eine klare Empfehlung kann ich z.B. für „In den Gängen“ von Thomas Stuber aussprechen. Mit viel Sinn für Rhythmus und Musikalität komponierte der Regisseur, um den es nach seinem tollen „Teenage Angst“-Debüt (2008 in der Perspektive Deutsches Kino) stiller geworden war, ein Kammerspiel zwischen den Regalen eines Großmarkts in der ostdeutschen Provinz.

Franz Rogowski als wortkarger, linkischer Christian (ein Figurentypus, auf den er seit „Love Steaks“ abonniert ist), Peter Kurth als sein Vorarbeiter Bruno und vor allem Sandra Hüller als Marion aus der Süßwarenabteilung bieten ein sehenswertes Porträt von drei Menschen, die sich abtasten, meist nur sehr lakonisch miteinander reden und nach ein bisschen Glück in ihrem Alltag suchen. Bis auf das etwas zu dick aufgetragene Ende war „In den Gängen“ vor allem wegen der präzisen Dialoge und des starken Hauptdarsteller-Trios eines der Highlights im Wettbewerb, ging aber bei der Preisverleihung leer aus.

Die Jury um Tom Tykwer traf einige sehr überraschende Entscheidungen und rückte Außenseiter ins Zentrum der Aufmerksamkeit. „Touch me not“ der rumänischen Regisseurin Adriana Pintile hatte wohl kaum einer auf der Rechnung. Ihr Film knüpft thematisch dort an, wo „On Body and Soul“, der ungarische Goldene Bären-Gewinner des Vorjahrs, aufgehört hat. Auch ihr geht es um Menschen, die sich hinter hohen Mauern eingepanzert haben. Sexualität, Körperlichkeit und Emotionen sind für viele Protagonisten von „Touch me not“ fremde Kontinente, die sie mühsam erkunden.

Pintile setzt bei ihrem Langfilm-Debüt darauf, das Publikum zu verstören. In Großaufnahme gefilmte nackte Körper und der Speichelfluss eines Behinderten dominieren die ersten Minuten des Films. In den folgenden knapp zwei Stunden folgt der Film u.a. Laura Benson, die sich mit Callboys und Sexualtherapeuten Schritt für Schritt herantastet, intime Situationen erleben zu können, und Christian Bayerlein, der trotz seiner körperlichen Beeinträchtigung Wege gefunden hat, seine Lust facettenreich auszuleben.

Nicht nur wegen seiner stark am Dokumentarischen orientierten Form wirkt „Touch me not“ wie ein Fremdkörper im Wettbewerb: das Experimentelle, Ungeschliffene ist sonst die Domäne des Forums der Berlinale. Das Ausloten der Grenzbereiche und Spielarten der Sexualität hat sich das Panorama auf die Fahnen geschrieben.

Eine erste Überraschung war, dass dieser Film überhaupt im Berlinale-Palast im Rahmen des glamourösen Wettbewerbs lief. Als zweite Überraschung kam hinzu, dass Pintile nicht nur den Preis für den besten Erstlingsfilm, sondern auch den Goldenen Bären entgegennehmen durfte.

Ein weiterer Außenseiter war „Las Herederas/Die Erbinnen“ von Marcelo Martinessi. Dieser erste Wettbewerbs-Film aus Paraguay wurde mit Unterstützung von ZDF und arte produziert und erzählt auf eine sehr leise Art von einem lesbischen Paar. Chela und ihre Haushälterin Chiquita sind in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Während Chiquita eine Gefängnisstrafe wegen Betrugsvorwurfs absitzt, hält sich Chela damit über Wasser, dass sie ihren Freundinnen aus der Oberschicht Fahrdienste anbietet. Dabei verliebt sie sich in die wesentlich jüngere Angy.

„Las Herederas“ ist kein schlechter Film, aber mit zwei Preisen von der Jury überbewertet: Außer der Hauptdarstellerin Ana Brun (als Chela) gab es mit dem Alfred Bauer-Preis noch einen weiteren Silbernen Bären, der „neue Perspektiven der Filmkunst“ prämiert, die in diesem sehr konventionell erzählten Sozialdrama aber zu wenig zu spüren waren.

Auch der Silberne Bär für das beste Drehbuch war eine umstrittene Entscheidung: „Museo“ von Alonso Ruizpalacios beginnt als klassisches Kunstraub-Drama über einen Einbruch ins Nationalmuseum für Anthropologie in Mexiko-City. Die Idee, mit verschiedenen Genres zu spielen, geht aber nicht auf. Vor allem in der zweiten Hälfte verzettelt sich der Film zu sehr.

Ein weiterer Silberner Bär ging an den polnischen Film „Twarz/Gesicht“ von Malgorzata Szumowska, die bereits mehrfach auf der Berlinale zu Gast war. Ihre satirische Abrechnung mit Rechtskonservativen und Katholiken in ihrer Heimat ist leider oft holzschnittartig. Schon die erste Sequenz ist eine platte Kritik am Konsumrausch: Im Winterschlussverkauf drängeln sich die Schnäppchenjäger vor der Tür und rennen dann in Unterwäsche zu den Wühltischen, um von einer Rabattaktion zu profitieren. Die Figuren sondern antisemitische, rassistische, homophobe Stammtischparolen ab und werden sehr eindimensional gezeichnet.

Neben diesen Filmen hätte sich auch „Das schweigende Klassenzimmer“ nicht verstecken müssen. Dieses sehenswerte Zeitgeschichts-Drama mit talentierten Hauptdarstellern von der Ernst Busch-Schauspielschule feierte kurz vor dem Kinostart als Berlinale Special außerhalb des Wettbewerbs Premiere.

Ein schräger Farbtupfer im Wettbewerb war die Groteske „Khook“, die als iranisches Pendant zu „The Square“ den Eitelkeiten der Filmbranche den Spiegel vorhält. Dieser Film von Mani Haghighi war wesentlich zugänglicher als sein vorheriges Werk und auch weniger rätselhaft als „Hojoom/Invasion“ seines Landsmanns Shahram Mokri. Unter düsteren Nebelschwaden und mit raunenden Anspielungen auf ein Reich des Bösen und eine gute Seite wird nach einem Mordfall in einem Stadion ermittelt. Dieser Film im Panorama ist atmosphärisch dicht, aber mit allegorischen Motiven (Zwillinge, Vampire, etc.) und Loops zu überfrachtet.

Zu den stärkeren Filmen im Panorama zählte nach dem enttäuschenden Auftakt mit „River´s Edge“ der zweite japanische Film dieser Sektion: „Yocho/Foreboding“ von Kiyoshi Kurosawa, einem häufigen Gast internationaler Festivals, ist ein philosophisch angehauchter Alien-Thriller und basiert auf dem Theaterstück „Before we vanish“ von Tomohiro Maekawa. Ohne spektakuläre Effekte, aber dennoch wirkungsvoll erzählt Kurosawa in seinem Film von Etsuko, die als einzige spürt, dass der neue Arzt in der Klinik ihres Mannes der Vorbote von Außerirdischen ist. Er stiehlt einzelnen Menschen Konzepte wie „Familie“, „Würde“ oder „Angst“, die seiner Zivilisation fremd sind, und lässt seine Opfer völlig verunsichert zurück: eine Frau erkennt zum Beispiel ihren Vater nicht mehr wieder.

„Yocho“ spielt mit dystopischen Motiven wie einer großen Sintflut und der Invasion außerirdischer Lebensformen. Am Drehbuch schrieb Hiroshi Takahashi mit, dessen Horrorfilm „Ring“ von Hollywood adaptiert wurde.

Ästhetisch überzeugend, aber inhaltlich etwas banal war „Tinta bruta“: Das brasilianische Regie-Duo Marcio Reolon und Filipe Matzembecher war nach seinem Debüt „Beira-mar“ (2015) zum zweiten Mal auf der Berlinale zu Gast und wurde mit dem Teddy für den besten queeren Spielfilm ausgezeichnet. Sie erzählen von zwei Tänzern, die ihr Geld mit Shows vor der Webcam verdienen, bei denen sie sich mit Neon-Farben bemalen und in Szene setzen. Aus anfänglicher Rivalität wird eine gelungene Symbiose, die erwartungsgemäß am Ende zerbricht und einen Enttäuschten zurücklässt, während sein Partner mit einem Stipendium nach Berlin aufbricht.

Unter den Dokumentationen war „Partisan“ von Lutz Pehnert/Matthias Ehlert/Adama Ulrich sehenswert. Das Trio lässt die 25 Jahre der Ära Frank Castorf an der Volksbühne am Rosa Luxemburg-Platz Revue passieren, der Ivan Nagel damals prophezeite, sie werde in drei Jahren entweder tot oder berühmt sein. Die anfängliche Befürchtung, dass der Film ein reiner Nostalgie-Trip oder – wie bei Dokus oft üblich – nur eine Parade von „Talking Heads“ auf dem Sofa im Foyer werden könnte, hat sich zum Glück nicht bewahrheitet. „Partisan“ präsentiert rares Archivmaterial aus dem ersten Jahrzehnt von Castorfs Intendanz und gibt spannende Einblicke zu seiner großen Abschieds-Inszenierung, dem „Faust“, der beim Theatertreffen im Mai noch mal zu sehen sein wird.

Wenn Kathrin Angerer, Herbert Fritsch, Henry Hübchen, Sophie Rois, Alexander Scheer, Lilith Stangenberg oder Martin Wuttke über prägende Erlebnisse sprechen, wird es garantiert nicht langweilig. Die besten Momente gehören dabei Rois, die mit hochgezogenen Augenbrauen alte Zeitungs-Verrisse kommentiert, sowie Fritsch und Hübchen, die ihr spannungsreiches Verhältnis zu Castorf reflektieren. Bis auf einen einsamen „Dercon muss weg“-Rufer blieb es nach der aufgeheizten Volksbühnen-Diskussion der vergangenen Jahre auch angenehm ruhig.

Berlinale-Bilanz mit Bildern

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