"Staat" von Rimini Protokoll

Theater-Kritik In einer Tetralogie beleuchten Rimini Protokoll verschiedene Facetten von Demokratie und Staatlichkeit. Ich habe mich für Teil 1,3 und 4 entschieden.

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In „Staat 1: Top Secret International“ schickt Rimini Protokoll die Zuschauer mit Kopfhörern und Ortungsgeräten durch die Sammlungen des Neuen Museums auf der Museumsinsel. Wir mischen uns unter die Touristenmengen, die sich vor der Nofretete-Büste stauen, und bekommen Anweisungen, wie wir uns im Strom zu verhalten haben.

Unterwegs begleiten uns Soundbites eines Ex-BND-Chefs („Es gibt keinen sauberen Nachrichtendienst; es wird gelogen, verraten, betrogen, korrumpiert“) oder von André Hahn, dem Vertreter der Linken-Fraktion im PKGr (Parlamentarisches Kontrollgremium der Geheimdienste), der sich darüber beklagt, dass ein Großteil der angeforderten Akten geschwärzt ist und seine Aufklärungsarbeit somit einem Stochern im Nebel gleichkommt.

Die Info-Häppchen aus der Welt der Geheimdienste begleiten einen anregenden Spaziergang durch die antiken Sammlungen, werden aber zu oft durch alberne Spielchen unterbrochen. Die Route des Parcours ist technisch ausgetüftelt, stößt aber beim geplanten Treffen mit einem Kontaktmann an ihre Grenzen, weil zu viele Spieler gleichzeitig ankommen und sich Zeichen geben.

Mit künstlicher Intelligenz und Abstimmungen befasst sich „Staat 3: Träumende Kollektive, Tastende Schafe“. Die beiden Schauspieler Kostis Kallivretakis und Vassilis Koukalani führen launig durch eine Zeitreise ins Jahr 2048. Die Zuschauer werden aufgefordert, recht abstrakte Fragen zu beantworten und damit IRIS zu füttern. Aus den Ergebnissen formieren sich Duos und Kleingruppen. Nach einem ähnlichen Prinzip funktionierte z.B. auch »Pendiente de voto« von Roger Bernat (Barcelona), das 2017 beim FIND-Festival der Schaubühne gastierte, aber sowohl die unterhaltsameren Fragen zur Abstimmung stellte, als auch mehr Ecken und Kanten bot.

Das Interessanteste an „Staat 3“ waren die kurzen Bezüge auf das griechische Referendum vom 5. Juli 2015, als die Mehrheit gegen das mit EU, EZB und IWF ausgehandelte Paket stimmten. Das Abstimmungsergebnis wurde jedoch dadurch konterkariert, dass das griechische Kabinett umgebildet wurde und nur wenige Tage später im Europäischen Rat ein Paket verabschiedet wurde, das den abgelehnten Forderungen ähnelte. Das wäre ein guter Anlass gewesen, weiter über Möglichkeiten und Grenzen direkter Demokratie und den enormen medialen Druck der Ja-Kampagnen, unter dem die Nein-Sager damals standen, nachzudenken. Leider wurden diese Stränge von Rimini Protokoll aber nur kurz angetippt und nicht vertieft.

An der glänzenden Oberfläche des World Economic Forums (WEF) in Davos kratzte auch „Staat 4: Weltzustand Davos“. Unter jedem Sitz findet sich eine kleine Broschüre mit den Infos, welchen CEO man in den nächsten zwei Stunden verkörpert. Die Zuschauer werden bis auf kurzen Small-Talk mit den „Experten des Alltags“ vor dem Start aber kaum noch ins Geschehen einbezogen. Unsere Rolle beschränkt sich darauf, die Seiten im Katalog umzublättern und das Foto oder den Umsatzchart zur ovalen Spielfläche zu halten.

Auch „Staat 4“ bietet einige interessante Info-Häppchen. Eine Schlüsselrolle kam Ganga Jay Aratnam zu, bei dem sich mehrere Erzählstränge kreuzten. Als Soziologe erforscht er die Auswirkungen des Rohstoffhandels, die er am Beispiel von Glencore deutlich machte. Plastisch schilderte er, wie die Grundstückspreise am Firmensitz in Zug nach oben schnellen, wovon auch die Familie profitierte, in die er einheiratete, während die Preise im Abbaugebiet in Sambia steil fallen. Dort kam er auch mit dem Tuberkulose-Erreger in Kontakt: die Überleitung zur zweiten Assoziation, die mit Davos verbunden ist, den Sanatorien aus Thomas Manns „Zauberberg“.

Die zwei Stunden enden mit einem kleinen Eishockey-Match, bei dem die Vertreter der multinationalen Konzerne gegen die Staaten gewinnen, und liefern manche amüsante Anekdoten, für die vor allem der sympathisch-schlitzohrige ehemalige Landammann (vergleichbar einem Bürgermeister) von Davos, Hans-Peter Michel aus einer Bergbauernfamilie, zuständig war.

Der Erkenntnisgewinn fiel aber recht gering aus. Rimini Protokoll konnte mit diesen Arbeiten nicht an ihre überzeugendsten Produktionen anknüpfen, mit denen sie mehrfach zum Theatertreffen eingeladen waren.

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