Iranischer Zeitgeist

Märtyrerbilder Märtyrer sind nationales Kulturgut im Iran. Wie sich das Bild der Märtyrer im Iran wandelt: Eine Einführung von Christian Funke, Islam- und Religionswissenschaftler

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Der eigene Körper als Opfergabe. Bild im Museum der Heiligen Verteidigung
Der eigene Körper als Opfergabe. Bild im Museum der Heiligen Verteidigung

Aufnahme: Christian Funke

Schon einmal haben iranische Truppen auf irakischem Boden gekämpft. Diese „heilige Verteidigung“ ist seit einem Jahr in Teheran im Museum zu besichtigen und erlebbar. Märtyrer sind nationales Kulturgut. Wie das Bild der Märtyrer im Iran sich wandelt und welche neuen Interpretation es für dieses kulturelle Moment gibt: Eine Einführung von
Christian Funke, Islam- und Religionswissenschaftler. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören der kontemporäre und moderne Iran, der schiitische Islam, Passionsrituale sowie Religionsästhetik. Er studierte in Heidelberg, Ankara, Kairo und Teheran und führte für sein Promotionsprojekt intensive Feldforschung in Iran.

http://kulturtransfer.files.wordpress.com/2014/07/1.jpeg

Gewehre mit Rosen in den Läufen als Symbol für den Sieg der Revolution. Schaukasten im Museum der Heiligen Verteidigung. (Aufnahme Christian Funke vom 17. August 2013)

Kennen Sie die Künstler, die im Museum der heiligen Verteidigung vertreten sind?

Persönlich kenne ich einen Künstler, der es abgelehnt hat, an der Entstehung des Museums mitzuarbeiten. Er war nicht damit einverstanden, dass das Museum mit seiner Narration am 15. Chordad einsetzt, also dem Jahrestag der Erhebung von Qom im Jahre 1963. Dies wird in offizieller Lesart als der Beginn der „Islamischen Revolution“ gesetzt. Nicht nur blendet es komplett aus, dass auch säkulare, kommunistische und andere Gruppen an der „Iranischen Revolution“ beteiligt waren, sondern überträgt dieses Narrativ auch auf den Iran-Irak-Krieg. In dieser Interpretation werden also alle anderen, wie säkulare oder nationalistische Aspekte, ausgeblendet oder überlagert. Dieser Künstler war anfänglich an der Planungsphase beteiligt, wollte sich jedoch nicht vereinnahmen lassen. Aber das ist sicher keine stellvertretende Meinung, denn viele, auch bekannte Künstler und Designer, wirkten am Aufbau des Museums mit.

Wie wird das Museum im Iran aufgenommen? Zielt es auf bestimmte Klientel?

Die erste Zielgruppe, die sich die Macher des Museums ausgesucht haben, ist die junge Generation, vor allem Schüler. Die Macher heben auch in den Broschüren des Museums hervor, dass die Generation, die den Iran-Irak-Krieg-Krieg selbst nicht miterlebt hat, einen zu großen Abstand zum Thema haben. Der Teil der Bevölkerung, der keinen Bezug mehr zur „Heiligen Verteidigung“ hat - wie der Iran-Irak-Krieg in der offiziellen Diktion genannt wird - wächst. Man sieht, dass unter der Woche, besonders aber an Kriegsfeiertagen wie der Befreiung von Chorramschahr, Schulklassen in das Museum geführt werden. Ich war selbst ein paar Mal zu diesen Zeiten vor Ort und habe auch Schulklassen angetroffen. Für sie war es ein normaler Schulausflug. Mit ihren Telefonen haben sie Selfies vor den Panzern und Hubschraubern des Außenareals gemacht. Ihnen ist der Krieg und seine Narration ja nicht nur aus dem Unterricht bekannt, sondern sie werden tagein tagaus durch Straßennamen, Wandgemälde, Plakate und Filme an das Kriegsgeschehen erinnert. Eine Lehrerin, mit der sprach, war hingegen äußerst enthusiastisch und erzählte mir wie wichtig das Museum für sie und die Nation sei und wie sehr sie sich freue. Insbesondere weil hier auch die Mitschuld des Westens gegenüber dem Iran wie die Lieferungen von Giftgas an Saddam Hussein thematisiert werden, welches dieser dann ja gegen Iraner und Kurden eingesetzt hatte. Besonders hat sie - mir als Ausländer - ans Herz gelegt, das Museum zu besichtigen, denn Deutschland habe doch auch Saddam unterstützt. Neben Schulklassen soll das Museum auch ein Ort für Veteranen sein. Das Museum wirbt damit, vollständig behindertengerecht zu sein. Im Erdgeschoss befinden sich Vortragssäle, eine Küche und ein Speisesaal.

https://kulturtransfer.files.wordpress.com/2014/07/2.jpegDer eigene Körper als Opfergabe. Bild im Museum der Heiligen Verteidigung: Aufnahme Christian Funke vom 17. August 2013.

Wie wird der Museumsbesuch wahrgenommen?

Ich denke, das ist zweigeteilt. Zum einen sind Einzelbesichtigung des Museums meines Wissens nicht möglich, man kann nur an Führungen teilnehmen, die sicherstellen, dass das durch Objektauswahl und Konzeption vorgesehene Narrativ auch wirklich transportiert wird. Als ich, schon auf dem Weg zurück zur Metro, eine Museumsführerin traf, hat sie mich angesprochen und sich erkundigt, wie es mir gefallen hat. Sie hat unterstrichen, dass es für sie sehr wichtig ist, dass sich auch Ausländer mit dem Krieg auseinandersetzen. Sie sah das Museum als wichtigen Repräsentanten eines bedeutenden Teils iranischer Geschichte, der im öffentlichen Diskurs stärker aufgegriffen werden muss. Und auch ein anderer Museumsführer hat mich ermuntert, mich doch mit ihm und einigen Basidschis zu treffen, um selbst einmal an einer Gruppentour an die ehemalige Front teilzunehmen.

Durch die mediale Omnipräsenz von Krieg und Martyrium sind die Themen selbst überstrapaziert: Straßennamen, Plätze und wichtige Orte werden nach Märtyrern benannt und überhaupt ist Martyrium als Konzept und als Gründungsmythos für das Selbstverständnis der Islamischen Republik elementar. Deswegen sieht man immer wieder Versuche, jene Begriffe durch eine Neuinterpretation zu aktualisieren, zu reanimieren und neu zu besetzen. Das Museum ist dabei sowohl Symbol für die Überstrapazierung, als auch Zeichen des Versuch der Neuinterpretation.

https://kulturtransfer.files.wordpress.com/2014/07/3.jpeg

Nachbau eines zerbombten Klassenzimmers in Khorramshahr im Museum der Heiligen Verteidigung. (Aufnahme Christian Funke vom 17. August 2013)

In welche Richtung eine solche Neuinterpretation und Aktualisierung geht, kann man auch gut an einem jüngst in Iran erschienenen Kinofilm sehen. Der Titel besteht allein aus dem persischen Buchstaben „Tsche“, der in diesem Fall aber nicht von ungefähr an Che Guevara erinnert. Protagonist des Films ist Mostafa Chamran, also einer der bekannten, großen Namen unter den Märtyrern des Kriegs. In diesem Film sieht man Chamran als iranischen Freiheitskämpfer im Stile Che Guevaras. Er handelt im kurdischen Gebiet während des Sezessionsaufstandes nach der Revolution. Schon Eröffnungssequenz macht den Film auch für actionfilmaffine Kinogänger attraktiv: Man sieht wie „Che“ mit einem Helikopter eingeflogen wird. Der Film strotzt vor Spezialeffekten in hoher Qualität. Der Protagonist schlägt sich durch die feindlichen Linien um den Widerstand zu organisieren. Dabei trifft er auch auf seinen Widersacher, den Führer der kurdischen Separatisten. Es kommt zu einem verbalen Schlagabtausch zwischen den beiden, über die Rechtmäßigkeit der Revolution, über die Unterstützung durch ausländischen Mächte etc. Gespickt mit Flashbacks aus der Zeit als Chamran Widerstandszellen im Libanon organisierte, heroisiert der Film die Person als eine stoische außerweltliche Kraft, die nicht tangiert wird von den umgebenden Ereignissen. Besonders spannend ist dabei, dass hier die Heiligkeit nicht im Martyrium selbst begründet wird, sondern bereits in seinem Lebenswandel. Eine wirklich sehr spannende Sache. Am Ende des Films steht entgegen aller Erwartungen, nicht das Martyrium, sondern der Sieg der Freiheitskämpfer: Die kurdischen Feinde werden aus dem Dorf vertrieben und Chomeini schickt die Revolutionsgarde um den Widerstand zu unterstützen. Es wird eine Erfolgsgeschichte inszeniert. Die Kämpfer, die Chamran noch umgeben, sie alle rechnen in dieser Situation mit ihrem Tod und sprechen die Fatiha[1]. Aber sie überleben. Rettung in letzter Minute. Das Ganze ist eine Metapher für den staatlichen Widerstandsdiskurs: Dem Iran, umgeben von Feinden, wirtschaftlich unter Druck, gelingt es durch den reinen Willen der Nation sich durchzusetzen. Das physische Sterben, steht überhaupt nicht mehr im Vordergrund.

Gibt es für diesen Diskurs weitere Beispiele?

Der Rundgang im Museum endet vor der holographischen Projektion einer Uranzentrifuge. Auch hier eine klare Botschaft: Der Westen, der im Iran-Irak-Krieg die Feinde des Irans militärisch unterstütze, greift nun zu anderen Mitteln, um den Iran zu bekämpfen, zu Sanktionen und Terror. Auch die Wachsfigur eines Atommärtyrers, also einer jener Forscher, die zwischen 2010 und 2011 Attentaten zum Opfer fielen, wird gezeigt. Folglich müsse Iran sich auch mit anderen Mitteln zur Wehr setzen und den Widerstand fortsetzen. Die Kampagne „Krieg, Arbeit, bis zum Sieg!“, die dieses Jahr in Teheran zu sehen war, veranschaulicht das ganz gut. Dort wurden Bilder des Krieges mit denen der Jetztzeit übereinandergeblendet. Man sieht in Schwarz-Weiß Soldaten an der Front, die eins zu eins, jetzt in Farbe, mit Arbeitern in einem Atomreaktor übergehen. Ein weiteres Beispiel ist eine Kampagne im Banknotendesign, die letztes Jahr zum Beispiel an den Teheraner Bussen zu sehen war. Auch hier werden Soldaten gezeigt, aber auch zum Beispiel der Gewichtheber Behdad Salimi. Er hat 2012 Gold in Peking geholt und wurde dafür landesweit gefeiert. Wie auch jetzt bei der Fußballweltmeisterschaft zu sehen ist: Sport und Nationalstolz gehen auch in Iran Hand in Hand. Auch hier ein ein klarer Appell an das Nationalgefühl: Die Soldaten waren die Behdads ihrer Zeit. Die Wissenschaftler, Landwirte, Sportler und Soldaten sie alle kämpfen für die Nation.

http://kulturtransfer.files.wordpress.com/2014/07/4.jpg

„Krieg, Arbeit, bis zum Sieg“ – Kampagne zur Unterstützung der Widerstandskultur. Der Wandel in der Depiktion ist eine Brücke für den Geist des Märtyrertums in die Moderne. Das Motto lautet: Die Aufgabe ändert sich, der (nationale) Enthusiasmus bleibt der gleiche. Copyrights: http://yanondesign.com/1391/07/to-support-of-the-iranian-work-and-capital.html

https://kulturtransfer.files.wordpress.com/2014/07/5.jpgCopyrights: http://yanondesign.com/1391/07/to-support-of-the-iranian-work-and-capital.html

https://kulturtransfer.files.wordpress.com/2014/07/61.jpg

Copyrights: http://yanondesign.com/1391/07/to-support-of-the-iranian-work-and-capital.html

Ist das Museum Zeichen eines Wandels? Eine Art soziokulturelles Barometer mit dem Versuch das Thema zu prägen, zu beeinflussen und die Reaktionen der Besucher zu „messen“?

Die Aussage ändert sich im Kern nicht, doch die ästhetischen Darstellungsparameter haben sich geändert. Das Ganze wird mehr als ein Event inszeniert. Zum Beispiel eine nachgebaute Pionierbrücke über die man als Besucher im Museum wandeln kann. Durch sie bekommt man ein Gefühl für die improvisierten Brücken während des Konflikts. Dazu zählen aber auch andere Räume: In einem beispielsweise wird mit akustischen Signalen, Lichteffekten und Erschütterungen im Boden ein Bombenangriff inszeniert.

Man darf bei allem nicht vergessen, diese acht Jahre Krieg waren prägend. Die gebrachten Opfer, die schmerzhaften Erinnerungen jener, die alt genug sind und den Krieg selbst miterlebt haben. Die in den Bunker steigen mussten als 1988 irakische Raketen auf Teheran niedergingen. Da gibt es schon einen Wunsch auch der jüngeren Generation mehr darüber zu erfahren, welche Menschen damals aktiv waren, statt immer wieder das gleiche zu hören: Durch die mediale Überpräsenz entsteht bei vielen eine Abwehrhaltung zu dem Thema, gerade weil es so vom Regime vereinnahmt wurde. Diese Vereinnahmung ist im Museum gegeben und als interpretatorischer Anspruch klar erkennbar. Andererseits gibt es junge Leute, die sich T-Shirt mit Märtyrerbildern und der Aufschrift „My Hero“ drucken lassen. Diese jungen Menschen nehmen die Märtyrer als Iraner wahr, die sich für ihr Land geopfert haben. Dies ist aber ganz unabhängig von der Einbindung der Märtyrer in eine revolutionsgeschichtliche Narration. Es macht das ganze zu einem nationalen Krieg gegen die irakischen Aggressoren.

https://kulturtransfer.files.wordpress.com/2014/07/7.jpg

Ausstellungseröffnung „By an Eyewitness“ von Azadeh Akhlaghi in der Teheraner „Mohsen Gallery“. Photo Christian Funke vom 12. März 2013.

Welche verschiedenen Interpretationen zum Iran-Irak-Krieg und Märtyrerthema gibt es in der Kunstszene?

Es gibt verschiedene Künstler die sich, auch abseits staatlicher Vorgaben, intensiv mit Märtyrern auseinandersetzen. Wie zum Beispiel die Photographin Newsha Tavakolian, die eine Photoserie namens „Mothers of Martyrs“ vorgelegt hat.[1] Hier hat sie Mütter abgelichtet, die Portraits ihrer gefallenen Söhne in der Hand halten. Man sieht den Schmerz in ihren gealterten Gesichtern, während ihre Söhne in einem jugendlichen Alter quasi eingefroren sind. Auch die Photographin Azadeh Akhlaghi hat sich mit Personen auseinandergesetzt, die

den Iran hätten verändern können, aber ein frühes oder gewaltsames Ende fanden. Inspiriert wurde sie dabei vom Todes Neda Agha-Soltans bei den Protesten von 2009 – auch wenn sie deren Tod selbst nicht photographisch inszeniert hat. Sie inszenierte die Todesszenen berühmter iranischer Männer und Frauen, zum Beispiel des Ajatollahs Mahmud Taleghani, der Dichter Samad Behrangi und Forough Farrochzad oder des revolutionären Vordenkers Ali Schariati und von Soldaten des Iran-Irak-Krieges. Sie schlüpft gleichsam als stumme Zeugin und Beobachterin selbst in jedes ihrer Bilder. Die Serie war das kommerziell erfolgreichste Photographieprojekt in Iran, alle Bilder wurden binnen weniger Tage verkauft. Sie entwirft dabei auch eine Narration, die sich abseits staatlicher Vorgaben entwickelt, sogar Tabus, wie den Tod Nedas aufgreift, und doch akzeptabel ist – auch für die Zensur.

https://kulturtransfer.files.wordpress.com/2014/07/8_money_1.jpg

Iranian Wealth is not Money – Plakat einer Kampagne u.a. in Teheraner Bussen, das um den Widerstandsgeister der Iraner wirbt. http://yanondesign.com/1392/06/iranian-wealth-is-not-money-3x4studio

Es wird der revolutionär-religiöse Überbau herausgeschält und das faktische Handeln, die Heldentat des Aufopferns, rückt in den Vordergrund. Ist das eine Art pragmatische Interpretation der Geschehnisse?

Es ist gewissermaßen ahistorisch. Man kann die religiöse Motivation vieler Beteiligter nicht ausblenden. Arasch Hedschasi etwa, beschreibt in seinem Buch „The Gaze of the Gazelle“ eine Episode aus der Kriegszeit: In seiner Schule hatte sich ein Kamerad freiwillig an die Front gemeldet. Dieser kommt zwei Wochen später in einem Sarg zurück. Als bei der Prozession einer seiner Lehrer, den Hedschasi als besonders religiös beschrieben hatte, diesen Sarg schluchzend in Tränen begleitet, spricht Hedschasi ihn an: Wenn es so herausragend ist, dass er Märtyrer wurde, warum sich der Lehrer dann nicht selber zur Front melde? Daraufhin verpflichtet sich der Lehrer und kehrt zwei Wochen später selbst im Sarg zurück. Da beschreibt Hedschasi, dass er zum ersten Mal gemerkt hätte, dass Worte auch töten können. Was ich sagen will: Es gab eine religiösen Dimension und es gelang, diese mit nationalistischen Inhalten zu verflechten. Es ist daher auch zweischneidig, einen rein nationalistischen Diskurs in der Retropesktive zu eröffnen und es wird der Geschichte nicht gerecht. Nehmen Sie Azadeh Akhlaghi und ihre Ausstellung[1]: Dort wird ein Narrativ gespannt, das religiös und national ist, das sich nicht entscheidet, sondern bezeugt und Interpretationen ermöglicht: Das Scheitern in letzter Sekunde, der Verlust von Figuren, die einen Wendepunkt herbeigeführt haben können. Die Künstlerin bringt sich als stumme Zeugin ein. Sie versucht nicht zu deuten und religiöse oder nationalistische Konzepte zu bedienen. Dadurch schafft sie eine spannende Re-Inszenierung und einen neuen Interpretationsrahmen, die übergreifend sind.

https://kulturtransfer.files.wordpress.com/2014/07/9_money_2.jpeg

Iranian Wealth is not Money – Plakat einer Kampagne u.a. in Teheraner Bussen, das um den Widerstandsgeister der Iraner wirbt. http://yanondesign.com/1392/06/iranian-wealth-is-not-money-3x4studio

Das Verständnis als Märtyrer in ihrer Sache, wird das auch durch junge Grüne Revolutionäre aufgegriffen?

Auch im Protestlager werden die Toten als Märtyrer bezeichnet, als „Freiheitsmärtyrer“ oder als „grüne Märtyrer“. Ein Fall hat besondere Verwicklungen ausgelöst: Saleh Jaleh, der während der sogenannten Valentinstagproteste des Jahres 2010 starb, wurde sowohl von Regierungsseite vereinnahmt, als auch durch die Grüne Bewegung. Während diese behaupteten, er sei während der Proteste ums Leben gekommen, behaupteten die anderen, er sei ein Basidschi gewesen. Jene organisierten auch seinen Grabumzug, bei bei dem es zu Auseinandersetzungen kam. Und zu einem Streit der Bilder: Im Internet finden sich sowohl Märtyrerbilder, die ihn als Basidschi feiern, als auch solche, die ihn als „grünen Märtyrer“ erinnern. Auch zum Grab von Neda „pilgern“ die Menschen, dabei konnte ich beobachten, dass die Besucher auch mit ihren Fingern auf das Grab tippten. Das ist eine alte Praxis, die man auch bei den Gräbern von Verwandten, herausgehobenen Personen wie etwa bei Hafez oder Saadi, oder aber auch bei Märtyrern beobachten kann.

Auch die Regierung weiß um die Wirkmacht von Gräbern und versucht „kritische Orte“ mit Märtyrern zu besetzen. Also zum Beispiel soziale Hotspots wie Parks. Da werden dann Überreste von „namenlosen Märtyrern“ beigesetzt und ein Grabmal errichtet. So wird der Park zu einem Pilgerort für regierungsnahe Menschen und die Alltagskultur beeinflussen sollen, Präsenz zeigen und dort verweilen.

Werden solche Stätten verunglimpft oder beschädigt?

Jeder respektiert die Totenruhe. Anders sah es allerdings umgekehrt bei Grabstätten von Opfern der Proteste aus. Nicht nur wurden hier Trauerfeiern untersagt, sondern beim Grab Nedas kann man auch Einschusslöcher im Grabstein-Porträt erkennen.

https://kulturtransfer.files.wordpress.com/2014/07/10_industry.jpg

Industrieller Kontext: Von unten aufbauen Copyrights: http://yanondesign.com/1391/07/to-support-of-the-iranian-work-and-capital.html Industrieller Kontext: Von unten aufbauen Copyrights: http://yanondesign.com/1391/07/to-support-of-the-iranian-work-and-capital.html

Es gibt seitens der Regierungsgegner eine blühende Graffitikultur. Auch in Bezug auf Märtyrer?

Man findet häufig Wandsprüche mit Aussagen Imam Alis oder Khomeinis oder aber revolutionärer Maximen, wie zum Beispiel: „Am Vorabend des Sieges vermissen wir die Märtyrer.“ Hier habe ich beobachten können, dass jemand hinter das Wort „Märtyrer“ Nedas Namen eingeschoben hat. Charles Kurzman bezeichnete dies auch als kulturelles Jiu Jitsu. Man nutzt die Kraft des Gegners und wendet sie gegen ihn.

Weitere Veröffentlichung zum Thema von Christian Funke

[1] »By an Eyewitness« von Azadeh Akhlaghi in der Teheraner »Mohsen Gallery« im März 2013.


[1] http://www.newshatavakolian.com/#a=0&at=0&mi=2&pt=1&pi=10000&s=0&p=3


[1] Fatiha= die eröffnende Sure des Korans

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kulturtransfer

Interkulturelle Lebenswelten und Ideen

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden