Vermutlich gibt es keine Reise der Welt, die erklärungsbedürftiger ist als die, mit einer Eisenbahn fast 10 000 Kilometer bis ans Ende von Russland zu fahren und mehr als sieben Tage in einer Kabine von zwei mal zwei Meter hauptsächlich im Bett zu verbringen. Vorausgesetzt freilich, es gibt keine praktischen Gründe, wie Säcke von Moskau nach Sibirien zu transportieren oder die Verwandten auf dem Land zu besuchen. Die Freiwilligkeit in der Verschwendung von Zeit, die reine touristische Lust, eine Strapaze als Urlaub zu buchen, das ist das wenig Fassbare und einem Einheimischen schier Unbegreifliche daran. Die Motive sind so verschieden wie die Menschen, die ihnen folgen. Eines aber ist ihnen gemeinsam: sie sind nicht das, was über sie gesagt werden kann. Es gib
Eine Reise im Rückwärtsgang
METAPHER ZEIT Unterwegs mit der transsibirischen Eisenbahn
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gibt einen Rest in ihnen, ein Geheimnis, das mit der tiefen Sehnsucht einhergeht, die Gegenwart zum Verschwinden zu bringen und auf einem Weg in die Ewigkeit des Vergangenen zu sein. Die Freiwilligkeitspassagiere, es sind Zeitreisende, die sich rückwärts bewegen, ins Reich der Väter der Väter, und weiter. Ihre Hoffnung ist eine Fahrt ohne Ankunft, und ihr Genuss die über lange Stunden und Tage währende Illusion, diese Hoffnung geht in Erfüllung. Sie sind tief verstrickt in einem Gespräch mit sich selber, auch wenn sie es nicht hören mögen, weil sie in beabsichtigter Selbstablenkung mit den anderen sprechen. Und nicht wenigen, die gekommen sind, ihr inneres Leben zu finden, droht ein mächtiger Absturz. Denn der Vorhang geht auf und legt offen, dass hinter ihm nichts ist und dass sein Sinn eben der war, das zu verbergen. Dann wird die Zeit als eine Tragödie begriffen, als ein Ungeheuer, das zu töten man ausgezogen war und das einen nun selber verschlingt. Unsinnige Verrichtungen sind die schwierige Antwort: alle halbe Stunden den Gang vor und zurück zu laufen, übermäßig Tee aufzugießen, der dann wieder weggeschüttet wird, oder an einem Butterbrot zu kauen, ohne Hunger zu haben und so, dass der Teig im Mund Brei wird, als wäre er selbst schon der Augenblick, der sich auflösen sollte. Nicht der Raum, sondern die Zeit ist der Feind, der am Ende stärker sein wird und der jeden, der es mit ihm aufgenommen hatte, in die Unterlegenheit zwingt. Hätten sie, die Gescheiterten am Ende der Reise, diese Herausforderung angenommen, wäre ihnen vorstellbar gewesen, welche Peinlichkeiten, welche Kränkungen, welche Niederlagen sie erwarten? Hat nicht die Technik die Geschwindigkeit erfunden, um die Zeit zu betäuben, wenn nur erst der Raum seinen Widerstand aufgibt und seine Ausdehnung keine entscheidende Rolle mehr spielt? Und sie, die Helden unserer Geschichte, wollen die Zentrifuge zur Erzeugung von Bewusstlosigkeit verlassen und in einem Zug unterwegs sein, der aus heutiger Sicht dem Niveau einer Kutsche entspricht?Vor 150 Jahren, als die Eisenbahnfahrt einem Raketenflug gleichkam, da war die Fahrkarte noch der Eintritt in ein neues, unerhörtes Gefühl, wenngleich der Euphorie schnell tiefe Skepsis gefolgt ist. Doch wo Flugzeuge fliegen und der Sputnik die Venus umkreist, wo ein Bildschirm ohne zeitliche Verluste den entlegensten Winkel der Welt einblendet, als fände man ihn gleich vor der Haustür, ist die Fahrkarte für eine Eisenbahnfahrt auf unserer Strecke mit einer Höchstgeschwindigkeit von 80 Kilometer die Stunde nur noch der Einlass in eine Langsamkeit, die dem Stillstand nähersteht als einer Form von Bewegung. Unsere Ahnen erlebten das maschinelle Ensemble im Blick auf die vorbeifließende Natur als eine Zerstörung ihres Zusammenhangs; wir haben die postromantische Freude, im maschinellen Ensemble gleich einem Gitter vor der Natur überhaupt noch einen Fetzen von Berg oder See, Baum oder Wiese vorzufinden. Was ihnen einen Schwindel erzeugte, erleben wir als eine Befreiung von Schwindel, die schon Urlaub bedeutet und einiges Geld kosten soll. Der Rausch einer verlangsamten Betrachtung wird jedoch empfindlich gestört, und die Verzögerung als ein Einspruch gegen die Ohnmacht des Tempos, mit dem wir heute leben und zurechtkommen müssen, erweist sich schnell als eine Falle. Denn sie produziert gerade auch das mit, was wir fürchten und weswegen wir fortwährend unterwegs sind: die Begegnung mit dem eigenen Selbst und seiner möglichen Substanzlosigkeit. Zu sehr ist die Beschleunigung zu einem Sedativum gegen die entstandene Leere im Zentrum simulierter Ereignisse geworden, als dass sie sich folgenlos abschalten ließe. Die Passagiere aus Übermut, sie wollen der Geschwindigkeit entkommen, die ihnen jenen Schwindel verursacht, den man früher noch in der Eisenbahn erlebte. Doch dafür hätten sie eine andere, noch größere Geschwindigkeit nötig, nicht aber diesen Rückgriff auf die Trägheit einer Materie, die sich geradezu abmühen muss, um sich fortzubewegen. Und diesen Widerspruch treffen unsere Reisenden an: sie wählen den Rückwärtsgang, wollen aber eigentlich vorwärts und am Ende noch schneller unterwegs sein als alle anderen. Sie wollen mit der Eisenbahn das Flugzeug überrunden, es aber so tun, dass sie etwas sehen und mitbekommen können, was ihnen der Flug je verweigert. Sie suchen die naive, klare Sicht auf die Welt, und sie wollen die Betäubung dabei, das moderne Delirium. Sie verlangen nach einem Blick im Zustand von Unschuld, und sie machen ihn stumpf mit dem Wissen darüber, was sie bald alles zu sehen bekommen und in Katalogen schon eifrig rot angekreuzt haben.Nun ist die Sensation, die hier stattfinden soll, zweifellos größer als nur die der Langsamkeit mit den sekundären Effekten des Schocks. Sie ist gewiss auch die Rückeroberung des verschwundenen, eine Komplexität verkörpernden Bildes, wofür unsere alte, behäbige Eisenbahn gut ihren Dienst tut. Aber wenn es so ist, warum machen unsere Erholungssuchenden mit Abenteuerlust dann nicht gleich Wanderurlaub? Weil der Gehende die Ekstase der Kontemplation nur simuliert, während der Fahrende sie tatsächlich eingeht. Im Gehen wird der Körper als jene Mechanik erlebt, die der Fahrende von sich wegdelegiert, und es liefert die unmittelbare Berührung mit dem Weg, der abgeschritten wird, während das Fahren auf diese Berührung nur noch verweist. Im Fahren gibt es zwar den Bericht darüber, dass diese Berührungen passieren, aber sie selbst finden nicht mehr in jedem einzelnen statt, sondern stellvertretend durch eine Maschine. Der Gehende wird zu einem Teil der Natur, der Fahrende überwindet sie. Gerade dadurch aber, dass der Körper beim Gehen aktiv sein muss, kommt er gar nicht dazu, sich zu empfinden und selbst zu betrachten. Die Augen müssen geöffnet, die Schritte beobachtet werden. Hier ist es ein Stein, der umgangen, dort eine Erdrinne, die übersprungen sein will. Es gibt quasi immer Arbeit zu verrichten, von der der Fahrende gänzlich freigestellt ist und die er erfinden müsste - und im Zustand erlebter Unerträglichkeit ja auch tatsächlich erfindet. Die Anstrengungen des Gehens verhindern demnach, was der Fahrende will und wozu er die Möglichkeit braucht, nichts leisten zu müssen: sich außerhalb seiner selbst zu erleben, sich zu begegnen als ein Objekt, über das er Erkenntnisse möchte. Die Schärfe des Details, wie sie sich dem Gehenden zeigt, ist dem Fahrenden vollkommen uninteressant. Ihm geht es allein um das Detail in seiner Verbindung zu einem Arrangement, dessen Zentrum der Blick auf das Selbst ist. Erst dann nämlich, wenn die Natur die Person so in sich aufgenommen hat, dass sie sich in ihr auch zu sehen bekommt, ist das Bild total und ist jene Komplexität erreicht, die den Erregungen des Kontemplativen entspricht. Die Entfremdung der Person, die sich der fahrenden Technik bedient, erlebt also eine Art von doppeltem Salto, eine Spiralbewegung, die in jene Urszene mündet, in der sie von den Dingen, die sie betrachtet, selbst angeschaut wird. Das nun ist das gesuchte und ganz und gar moderne Erlebnis, das seine Einmaligkeit daraus bezieht, einerseits die abgeschaffte Wahrnehmung im Geschwindigkeitsrausch aufzuheben, andererseits deren Bedingung beizubehalten, Teil der Technik, und nicht Teil der Natur zu sein. Dafür, diese Safari ins Reich der Sinne zu ebnen, wie sie weder die aktive Trägheit des Gehens, noch das Delirium der Beschleunigung einzurichten imstande sind, ist die Eisenbahn der ideale Produzent. Wohlgemerkt unsere, gleich einer Schnecke in den Weiten Sibiriens. Und auch nur solange die innere Landschaft, die sich auf die äußere legt, wie Kino bleibt. Schnell freilich ist dieser besondere Kick auch zu Ende und geht über in den Alltag des Schreckens. Denn die Provokation, eine Evidenz dadurch zu verhindern, dass man sie sucht, ist ein recht heikles Wagnis. Tatsächlich haben wir nämlich gar keine Vorstellung darüber, wem wir begegnen, wenn wir uns zu sehen bekommen, und noch weniger davon, wie wir diesen Doppelgänger im Anblick des Geistes, heraufbeschworen aus einem sehr sinnvollen Dunkel, dann wieder loswerden können.Doch zurück zu unserem merkwürdigen Zug, der uns das ja alles so bietet: diese Illusionen der Ankunft im authentischen Leben mit Echtzeit und Selbsterkenntnis, ohne dass es je aufhören soll, ein Spiel zu sein und eine gigantische Blendung. Denn er erwirbt sich seine Beliebtheit noch lange nicht nur durch die Tatsache, in einer schon höchst ungebräuchlichen und so wieder interessant werdenden Geschwindigkeit zu zuckeln, die geeignet ist, zwei gegensätzliche Zustände von Wahrnehmung kurzzuschließen - hier die scharfe Kontur der Gegenstände im Stillstand, und dort deren Umrisslosigkeit in der schnellen Bewegung. Die Transsibirische Eisenbahn vereint mehr und auf einmalige Weise alles, was die Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren in unserer Gegenwart ausmacht und was sie schließlich zu jenem Apparat werden lässt, der die ersehnte Täuschung hervorbringt. Sie ist eine Gebrauchsmaschine, die ja hauptsächlich einen praktischen Nutzeffekt hat, den des Transportes und der Landüberwindung. Aber schon damit ist sie mit allem, was zu ihrer technischen Ausrüstung gehört, ein Anachronismus und wird von Touristen wie ein Dinosaurier bewundert. Im Blick dieses Anderen, für den sie in ihrem funktionalen Wert unbrauchbar ist und der sie benutzt als ein reines Objekt des Genießens, degeneriert sie zu einem Accessoire. Die Energien, die im maschinellen Zusammenspiel freigesetzt werden, erscheinen nun transformiert und in einen psychischen Kontext gebracht, wo sie eine Art Tranquilizer ergeben, und das setzt den gesamten zweckgebundenen Kreislauf außer Kraft. Es geht zu wie in einem Witz, dessen Pointe darin besteht, dass der Witz keiner sein will. Selbst das Personal, das wesentlich zur Maschine gehört und seine Handlungsabläufe nach deren Gesetzen regelt, findet sich auf die Ebene der Untüchtigkeit gebracht. Es ist, mit einem Wort gesagt, komisch. Natürlich bleibt es in einem rein praktischen Interesse bemüht, den Eindruck des Spieles noch zu verstärken, indem es weiterhin so tut, als wäre es ein Träger von Leistung und nicht schon das theatralische Figurenensemble eines imaginären Theaters, aber die Kränkung, alles in allem, sitzt tief. Abzuschwächen ist sie nur dadurch, dass der Blick, in dem das ernsthafte Handeln zur Show wird, gleichsam übersehen wie geleugnet bleibt. Überaus höflich begegnen die Angestellten des Zuges dem fremden Gast, immer in der Deckung vor dessen Augen, in denen sich das Unglück ihres Vorhandenseins spiegelt. Allemal unwissend, dass der Andere mit dem gefährlichen Maßstab einer anderen Zeit selbst auch nur ein Teil jenes Spieles ist, das erfunden zu haben er vorgibt. Dieses Vergnügen, das in der Überlagerung der verschiedenen Bedeutungssysteme entsteht, wäre so in einem reinen Amüsierzug wie dem Orient-Express, der sich vollkommen darauf eingerichtet hat, Illusion zu erzeugen, unmöglich. Denn es löst sich ja gerade dadurch ein, dass es nicht stattfinden soll und nur in aller Heimlichkeit, gewissermaßen mit versteckter Kamera unter der Schädeldecke, eingefangen wird. So wie man auch aufs Land fährt, um das einfache Leben der Bauern zu teilen, in Wahrheit aber das Plumpsklo genießt, weil es einen so schön an die geflieste Toilette von zu Hause erinnert. Nicht das Ding an sich ist der Generator zur Erzeugung von Lust, sondern die Differenz, die es wie eine Schleifspur hinter sich herzieht. Und weil die Ströme des Begehrens eben genau die sind, die aus den Differenzen hervorgehen und mit der Sache und den Dingen an und für sich nur wenig bedient werden können, unternimmt der Vergnügungsreisende alles, sie zu vermehren oder doch zumindest zu bewahren. Wieder und wieder streunt er durch die anderen Klassen und erfreut sich des Anblicks, dass allen anderen Zeit buchstäblich Geld ist, während er sie in Überfluss verschwendet. Er hat Spaß, wenn der Zug auf einem Nebengleis anhält, während die anderen vielleicht ihren Anschluss verpassen. Auch gut, wenn plötzlich das Wasser ausfällt oder der Strom und die Katastrophe in Sichtweite rückt, die ihm, der im Reisebüro eigens bezahlt hat, kaum etwas anhaben kann. Das geschlachtete Schwein im Vorraum des Wagens, zu zwei Hälften geteilt und in eine Plane gewickelt, aus der noch das Blut rinnt, wo sonst wenn nicht hier kann ihm klargemacht werden, dass die materielle Welt aus Fleisch, Kot und Knochen besteht und nicht aus Hyperlinks und E-Mail-Adressen. Aber nicht der Anblick, die Vergleiche erschaffen den Reiz. Und so kommt schließlich zu dem Repertoire des Vehikels noch eine entscheidende Dimension hinzu: die der geographischen Entsprechung. Russland selbst ist das Land, in dem die Vergangenheit Gegenwart ist, und alles, was sich vor dem Fenster abspielen mag, gehört zur Wahrheit des Zuges und komplettiert sie. Dem Russen im offenen Liegewagen, der auf der Decke sitzend den nächsten Bahnhof erwartet und müde am Speck kaut, sind die Bilder am Fenster nur die Bestätigung seiner existentiellen Situation. Ihm ist es vollkommen versagt, einen Genuss zu erleben, denn was ihm fehlt, ist die vergleichende Betrachtung, die in seinem Fall eher zur Depression als zur Euphorie führen dürfte. Und natürlich hat er auch gar keinen Begriff davon, was den seltsamen Westeuropäer, der etwas zu häufig an seiner Pritsche vorbei läuft, im Inneren umtreibt. Dieser in die Position des Zuschauers gerückte Andere aber verwandelt sich das ganze Universum in einen Garten der Lüste, weil sich ihm alles in der Optik des Unterschieds spiegelt und er in jeder Sequenz die Vergewisserung der Unzugehörigkeit mitgegeben bekommt. Er dreht und wendet die Knöpfe und ist froh, dass sie mit seinem Leben nach dieser Bahnfahrt nicht wieder in Berührung kommen werden. Und das ist das Exquisite an der Gewöhnlichkeit der verschlissenen Sachen, mit denen er konfrontiert wird: dass sie sich ihm zeigen, aber Relikt sind und nicht Gebrauchsgegenstand. Was soll er im Luxusliner neben seinesgleichen - den anderen Menschen braucht er, die Steinzeit im Rücken und den scharfen Geruch nach Knoblauch und Essig. Jetzt erst, wo alle diese Schnittstellen der verschiedenen Bestimmungen ineinander rasten, wo das Sehenwollen befriedigt worden ist und der Vergleich den Genuss erzeugt hat, wo die Außenwelt zur Projektionsfläche wurde für eine Innenbetrachtung, und wo für den Moment das Gefühl erreicht ist, die hinlänglich verflüchtigte Anwesenheit wäre hartes, mit den Händen zu greifendes Material, jetzt erst öffnet der Erlebnispark auch seine allerletzten Pforten und zeigt sich in der Totale und verschafft das universale Ereignis. Und es ist doch nichts anderes als der Einbruch des Realen in ein Bewusstsein, das Surrogate für Wirklichkeit hält und die Kopien mit den Originalen verwechselt. Es ist die Allegorie für jene bis vor kurzem noch getrennten und nun zusammengefallenen zwei Welten, deren eine der physischen Auslöschung zutreibt, und deren andere im Status von verbliebener Präsenz diese Auslöschung erst noch vorbereiten muss. Es ist die wirkliche Wirklichkeit, die zurückkehrt und mit der unser Vergnügungsmensch auf dieser Bahnfahrt nur spielt, ohne zu ahnen, dass er selbst schon das Spiel ist.
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