Für Karl Krolow

NACHRUF Seine Gedichte beginnen, wo das Schweigen beginnt

Karl Krolow ist tot. Er starb leicht, von einem Moment auf den anderen, höre ich sagen. Vielleicht von der Leichtigkeit eines seiner Gedichte, denke ich, als ich ins plötzlich sehr andere Haus eintrete. An seinem Platz am Eßtisch liegt eine mit Tinte beschriebene Serviette. Es sind die letzten Verse, die er notieren konnte. Die Schrift auf dem Grund des weichen Papiers ist aufgelöst und nicht zu entziffern, so als wollte sie die Hand, die sie hervorgebracht hat, nicht mehr verlassen. Ich denke an treue Hunde, wenn sie gehen mit ihrem Herrn, die Worte, mit denen er umgehen konnte wie ein Magier mit seinen Requisiten, die Sätze, die geschaffen sind, um ihn jetzt zu begleiten. Krolow hat nicht nur eine einzigartige Sprachwelt geschaffen, er war selbst bis ins Innerste seiner Physis von Sprachwelt beherrscht. Die Anmut der Texte war die Anmut seiner Person. Der leise, luftige Schritt, mit dem er, seinem »Ariel« gleich, immer ein wenig über der Erde spazierte, war wie die Verwandlung von harter Materie in Luft, die im Sprachprozeß, im Innenraum der Gedichte geschah. Es wird sein Geheimnis bleiben, wie er die schonungslose Benennung unserer aller Hinfälligkeiten in eine Form bringen konnte, daß sie zur menschlichen Schönheit wird und alle Würde zurückgibt, die auch die Würde der Poesie ist. Denn wie kaum ein anderer ist Krolow der Dichter einer radikalen Subjektivität, der mit seinen Instrumentarien der Sprache in die Verborgenheit des Körpers und der Seele dringt, um die Welt, die namenlos ist, exemplarisch zu machen. Seine Gedichte beginnen, wo sonst das Schweigen beginnt, hinter den Bildern und zwischen den Dingen und im Inneren des Augenblicks. Es gibt eine Frequenz in den Sätzen, die höher ist als ihr Ton und tiefer als ihr Sinn, eine Fühlbarkeit, die so weit ausschwingt, daß noch der kälteste Stoff einen Puls und eine Atmung bekommt. Nicht die Gegenstände sind das erregende Moment der Gedichte, sondern die Illumination, die von ihnen ausgeht, die oft magisch wirkende Verlängerung ihrer Gewöhnlichkeit auf die Ebene der Allegorie.

Ein Gedicht, sagte Krolow einmal, muß sofort gelingen. Es verträgt keine Polierarbeit, sondern es ist ein schneller Bewußtseinsreflex auf die Zumutung der Welt. Gewiß ist der Satz, gesprochen in einer lyrischen Phase der sogenannten Alltagsgedichte am Ende der 60er Jahre, ein Understatement. Aber was dennoch und bezogen auf das Gesamtwerk Krolows gültig an ihm ist, das ist seine Berufung auf eine unbedingte Authentizität von Wahrnehmung und sprachlicher Reaktion. Damit war er bereits der Einbindung einer Parlando-Lyrik in den Kanon der deutschen Literatur, wie sie Rolf-Dieter Brinkmann und Nicolas Born zur Schule machen sollten, einen Schritt voraus. Vom reimlosen Gelegenheitsgedicht etablierte Krolow mit seinem Band »Herbstsonett mit Hegel« die strenge metrische Form, als sie gerade am unmöglichsten schien. Er schrieb Sonette. Terzien, Sestinen, nutzte Kreuz- und Binnenreime, rhythmisierte die Verse im alternierenden oder daktylischen Takt. Und kaum gleich zu sehen, erneuerte er die tradierten lyrischen Formen, störte sie, rauhte sie auf. Wieder war Krolow moderner als die Moderne, und das gerade dadurch, daß er sich auf das Erbe berief. Er erschafft, sagte Hugo Friedrich über Krolows Dichtung, Irrealität aus den Teilen der Realität. Diese Bemerkung trifft am ehesten, was die Aktualität und auch experimentelle Dimension seines Werkes angeht, in dem alle lyrischen Möglichkeiten dieser Epoche einen Eingang und eine Erweiterung gefunden haben. Vom naturmagischen Gedicht eines Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann zum Surrealismus, vom elegischen Langvers zum Lakonismus, vom Hermetismus zum lyrischen Parlando und vom Reim zum offenen Gedicht.

Begleitet wurde Krolows lyrisches Werk von einer immensen theoretischen Reflexion, die für die wichtigsten Lyrik-Debatten vor allem in den 70er Jahren gesorgt hat. Unübersehbar ist die Zahl der Essays und poetologischen Texte. Aber auch Prosa hat Krolow geschrieben. Erzählungen, die so lyrisch waren im Ton, wie die Lyrik zuweilen prosaisch wurde. Mit Krolow ist ein Dichter jener großen deutschen Literatur gestorben, die zweifellos zum gesicherten Bestand dieses Jahrhunderts zählen wird. Und wie jetzt eine mit Tinte beschriebene Serviette am leeren Platz seines Eßtisches liegt, so auch bleiben die Bücher.

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