KEHRSEITE Wie immer in der Vorweihnachtszeit sah ich mich auch in diesem Jahr vor das fundamentale praktische Problem gestellt, mich beim Besorgen der üblichen ...
Wie immer in der Vorweihnachtszeit sah ich mich auch in diesem Jahr vor das fundamentale praktische Problem gestellt, mich beim Besorgen der üblichen Fest-Accessoires zwischen einem künstlichen und einem natürlichen Weihnachtsbaum entscheiden zu müssen und die Kaufentscheidung dann an schließend in meinem sozialen und medialen Umfeld zu legitimieren.
Ich machte mir die Entscheidung wie immer nicht leicht und begann zunächst ganz grundsätzlich über das schwierige und ökologisch sensible Verhältnis von Natur und Kultur im Medienzeitalter nachzusinnen. Denken allein macht jedoch auch vor Weihnachten nicht satt, und so entwarf ich, um meinen Lebensunterhalt zu sichern und die noch immer pokémon-hungrigen Kinder zu Hause zu versorgen, schnel
en, schnell ein wissenschaftliches Forschungsprojekt mit dem obskuren antrags-lyrischen Titel: »Natur - Event, Fragment, virtue end?« Ich schickte das Ganze an das Bundesforschungsministerium. Aus den Zinsersparnissen für die verkauften UMTS-Lizenzen wurde mir daraufhin alsbald ein kleines Stipendium verbunden mit einer Hausmeisterstelle an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) ausgelobt. Dort lief gerade ein exaltiertes Medienkunstprojekt namens »natural mente«, welches ich bei meinen Forschungen unbedingt zu berücksichtigen hatte.Bekleidet mit einem blauen Hausmeisterkittel und ausgestattet mit Werkzeugkasten, Mob und Bohnerwachs schlich ich nun Tag für Tag durch die Flure der Kunsthochschule und versuchte, durch eifriges Horchen an Seminartüren, möglichst viel Licht in das Dunkel meiner natur- und kulturwissenschaftlichen Grundüberzeugungen zu bringen.Eines Tages hielt Professorin Isolde Jamf, Tochter des berühmten Polymer-Chemikers Laslo Jamf, eine Vorlesung über »naturnahe Spontanplastik«. Ich hockte wie immer hinter der Tür des Vorlesungssaales, spähte durch das Schlüsselloch und hörte folgende ergreifende Rede: »Liebe Studenten, wie Sie wissen, leben wir in einer Zeit, in der sich die Trennung zwischen Natur und Kultur, zwischen Ânatürlichen und Âkünstlichen Welten, zwischen Realität und Virtualität scheinbar nicht mehr länger sinnvoll aufrechterhalten lässt. Wir leben in einem Zeitalter, wo die Realität im Spiel der digitalen Signifikanten nie geahnte Schwundstufen erreicht, wo selbst die Natur zum bloßen Konstrukt wird, wo alle Dinge ihr Gewicht verlieren, wo man sich auf nichts mehr verlassen kann ...! Die ästhetische Unmittelbarkeit geht verloren, nichts ist mehr wirklich greifbar, jedes Gefühl für Echtheit kommt abhanden. Der Mensch gerät in die höchste Verunsicherung über die Welt und sich selbst: Die Erde scheint nur noch bevölkert von virtuellen Gestalten, von Hologrammen, Zombies, literarischen Figuren und« - bei diesen Worten riss Isolde Jamf plötzlich die Tür auf, hinter der ich andächtig lauschend hockte, - »Randfiguren!«Alle Augen richteten sich auf mich, den blau bekittelten Hausmeister. »Nehmen wir nur mal diese Gestalt hier«, setzte Isolde Jamf ihre Vorlesung fort, »wer kann sagen ob dieser Hausmeister hier echt ist, ob es sich bei ihm um eine reale natürliche Person handelt oder nur um ein Produkt unserer überreizten medialen Einbildungskraft? Keiner! Kein Wunder in diesen hyper-virtuellen Zeiten! Ein Mittel aber gibt es, um die allgemeine Verunsicherung unserer Epoche über das Reale und Natürliche aufzuheben!« Professorin Jamf holte eine kobaltblaue Spraydose aus ihrer Jackentasche. »Mit dem hierin enthaltenen Sprühstoff Imipolex G, der letzten Erfindung meines seligen Vaters, können Sie jede Person, der Sie begegnen, in Sekundenbruchteilen mit einem extrem schnell aushärtenden unsichtbaren Kunststoffüberzug versehen und so in totale spontane Erstarrung versetzen. Imipolex G verwandelt all die unsicheren, medialisierten, vom Entschwinden und Vergehen bedrohten Gestalten unserer fragilen Realität in real greifbare, anfassbare naturnahe Spontanplastiken. Mit Imipolex G findet die zeitgenössische Kunst ihre eigentliche Bestimmung: Sie befreit den modernen Menschen aus seiner fatalen metaphysischen Unsicherheit!«Mit diesen Worten richtete Isolde Jamf die (metaphysische) Öffnung ihrer kobaltblauen Spraydose auf mich, um mich in ein kunststoffüberzogenes Kurt-Mondaugen-Exponat für die nächste documenta zu verwandeln. Geistesgegenwärtig sprang ich zur Seite, wobei der Eimer mit Bohnerwachs umstürzte. In panischer Angst rannte ich davon. Isolde Jamf und eine Schar Imipolex-G-begeisterter Kunststudenten nahmen sogleich die Verfolgung auf, hatten zunächst jedoch mit dem glitschigen Bohnerwachs zu kämpfen, was mir einen gewissen Vorsprung gab. Ich lief Richtung Innenstadt, wo ich hoffte, im Trubel des Weihnachtsmarktes untertauchen zu können. Tatsächlich erreichte ich unerkannt das nachgestellte (imipolexierte?!) Weihnachtskrippenspiel mit Maria und Josef auf dem Marktplatz und versteckte mich hinter ein paar sehr lebendig meckernden Toggenburger Ziegen, während mir mein Herz wie wild von innen gegen die Kniekehlen pochte.Da kamen meine Verfolger auch schon angehetzt! Zum Glück ließen sie sich zunächst von einer anderen Gestalt mit zweifelhaftem Realitätsgehalt ablenken. Diese Gestalt hatte einen roten Mantel an, trug einen weißen Bart und verteilte Süßigkeiten an die Kinder. Mit einem schnellen Schuss aus ihrer Spraydose verwandelte Isolde Jamf den völlig überraschten Weihnachtsmann in eine naturnahe Spontanplastik. Diese wurde sogleich von der jubelnden Schar der Jamf-AnhängerInnen emporgehoben und in die nahegelegene Galerie Eigen + Art geschleppt.Isolde Jamf indes hatte mich in diesem Augenblick in meinem bethleheminischen Ziegenstall-Versteck erspäht und eilte herzu. Noch einmal entging ich ihrer satanischen Spraydose, indem ich auf dem Rücken eines Ziegenbockes über die Umzäunung des Krippenspieles setzte und auf einer Seitenstraße davon galoppierte. Der Ziegenbock und ich schafften es hechelnd bis zum örtlichen Naturkundemuseum. Doch die unholde Isolde blieb uns auf den Fersen. In letzter Verzweiflung stürzte ich nun in das Museumsgebäude, durcheilte die Ausstellungssäle, vorbei an wilden ausgestopften Löwen, Uhus und Schnabeltieren, und versteckte mich schließlich im letzten Winkel hinter einem riesigen wohlpräparierten Albatros.Doch meine Jägerin fand mich und brachte mich mit einem gezielten Schuss aus ihrer Imipolex G-Pistole zur Strecke, gerade als ich erneut zur Flucht ansetzen wollte. Augenblicklich erstarrte ich zu einer naturnahen Spontanplastik. Meine Schöpferin gab mir den Titel: »Der Jahrhundertschritt (flüchtend)«. Sie wollte mich gerade als Jagdtrophäe auf die Schulter laden und fortschaffen, als plötzlich zwei altgediente grimmig blickende Museumswärterinnen im Türrahmen des Ausstellungsraumes auftauchten: »Was machen Sie denn hier?«»Ä-hm«, stotterte Professorin Isolde Jamf, »Ich möchte lediglich meine entlaufene Plastik hier wieder mitnehmen.«»Na lassen Se die mal scheen stehn da!«, sagte die Oberwärterin und wedelte bedrohlich mit dem Oberschenkelknochen eines ausgestorbenen Säbelzahntigers. Sie trat näher, betrachtete und befühlte mich an allen möglichen Körperstellen und sagte dann. »Des is een Schdick Naduur, ganz eindeudich, des bleibt hier!« Die Imipolex-G-Spraydose war mittlerweile leer und so muss te Isolde Jamf das Naturkundemuseum nach kurzer fruchtloser Diskussion mit leeren Händen verlassen.Da stand ich nun also, genau an der Schnittstelle zwischen Natur und Kultur - in einer verstaubten Vitrine für federlose Zweibeiner und fristete meine museale Existenz. Schulklassen zogen an mir vorüber, lasen laut das kleine Täfelchen vor, das an meiner Vitrine angebracht war: »homo sapiens mondaugensis - taucht auf im Holozän« und bestaunten dieses echte Stück mumifizierte Natur neben all den anderen echt natürlichen Plüsch-Exponaten aus der weltweiten Flora und Fauna.So hätte ich vermutlich noch den Rest des 21. Jahrhunderts mit musealer Selbsterfahrung zugebracht, wenn nicht justament auch in Deutschland die BSE-Krise ausgebrochen wäre, woraufhin der Direktor des Naturkundemuseums vom örtlichen Schlachthof ein einmaliges Sonderangebot erhielt: eine ganze Herde hervorragend präparierter Fleischrinder zum einmaligen Notschlachtungspreis von fünf Mark das Stück. Der Museumsdirektor, ein Exil-Schweizer, erinnerte sich mit Wehmut an das Kuhglockengebimmel seiner Schweizer Almen-Kindheit, überprüfte noch einmal den Museums-Etat für das laufende Haushaltsjahr und entschloss sich schließlich zum Ankauf der 112 ausgestopften Kühe mit den so (rinder-)wahnsinnig treu blickenden Augen!Da die 112-köpfige Herde nun aber auch untergebracht werden musste, wurde es plötzlich sehr eng im Naturkundemuseum, woraufhin sich der Direktor entschloss, einige in ihrem Natur-Status doch eher zweifelhaften bisherigen Ausstellungsstücke als Dauerleihgabe dem örtlichen Volkskundemuseum zu vermachen. Im Gefolge dieses Beschlusses wechselte ich alsbald in einer Nacht- und Nebelaktion von einem Stück naturkundlicher Natur zu einem Zeugnis volkskundlicher Kultur. Als solches erhielt ich meinen Vitrinenplatz nun zwischen afrikanischen Geister-Statuen, kula-tauglichen Einbaum-Kanus aus der Südsee, obskuren karibischen Voodoo-Gegenständen und sibirischen Zauberkleidern aus einer vergessenen Mosfilm-Produktion.Leider war es gerade wie immer kurz vor Weihnachten - kaum noch ein Besucher verlief sich in die städtischen Museen, und die wenigen, die kamen, zeigten kein Interesse an mir, einer vulgären blau bekittelten Hausmeister-Statue. Der einzige Mensch, der sich wirklich noch für mich interessierte, war eine junge Aushilfs-Garderobiere mit wundersamen Krähenaugen, die nebenbei angewandte Medienpsychiatrie studiert. Sie schlenderte jeden Abend nach Dienstschluss an mir vorüber und warf mir vielsagende Blicke zu, welche ich zu erwidern versuchte, so gut man eben Blicke erwidern kann, wenn man gerade eine Statue ist und keine langen Sätze machen kann.Schließlich rückte der heilige Abend heran, die Stunde der höchsten Einsamkeit für alle einbalsamierten Museums-Exponate der westlichen Hemisphäre. Ich stand still und verlassen im dunklen Leipziger Volkskundemuseum zwischen musealen Folkloregegenständen aus aller Herren Länder, während draußen in der wahren Welt die weihnachtliche Real-Folklore ablief. - Da krachten plötzlich die Fensterscheiben und eine schwarze Weihnachtskrähe stürzte in den Raum. Sie verwandelte sich in meine Garderobiere, schlüpfte flugs in ein herumhängendes tuwinisches Schamaninnen-Gewand und begann, mit der Infrarotschnittstelle ihres Schamanen-Handys diverse Revitalisierungsmaßnahmen an meinem plastifizierten Körper vorzunehmen. Tatsächlich veränderte sich plötzlich mein medialer Aggregatszustand: Ich verlor meine naturnahe Imipolex-Gestalt und wurde wieder zu einer frei flottierenden literarischen Randfigur.Am Ende dieser vertrackten Weihnachtsgeschichte stand ich verwirrt da mit meiner Garderobiere, einem erschlafften Spannungsbogen und einem wundersam natürlichen Garderobenständer.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.