Jahrelang habe ich mich mit den brennendsten methodologischen Problemen der Geschichtswissenschaft beschäftigt. Ich räsonierte über den »Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. Ich habe die avanciertesten Theorie-Versionen des »posthistoire«, der »oral history« und der »Metahistory« rezipiert, bin im Halbschlaf Walter Benjamins Engel der Geschichte begegnet und diskutierte im Traum sogar mit dem alten Schorsch Simmel über die dritte Fassung von dessen Thesen zur Geschichtsphilosophie. Es hätte noch ewig so weitergehen können. Doch angesichts der bevorstehenden Jubiläen habe ich nunmehr beschlossen, alle meine theorielastigen Skrupel beiseite zu wischen und endlich auch »meine Wahrheit« über die geschichtlichen Ereignisse vom »Herbt 89« zu Papier zu bringen und der Nachwelt zu übereignen.
Ich erinnere mich noch genau: Es war im Frühling 1989, als ich in einem »verplombten Güterwagen« der Deutschen Reichsbahn bei Nacht und Nebel aus meinem »Schweizer Exil« zurückkehrte. Eigenhändig und völlig unbemerkt von den argwöhnischen Augen der Grenzsicherungsorgane der DDR schoben Rudolf Bahro, Wolf Biermann und Stefan Krawczyk meinen einsamen Waggon in der Nähe von Marienborn durch den »Eisernen Vorhang«. Aktivisten der ökologischen Widerstandsbewegung aus Leipzig nahmen mich in Empfang. Mittels eines geborgten Polski Fiat machten wir uns auf Schleichpfaden auf den Weg in die sächsische Heimat. Es war in einem Dorfkonsum bei Altenburg, wo wir dank einer glücklichen Fügung in den frühen Morgenstunden sechs Flaschen Rotwein der Marke Stierblut erstehen konnten. Angekommen in Leipzig, steuerten wir zunächst die kirchlichen Gemäuer der oppositionellen »Umweltbibliothek« an. Dort wurde ich bereits sehnsüchtig von einem Dutzend handverlesener DissidentInnen erwartet. Mittels der sechs mitgebrachten Flaschen Stierblut feierten wir gemeinsam und überschwenglich meine glückliche Ankunft und die bevorstehende »friedliche Oktober-Revolution«. Ich überreichte feierlich eine alte, leicht zerschlissene Bundschuh-Fahne aus dem letzten Bauernkrieg und 40 politisch brisante T-Shirts mit »abstürzenden Sputniks«. Angelockt von den fröhlichen Trinksprüchen des vormittäglichen Dissidenten-Gelages drückten sich plötzlich 30 auffällig-unauffällige Observanzen des MfS unter unserem Fenster herum. Schnell kämmte ich mir einen Seitenscheitel, klebte mir einen falschen Bart an und verließ das Haus durch den Hintereingang. Ich beschloss, mein konspiratives Hauptquartier im allseits beliebten Café Wilhelmshöhe aufzuschlagen. Von dort aus organisierte ich incognito und über diverse Mittelsmänner und -frauen zunächst den »Pleißemarsch« und das »1. Illegale Straßenmusiskfestival von Leipzig«. Der Genosse Erich Mielke sah sich daraufhin gezwungen, das gesamte »Schalmeienorchester des Wachregiments Felix Dzierzynski des Ministeriums für Staatssicherheit« in die Messestadt zu entsenden. Die chic uniformierten Musikanten trafen mit zwei armeegrünen Ikarus-Bussen ein, nahmen am Ufer der zubetonierten Pleiße Aufstellung und spielten zwei Wochen lang nonstop Erste-Mai-Shantys aus Mielkes Rotfrontkämpferbund-Zeit, womit sie ins Guiness-Buch der Rekorde eingehen sollten. Diese Aktion brachte jedoch »das Fass zum Überlaufen«. Tausende entnervte Anwohner begingen in den nächsten Wochen via Ungarn »Republikflucht«.
Der Sommer wurde heiß und die Sicherheitsorgane sichtlich gereizter. Ich musste täglich meine Identität wechseln, um nicht verhaftet zu werden. Als »kollektiver Propagandist, Agitator und Organisator« stand ich - wie Lenin es mich gelehrt hatte - so manche schwüle Augustnacht schwitzend in einer Connewitzer Kellerwohnung an einer »Ormik-Presse« und druckte aufwieglerische Glasnost- und Perestroika-Flugblätter. Dabei sang ich feindlich-negative Lieder gegen die Staatsmacht, Tapeten-Kutte und diverse Betonköpfe. Ab und zu brachte mir Oma Kaschubeit von oben ein Glas Rhabarbermost herunter. Auf illegalen Punk-Konzerten und in den Klubs der Volkssolidarität sammelte ich »Eine Mark für Espenhain« und agitierte sogar in der Gartensparte »Roter Sheriff« des Volkspolizeikreisamtes und bei den Küchenfrauen der Bezirksparteischule. Dazwischen lagen stundenlange basisdemokratische Diskurse an den nächtlichen Küchentischen der Opposition, illegale Plakatklebe-Aktionen, und das systemkritische Fotografieren maro der Kraftwerksanlagen im Leipziger Süden. Kurz: Es war eine aufregende, dramatische, sich überstürzende Zeit. Immer stand ich kurz vor meiner endgültigen Einlieferung in die »Runde Ecke«. - Ich erinnere mich an beinahe täglich wechselnde Wohnungen, in denen ich auf möglichst konspirative Weise (!) mit friedlichen Revolutionärinnen aus allen Leipziger Bevölkerungsschichten schlief (falls ich mich recht entsinne)! - Dann kamen die Friedensgebete, die ich aus strategischen Gründen nun vom Café Corso aus organisierte, und wo ich ob meines einnehmenden Wesens den dortigen »burschikosen Kellnerinnen« (ach, wer erinnert sich noch der guten alten Zeit!) schon bald ans Herz beziehungsweise an den Busen gewachsen war. Ich bekam extra schnell und extra stark gebrühte Kaffeetassen, die mir zu manch genialem revolutionsförderndem Einfall verhalfen. So gelang es mir zum Beispiel, die Staatsmacht lange Zeit mit der gezielten Desinformation zu verwirren, es handle sich bei den montäglichen Menschenansammlungen in und an der Nikolaikirche gar nicht um »echte Demonstrationen«, sondern lediglich um die »Dreharbeiten für einen Film«, der »Nikolaikirche« heißen sollte und eine Koproduktion zwischen dem Fernsehen der DDR und der ARD war, die im Rahmen des deutsch-deutschen Kulturaustausches »von ganz oben« genehmigt worden war. Ehe die örtlichen Einsatzleitungen von VP und MfS mitkriegten, dass es sich bei den Montagsdemonstranten »nicht« um bloße »unbescholtene Komparsen« handelte, hatte sich bereits eine »revolutionäre Eigendynamik« entfaltet, die nicht mehr zu stoppen war.
Schließlich - in seiner verzweifelten Lage und unter Vermittlung von Kurt Masur - bat mich der stellvertretende Bezirksparteichef von Leipzig, der legendäre Roland Wötzel, zu einem »informellen Gespräch«. Er wollte die Macht möglichst schnell und friedlich an die Opposition übergeben und damit der neuen, gar wundersamen »Dialektik von PK und PV« entsprechen. Wir trafen uns incognito auf dem letzten vorwendelichen Leipziger Wildparkfest. Bei einem Glas volkseigenem Reudnitzer Bier sprachen Roland Wötzel, Kurt Masur und ich das Szenario für den bevorstehenden 9. Oktober durch. Ich erinnere mich wie heute: Es war beim Klang einer echten tschechischen Blaskapelle, die vor einem begeisterten, durchschnittlich 70jährigen Publikum gerade den »König vom Böhmerwald« spielte, als ich den berühmten Satz aussprach: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!« Daraufhin legte Wötzel die rechte Hand an sein abgewetztes Parteiabzeichen und gab mir und Masur sein »Großes Pionierehrenwort«, dass von diesem Tage ab die »Diktatur des Proletariats« in Leipzig friedlich beendet sein würde.
Schizogorsk (Paranoiskij Oblast), den 26. September 1999
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