Melchior v. M.

KEHRSEITE Randerscheinungen der Literaturgeschichte

Melchior von Mondaugen" - Der Name war mir in einer lädierten Fußnote einer alten Schwarte im hintersten Winkel eines zerschlissenen Leipziger Antiquariats begegnet. Ich kaufte das Buch, verließ das Geschäft und hatte die Existenz des Ladens (und der Buchstadt Leipzig) für einen weiteren Kalendertag gesichert.

Sogleich machte ich mich mit meinem Fund auf in die heiligen Hallen der Deutschen Bücherei. Dort wollte ich mehr über meinen Namensvetter erfahren. Vier Stunden lang rutschte ich wartend und höchst aufgeregt auf der harten Bank in der Eingangshalle des altehrwürdigen Gebäudes hin und her. Dann eilte ich zur Bücherausgabe und verlangte die bestellten Schinken. Das Fräulein Bibliothekarin schaute mich durchdringend und ungläubig an und verwies mich kopfschüttelnd in das legendäre "Giftkabinett" ganz oben unter dem Dach der Bücherei. Ich rannte erst große, dann immer schmaler werdende Treppen Richtung Himmel. Nach fünf Umdrehungen auf der gusseisernen Wendeltreppe befand ich mich endlich leicht duselig im literarischen Hochsicherheitstrakt der Deutschen Bücherei, - genau dort, wo noch vor wenigen Jahren nur ausgewählte und ideologisch gestählte Kader die Werke diverser "revisionistischer Renegaten" der Großen Rosaroten Lehre, profunde Westpornos und die Umweltdaten der DDR (GVS) hatten einsehen können.

Ehrfürchtig nahm ich von einem älteren Mann meinen bestellten Stapel mit bibliographischen Kostbarkeiten entgegen und setzte mich in den kleinen Leseraum genau unter dem Dach des gewaltigen deutschen Büchertempels.

Da war ich nun also allein mit den archivarischen Überresten meines Ur-Ur-Ur...Urgroßvaters und las, was die Literaturwissenschaft einst über ihn vermerkt hatte: Ein Großonkel der Gebrüder Grimm erwähnte in seinem 1791 veröffentlichten Buch Die Anfänge des teutschen Bardenthumes eben jenen Melchior von Mondaugen als Zeitgenossen der mittelalterlichen Minnesänger. Melchior von M. sei jedoch, so der Autor, offensichtlich der Schrift unkundig gewesen, was die geringe Zahl der erhalten gebliebenen Fragmente erklärte. Gerade wegen seiner vollständigen Illiteralität stände Melchior jedoch ganz authentisch in der rein mündlichen Überlieferungstradition des freien deutschen Bardentums. Eng verbunden mit den (bio-)bäurischen Elementen der deutschen und westslawischen Volkskultur hätte er sich wohl manche dichterische Witzeleien über die abgehobene ("apollinische") höfische Minnesänger-Kultur seiner Zeit erlaubt.

In einem (freilich zweifelhaften) literaturwissenschaftlichen Werk von 1659 fand ich anschließend die Darstellung eines bisher unbeachtet gebliebenen Sängerkrieges unweit von Borna im Sächsischen. Dort hatte am 24. September 1209 Melchior Mondaugen (Der Adelstitel "von" muss als eine ironische Selbststilisierung des mündlichen Rhapsoden gewertet werden.) den vorbeireisenden Walther von der Vogelweide gestellt und vor den Augen der werktätigen sächsischen Bevölkerung zum Dichterwettstreit herausgefordert. Die einzigen (freilich nicht gesicherten) Überreste dieses poetischen Events sind vier Zeilen, die ein zufällig anwesender Wander-Mönch anschließend in seine Missionskladde geschmiert hatte. Die folgenden Zeilen stammen von Melchior und beziehen sich offensichtlich ironisch auf ein Gedicht des Großen Walther:

"Ich saz ûf ehme Steene
un wockelte mit de Beene,
do kom de grôte Walther,
un wünn er kommt, donn knallt er ..."

Der Verfasser einer volkskundlichen Abhandlung aus der Zeit der Aufklärung schrieb dem analphabetischen Dichter Melchior von Mondaugen große Verdienste bei der Vermittlung von slawischem und deutschen Erzählgut zu. Ein (allerdings reputationsloser) Spezialist für frühmittelalterliche Literaturgeschichte hält Melchior von Mondaugen sogar für den Schöpfer des Anfang des 9. Jahrhunderts erstmals verschriftlichten Hildebrand-Liedes. Träfe dies zu, müsste es sich bei meinem Ur-Ur-Ur...Urgroßvater freilich um einen zeitresistenten Wiedergänger handeln.

Melchior von Mondaugen - ein unsterblicher Barde? Tatsächlich galt Melchior von Mondaugen in gewissen Freimaurerkreisen des 19.Jahrhunderts sogar noch als Autor des ausschließlich mündlich tradierten Eso-Epos "Faust III" - Wenn dies stimmen sollte, und einige Quellen deuteten darauf hin, dann war es gut möglich, dass mein Ur-...Urgroßvater Melchior vielleicht immer noch lebte und unter uns weilte?! Fieberhaft durchsuchte ich noch einmal meinen Bücherstapel nach verlässlichen Angaben zu Melchiors Aufenthaltsort. Der letzte Eintrag zu diesem Thema stammte vom 4.3.1734 aus der Heimatchronik des Dorfpfarrers zu Mutzschen: "Nach dem Berichte eines wandernden Handwerksgesellen vom vorgestrigen Tage soll sich der vielgesuchte und unerhörte Spielmann M. v. Mondaugen in einem Waldstücke bei Grimma umherthümmeln."

Schnurstracks verließ ich die Deutsche Bücherei und begab mich mit der Vorortbahn ins mittelsächsische Muldental. In freudiger Erwartung rannte ich durchs Unterholz, meine Lungen pfiffen, das Gesicht war zerschrammt. - Doch plötzlich stand er im tiefsten Dickicht des Waldes unvermittelt vor mir und reichte mir die Hand: "Melchior von Mondaugen, Perchtenläufer und Waldschrat-Rhapsode, Bundschuh-Revolutionär und Barde des siebenten Regenbogens - Guten Tag!" Melchior hielt eine singende Säge in den Händen und hatte ein grünes Dissidenten-T-Shirt an. Darauf stand mit schwarzen Lettern: "Erwin Strittmatter lebt! Oder war es Heiner Müller?!" (oder so was ähnliches)

"Na ja", sagte ich, "mein Name ist auch Mondaugen! Ich habe schon viel über Sie gelesen, Herr Ur-Ur-Urgroßvater."

Der große Melchior war überrascht, schloss seine Augen und repetierte leise die mondäugische Abstammungslinie durch: "... und Erwin nahm sich eine Frau namens Hedwig und die zeugte eine Tochter namens Ilses Erika, und Ilses Erika nahm sich einen Mann, der hieß Igor und war der Dichter des Igorliedes, und sie zeugten einen Sohn ..." Und schließlich, nach einer guten Viertelstunde voller Namen, Dichtungen und Zeugungen kam Melchior mit seiner Erinnerungsarbeit endlich bei mir an: "...und sie lebten so vor sich hin und erzählten Geschichten und zeugten Kurt ... - Ach, du bist Kurt?!!!" - Meinem Melchior-Großvater traten die Tränen in die Augen und er umarmte mich: "Junge!"

"Wie geht es dir?", fragte er nach einer Weile und schaute mir fest in die Augen. "Na, ja ...", sagte ich und fing an, meinem mythischen Vorfahren die diffizilen politischen, sozialen, ökologischen und mentalen Probleme des vergangenen Jahrtausends zu erläutern. Ich berichtete von der fehlenden Dialogfähigkeit der Menschen mit der Baum- und Vogelwelt ebenso wie mit ihres(meines)gleichen. Gerade als ich mich mit Eifer daran machte, meine kommunikationstheoretische Fundamentaltheorie zur Erklärung sämtlicher Grundübel der west-östlichen Zivilisation (FEGWÖZ) vorzutragen, unterbrach mich mein bardischer Vorfahre:

"Mit Theorien kenne ich mich nicht so aus - mehr mit Geschichten und Liedern! Aber vielleicht kann ich dir trotzdem helfen!" Mit diesen Worten reichte er mir eine alte Spielmanns-Leier, nahm selbst seine singende Säge zur Hand und begann, nach traditionellem Stabreim-Muster eine alte westslawische Bauerngeschichte aus der Zeit vor der Dreifelderwirtschaft in einer aktuellen Cover-Version vorzutragen. Der Gesang tat seine ganzheitlich-halluzinogene Wirkung. Ich merkte, wie ich mit den vorbeifliegenden Vögeln zu reden begann. Eine nahestehende Rotbuche verwickelte mich in ein ambivalentes Gespräch über Runen, die Erfindung des Buchdrucks und dessen Folgen. Unterdessen wurde der Sound von Melchiors Ballade härter und meine Leier verwandelte sich in eine E-Gitarre. Eine Plattenfirma namens "Behind the Götzendämmerung Ltd." tauchte auf und begann ungefragt, unsere vage traditionsverhaftete mündliche Darbietung aufzunehmen.

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