Mord im Orientexpress

Es war nach der letzten großen Montagsdemo gegen den Irak-Krieg auf dem Leipziger Innenstadtring, als ein Abgesandter des örtlichen ...

Es war nach der letzten großen Montagsdemo gegen den Irak-Krieg auf dem Leipziger Innenstadtring, als ein Abgesandter des örtlichen Taubenzüchtervereins »Grüner Halbmond Connewitz« auf mich zu trat. Er drückte mir einen großen Vogelkäfig mit elf Friedenstauben in die Hand sowie ein Ticket für den nächsten Orientexpress Richtung Bagdad. Kurz entschlossen lief ich zur Bahnhofsbuchhandlung, kaufte mir Goethes west-östlichen Divan und bestieg noch am selben Abend die Bagdadbahn.

Ich hatte Platz Nr. 15/41 erwischt und teilte mir das Zugabteil mit vier Männern und einer Frau. Als der Express am nächsten Morgen durch die Weiten der ungarischen Puszta rauschte, hatte ich bereits kurz Bekanntschaft mit meinen Reisegefährten geschlossen: Der etwas korpulentere ältere Herr ganz rechts am Fenster war Hercules Poirot, pensionierter Kriminalinspektor aus Belgien. Er hatte einen liebenswerten französischen Akzent und las die meiste Zeit schmunzelnd Agatha-Christie-Krimis. Zwischen ihm und mir saß seine reizende Nichte Natascha-Lou Salomé, Psychotherapeutin und Altphilologin aus Genf, die ihren Onkel auf seiner inspektiven Studienfahrt ins Morgenland begleitete und sich gerade mit Nietzsches Also sprach Zarathustra herumschlug. Genau gegenüber hatte ein deutscher Sportlehrer mit grau melierten Haaren Platz genommen. Er kam mir irgendwie bekannt vor, wollte aber verdächtiger Weise seinen Namen nicht verraten und las die meiste Zeit schweigend in: Das Mekka des Doppelpass. Der arabische Fußball und der Koran. Direkt neben ihm saß Scheich Kara Ben Nemsi aus Medina. Er trug einen Button von Karl May am Turban und schwartete sich Durch das wilde Kurdistan. Ganz außen am Fenster schließlich kauerte, leicht eingequetscht, ein amerikanischer Rentner namens Ronald Rums Rumsrumsfeld. Anders als die der Buchkultur hoffnungslos verfallenen Alteuropäer und Altaraber im Zugabteil interagierte der alte Rumsrumsfeld die ganze Fahrt über mit einem martialischen Gameboy.

Je näher wir dem Bosporus kamen, um so nervöser wurde Rumsrumsfeld und malte mit hektischen Bewegungen mystische arabische Kalligraphien auf die beschlagenen Fensterscheiben. Schließlich, als Scheich Kara Ben Nemsi und der namenlose Sportlehrer für einen Moment aus dem Abteil waren, hörte ich Rumsrumsfeld ängstlich zu Hercules Poirot flüstern: »Inspektor, ich glaube, man will mich ermorden!« »Oh la la, mon Dieu, werr will Sie ermorrden?«, fragte Hercules Poirot erstaunt zurück. In diesem Augenblick kehrten Kara Ben Nemsi und der Sportlehrer wieder zurück und Rumsrumsfeld verfiel in tiefes Schweigen, während der Zug bereits in Istanbul einfuhr. Auf dem Bahnhof war mächtig was los. »Sieh mal, Natascha-Lou«, bemerkte Hercules Poirot zu seiner Nichte, »da draußen, das sind die berühmten Republikanischen Garden von Saddam Hussein. Wie isch sehe, haben sie gerade Ausgang gehabt. Sie waren bestimmt in den berühmten Puffs und Pubs von Byzanz und Konstantinopel! Aber jetzt, geht´s wieder nach Hause, Jungs! Auf nach Bagdad!« Tatsächlich enterten knapp hundert leicht bekiffte irakische Garde-Soldaten den Orientexpress, setzten sich brav auf die vom Zugpersonal zugewiesenen Plätze und schliefen erschöpft vom Freigang ein. Bald darauf wurden auch in unserem Abteil die Lichter gelöscht, während der Expresszug seinem Ziel entgegen durch die anatolische Hochebene rollte ...

Am nächsten Morgen weckte mich Hercules Poirot: »Unser amerikanischer Freund, Monsieur Rumsrumsfeld ist weg! Wissen Sie, wo er ist?« »Nein, nein«, stotterte ich und sah mich bereits unter Mordverdacht. »Nun denn, Monsieur Mondaugen, helfen Sie uns, ihn zu suchen«, hauchte mir Natascha-Lou Salomé ins Ohr. Da hörten wir vom Ende des Ganges ein gewaltiges Geschrei. Wir stürzten los und trafen auf 93 irakische Elitesoldaten, die laut fluchend, mit eingeknicktem Unterleib und vor Anstrengung hervorquellenden Augen die Toilettentür umlagerten. Sie mussten offensichtlich dringend pinkeln, aber das einzige Klo im Waggon war seit Stunden blockiert und irgendeine unbekannte Sure des Koran verbot ihnen, aus den Fenstern des fahrenden Expresszuges zu urinieren, vermutlich deshalb, weil sich Frauen an Bord befanden. »Isch ahne Schlimmes«, seufzte Hercules Poirot, »Natascha-Lou, kümmer´ dich bitte um die armen Menschen.« Augenblicklich begann Natascha-Lou mit einer Mischung aus orientalischem Bauchtanz und verwirrenden sokratischen Argumentationsketten die grollenden Angehörigen der Republikanischen Garde in den dritten Erleuchtungszustand der neungliedrigen Sufi-Meditation zu versetzen. Dies nutzte Hercules Poirot, um sich durch die Soldatentraube hindurch bis zur Klotür vorzukämpfen und daran zu horchen. - »Er lebt noch! Geht es Ihnen gut, Monsieur Rumsrumsfeld? Kommen Sie raus, hier sind nur nette Menschen, errlisch!« Keine Antwort - nur ein leises ängstliches Wimmern hinter der Tür!

»Onkel Hercules, ich glaube, das ist jetzt meine Aufgabe«, entschied Natascha-Lou und begann mit einer ausgefeilten tiefenpsychologischen Hypnosetechnik durch die Klotür hindurch nach dem verschütteten inneren Kind von Ronald Rums Rumsrumsfeld zu fahnden. »Ich glaub, ich hab´s«, sagte sie nach einer Weile mit einem zufriedenen Freudschen Lächeln: »Als Sechsjähriger hat der kleine Ronald von seiner Mutter den Kleinen Muck vorgelesen bekommen. Er fand das Märchen so toll, dass er zum nächsten Schulfasching mit Turban gegangen ist. Leider kannten sich seine Mitschüler bei Hauffs Märchen nicht so gut aus. Sie haben den kleinen Ronald ausgelacht und noch Jahre später auf dem Schulhof hinter ihm her gerufen: Salamaleikum Hussein! Ich glaube unser Ronald fühlt sich seit seiner Kindheit ganz tief missverstanden, stimmt´s Ron?! - Du bist in Wirklichkeit der kleine Muck und heißt nicht Hussein!« Natascha-Lou hatte offensichtlich die erlösenden Worte gesprochen, der kleine Muck, alias Ronald Rumsrumsfeld, nicht alias Hussein, öffnete die Tür. Er hatte sich als Zeichen seiner neuen Identität in professioneller Weise die ganze Klopapierrolle als Turban um den Kopf gewickelt.

Plötzlich gab es einen gewaltigen Ruck im Zug. Scheich Kara Ben Nemsi hatte draußen vor dem Fenster seine verschollen geglaubte Stute Rih vorbei galoppieren sehen und die Notbremse gezogen. Im selben Augenblick war die Wirkung der Sufi-Meditation bei den Soldaten aufgehoben. Die versammelten republikanischen Garden stürzten mit wehenden Hosenlätzen aus dem Zug, dankten Allah für ihre Rettung und erleichterten sich in den Weiten der irakischen Wüste.

»Ich glaube, ich weiß, was jetzt dran ist«, hörte ich plötzlich die Stimme des deutschen Sportlehrers neben mir. Er hatte einen Fußball unter den Arm geklemmt und überreichte dem kleinen Muck zwei wunderschöne vorderasiatische Fußballpantoffeln. Jetzt erkannte ich ihn: Es war Bernd Stange, der ostdeutsch-irakische Nationaltrainer, der jetzt den kleinen Muck an die Hand nahm und mit ihm hinausging, ein großes Fußballfeld in den heißen Sand zu zeichnen. Eine viertel Stunde später spielten die elf besten irakischen Garde-Fußballrecken mit elf Leipziger Brieftauben auf den Schultern gegen das transatlantische Dream-Team mit Hercules Poirot als Torwart, Bernd Stange, Natascha-Lou und mir als Verteidigern und dem kleinen Muck als einsamem Mittelstürmer. Kara Ben Nemsi war Schiedsrichter und achtete darauf, dass die Partie am späten Abend mit einem fairen Ausgleich endete.

Das geschah genau im selben Moment, als am dunklen südlichen Horizont die ersten Einschläge amerikanischer Flächenbomben auf irakische Flakstellungen als große rote Blitze aufleuchteten. Da schwang sich der mutige Kara Ben Nemsi auf seine Stute, öffnete Band 38 seiner Karl-May-Gesamtausgabe und zitierte, während er dem drohenden Express-Mord im Orient entgegen ritt, sein eigenes tiefsinniges Zitat: »Wir sind der Überzeugung, dass wir unter einer allliebenden und allweisen Führung stehen, die für uns das Unheil in Heil, das Unglück in Glück verwandelt ...«

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