ALLTAG Unlängst erreichte mich und meine derzeitige spirituelle Lehrmeisterin Natascha Lou Salomé ein dringendes Telegramm. Darin lud man uns zu einer ...
Unlängst erreichte mich und meine derzeitige spirituelle Lehrmeisterin Natascha Lou Salomé ein dringendes Telegramm. Darin lud man uns zu einer außerplanmäßigen Kultusministerkonferenz ins sächsische Bildungsministerium ein.
Schon an der Eingangspforte des Regierungspalastes empfing uns der sächsische Bildungsminister höchst persönlich. Er blickte um sich wie ein gehetztes Stück Wild. - Keine Spur mehr von seiner sonstigen meta-pädagogischen Selbstsicherheit! - Der Minister warf sich vor Natascha-Lou auf die Knie, ergriff ihre zarte linke Hand und flehte sie an: »Sie müssen uns helfen, Madame! Sie sind unsere letzte Hoffnung!« Und schluchzend berichtete er von einer katastrophalen Epidemie, die sämtliche sächsis
#228;chsische und außersächsische Grundschulen dieses Landes unlängst ergriffen hatte, und die in Fachkreisen als Pokémanie bzw. Pokémonoia bezeichnet wurde: Ein nicht enden wollender Schwall fremdartig-pokémonischer Laute ergoss sich seither in die niederen deutschen Bildungsanstalten. Abstruse Worte, die wie eine Mischung aus Oxford-Russisch und Vulgär-Esperanto klangen, schwirrten durch die schwarze, rote und grüne pädagogische Luft: Glumanda onix machollo. Rattikarl maschock traumato. Pikachu machomei porygon. Die Erst- bis Viertklässler waren einer radikal (rattikarl?) neuartigen Sprache, einer bisher völlig unbekannten Art des symbolischen Interaktionismus verfallen. Seither verstanden die Grundschullehrer die Welt ihrer Schüler (und damit ihre eigene) überhaupt nicht mehr. Es war, als würden sich die beiden sozialen Gruppen, die der Erwachsenen und die der Kinder, von nun an endgültig in hermetisch voneinander abgetrennten Pa ralleluniversen bewegen!Die Kulturindustrie hatte erbarmungslos zugeschlagen: Sie hatte die Ankunft der Pokémons werbemäßig dermaßen durchgestylt, dass bei der nachwachsenden Generation ein neues unkontrollierbares Sprachspiel in Gang gesetzt wurde, demgegenüber offensichtlich sämtliche etablierten pädagogischen Strategien des sächsischen Bildungsministeriums versagten. Deshalb also rutschte der Minister wimmernd vor Natascha-Lou und mir auf den Knien herum und bettelte, wir mögen uns der Sache annehmen und zu Forschungszwecken in das Universum der kulturellen Selbstverständlichkeiten der pokémon-besessenen Grundschul-Kids dieses Landes eintauchen.»Nun gut«, sprach Natascha-Lou, »wir brauchen einen fensterlosen Raum und dazu alle Materialien, die Sie über die Pokémons auftreiben können!«Am Abend war es dann soweit: Natascha-Lou und ich streiften Pokémon-T-shirts über, setzten Pokémon-Base-caps auf und ließen uns für eine Woche in eine fensterlose Abstellkammer des sächsischen Ministeriums für Bildungssicherheit einschließen. In dem Raum liefen permanent und mit beträchtlicher Lautstärke diverse Pokémon-Videos. Darüber hinaus gab es zwei PC's samt Cyber-Besteck, die zum interaktiven Pokémon-Spiel einluden. Der Rest des Raumes war ausgekleidet mit riesigen Pokémon-Postern. Auf Tischen und Stühlen stapelten sich einige Dutzend unter pädagogischer Lebensgefahr konfiszierte Pokémon-Sammelalben, -Fan-zines, Spielkarten und -Bücher sowie ca. 50 Kilogramm Pokémon-Süßigkeiten. Kurz: es waren optimale Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Natascha-Lou und ich uns in einem einwöchigen Crash-Kurs die entsprechenden Medien- und Geschmackskompetenzen in Bezug auf das Pokémon-Phänomen aneignen konnten. Ich musste wohl sehr verunsichert wirken, denn meine Meisterin schaute mir tief in die Augen, drückte meine rechte Hand und riss mich dann mit sich in die virtuellen Tiefen der Pokémon-Realität.Sämtliche meiner Sinnesorgane wurden von Anfang an extremen Belastungen ausgesetzt: Die Süßigkeiten etwa, die das einzig verfügbare Nahrungsmittel in unserem Pokémon-Labor darstellten, schmeckten schon am ersten Tag erbärmlich, und ich bewunderte Natascha-Lou, wie sie das Zeug gleich pfundweise wegputzte und sich dabei selbstlos stundenlang trashigen Pokémon-Filmen aussetzte. Mit zunehmender Übelkeit ließ auch mein Assoziationsvermögen nach und so manche verzweifelte Stunde brütete ich über den glitzernden Bildchen eines Pokémon-Kartenspiels, auf denen so mysteriöse Sätze standen wie diese: »Machomei entsteht aus Machock. Machock entsteht aus Machollo. - Porygon Umwandlung 1: Falls das verteidigende Pokémon eine Schwäche hat, kannst du sie auf einen Typ Deiner Wahl (außer Farblos) ändern!« - Ich spürte, dass ich jeden Augenblick für immer im arbiträren Spiel der Signifikanten verlorengehen konnte. »Pikachu traumato!« murmelte ich in solchen Fällen vor mich hin, was in der Pokémon-Sprache soviel bedeutet wie: »Mein Gott, warum denn bloß?!«Nach einer Woche Pokémon-Trip war es dann endlich so weit: Natascha-Lou und ich verließen unser mediales Refugium. Eine dubiose Institution namens »Gesellschaft zur Förderung der Popkultur« unterzog uns einer harten Trend-Scout-Prüfung im Fachbereich Pokémonoia, die wir mit Ach und Krach bestanden. Anschließend wurden wir auf konspirative Weise in eine Grundschule in Borna bei Leipzig eingeschleust, die besonders hart von der Pokémon-Epidemie erwischt worden war. Auf den Gängen des rustikalen Plattenbaus aus den Siebzigern lungerten trippige Kids herum, die sich in pokémonischer Geheimsprache decibelisch-androide Wortbrocken zuwarfen, die vermutlich nicht einmal der Babelfisch von Douglas Adams hätte übersetzen können.Die Lehrer der Schule hatten sich seit Wochen im Lehrerzimmer verbarrikadiert. Auf der Lehrerzimmertür war ein Totenkopf abgebildet. Darunter hatte die verzweifelte Direktorin in einem letzten Akt von pädagogischem Widerstand mit einem Stück weißer Kreide geschrieben »No Entrance For Pokémons!«Natascha-Lou lächelte nachsichtig, und wir begannen, so unauffällig wie möglich in das pokémonische Diskursuniversum der Erst- bis Viertklässler einzudringen. Im Hinterkopf hatten wir das gesamte Methoden- und Reflexionsrepertoire der Ethnologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Aber es nützte uns nicht viel. Die immensen kommunikativen Abgründe, die sich zwischen uns und den Pokémon-Kids auftaten, ließen sich mit den herkömmlichen Mitteln ethnographischer Feldforschung nicht überwinden. Die Interaktion klappte nicht. Da raunte Lou Salomé mir plötzlich zu: »Du musst loslassen lernen! Du musst lernen, den letzten Rest an methodischer Kontrolle über deine oder ihre Handlungen aufzugeben, um das Pokémon-Phänomen wirklich zu verstehen!«Und so geschah es: Je mehr ich mich dem deep play wirklich hingab, je vorbehaltloser ich in das schrille Geflecht pokémonischer Worte und Gesten eindrang, um so mehr verschwammen für mich die Grenzen zwischen Wirklichkeit und (Pokémon-)Spiel. Am dritten Tag unserer Feldforschungen hatte ich schließlich die Schnittstelle zwischen den Realitäten erreicht: Während eines kurzen Zwischenstopps auf dem Schulklo sah ich nämlich, wie sich ein Schüler der ersten Klasse vor meinen Augen plötzlich und unerwartet in ein mittelmäßig gefährliches Pokémon namens Pikachu verwandelte. Umgehend suchte ich meine Meisterin auf und schilderte ihr schlotternd mein Erlebnis. Natascha-Lou hatte bereits ähnliche Erfahrungen gemacht und wir diskutierten aufgeregt über den ontologischen Status solcher Wahrnehmungs-Events. Aufs Ganze gesehen kamen nur zwei Möglichkeiten in Betracht: Entweder wir standen fürchterlich unter Drogen, Hypnose oder ähnlichem Zeug. Oder aber die Hin- und Her-Verwandlungen der Kinder in Pokémons und wieder zurück waren unhintergehbare Bestandteile der Realität! - Für letzteres sprachen einige andere auffällige Beobachtungen: Die Kids um uns herum versorgten sich beständig gegenseitig mit irgendwelchen bunt gefärbten Pillen, die sie scheinbar wahllos in sich hinein warfen. Diese Pillen ähnelten verdammt jenen lustig gefärbten Hormon-Kügelchen, die der große Sport-Führer Manfred Ewald damals immer an die kleinen Mädchen und Jungen bei der DDR-Kreis-Kinder-und Jugendspartakiade auszuteilen pflegte, damit diese eines Tages Olympiasieger im Schwimmen oder Kugelstoßen würden. Vermutlich hatte Alexander Schalck-Golodkowski die entsprechenden Body-Patente nach der Wende meistbietend an diverse westliche Pharmakonzerne verkauft, welche damit zunächst in der Bodybuilding-Szene die schnelle Mark machten. Als sich dort jedoch die unerklärlichen Todesfälle häuften, drohte das Geschäft mit Hormon-Präparaten zusammenzubrechen. Um die Akzeptanz und den Umsatz von Body-Spaß-Hormonen schlagartig zu steigern, wurde nun die Generation der Sechs- bis Zehnjährigen als Marketing-Zielgruppe ins Auge gefasst. - So kam es zur Erfindung der Pokémons als altersgerechte Werbeträger für hormongesteuerte Selbsttransformationen!Während Natascha-Lou und ich gerade aufgeregt über die komplexen Verschwörungsstrategien der globalen Pharma- und Kulturindustrie nachdachten, kam ein Drittklässler vorbei. Er hielt uns zwei blau-rot gestreifte Pillen hin und fragte: »Wollt ihr mal?« Als wir noch zögerten zuzugreifen, fügte er lächelnd hinzu: »Entropin V. - ist echt gut das Zeug! Einmal Machollo-Maschock-Machomei! Und zurück über Pikachu-Porygon!«
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