Ein verlängertes Märzwochenende haben öffentlich-rechtliche Fernsehsender, nach einem Präludium von Arte, ihre Zuschauer erneut in jene Schlussphase des Zweiten Weltkrieges geführt, als dieser Krieg auf Deutschland und die Deutschen zurückschlug. Die ARD wartete mit dem Spielfilm Die Flucht auf und ließ Die Flucht der Frauen sowie eine Talkshow folgen, in deren Ankündigung das Wort "Versöhnung" nicht fehlen durfte. Regionalsender waren in Bayern, Sachsen und Nordrhein-Westfalen mit Dokumentationen unter den Titeln Flüchtlinge und Vertriebene an Rhein, Ruhr und Weser (WDR) Flucht und Vertreibung. Die Rechtlosen und Die Flucht. Reportage von den Dreharbeiten (BR 3) beteiligt.
Reichlich die Reklame, selten kritische Einlassungen, vielstimmig und doch mit wenigen Ausnahmen lobend das Echo. "Sehenswert, lehrreich, politisch-historisch unanfechtbar", so die Noten eines Urteilenden. Wer etwas auf sich hielt, merkte wenigstens an, dass der behauptete Tabubruch, den die Aufnahme des Themas angeblich bedeutete, ein Etikettenschwindel war. Daran änderten gegenteilige Behauptungen des Historikers Michael Stürmer in der ARD-Sendung Christiansen nichts. Seine Rolle des Jetzt-Endlich-Schwätzers bezeugte Missachtung der Arbeit vieler, die seiner Zunftkollegen eingeschlossen.
Indessen dienten die Legenden vom Tabubruch nicht allein Werbezwecken, sondern gleichfalls der Rechtfertigung dafür, wieder und wieder auf ein Kapitel der Geschichte zurückzukommen und dabei die stets gleiche Perspektive einzunehmen. Es ist seit Jahren die, aus der heraus die Deutschen als Opfer des Faschismus und des Krieges erscheinen und in einer Rangfolge der Opfer nach den Juden Platz zwei besetzen. So unbestritten sich Millionen Deutsche gegen Ende des Krieges in diesen Zustand gestürzt fanden - vordem waren sie freiwillig oder widerwillig Instrumente gewesen. Die Alliierten - nicht sie sich selbst - hatten die Deutschen aus der schändlichsten Rolle befreit, die sie bis dahin in ihrer Jahrhunderte alten Geschichte gespielt hatten - die der Welteroberer.
Sie ritten und sie litten
Vorab bescheinigten Auftraggeber und Produzenten dem Film Die Flucht, dass er den schmalen Grat einzuhalten verstand, der die authentische Darstellung der Geschichte vom Absturz in revisionistische Ausdeutung trennt. Das Werk habe einen "sorgsam austarierten Ansatz" besessen und auch die anderen Angebote, gemeint waren die Dokumentationen, hätten verdeutlicht, dass die Ereignisse des Winters 1944/45 in Ostpreußen ihre Vorgeschichte hatten. Dass ein erheblicher Teil der Zeitgenossen und Nachgeborenen das anerkennt, haben Publikationen wie Europa unterm Hakenkreuz, die Ausstellung Verbrechen der Wehrmacht und unabweisbar Aufklärungen über das an den europäischen Juden verübte Massenmorden bewirkt. Nur wird die Erwähnung von elementaren Wahrheiten bereits als das Maximum des Nötigen und Erreichten angezeigt. Es soll deutsche Meisterschülerschaft bei der "Bewältigung" eigener Vergangenheit beweisen. Doch ist es tatsächlich nicht mehr als das unerlässlich gewordene Minimum, soll Glaubwürdigkeit nicht von vornherein aufs Spiel gesetzt werden.
Was in den Feuilletons über Die Flucht zu lesen war, bezeugte mehrfach, wie weit die Ansprüche herunter gekommen sind. Ein Rezensent fand als einzigen Punkt der Kritik heraus, dass die Hauptdarstellerin für ihre Rolle eine Spur zu schön sei. Schon jene, die fragten, ob die Filmheldin wiederum eine Adlige sein musste, gerierten sich als Gesellschaftskritiker. Doch lief diese Wahl wie die gesamte Handlung darauf hinaus, das Verhältnis der ostpreußischen adligen Großagrarier zum Faschismus zu verfälschen. Das hat immerhin der Freiburger Universitätsprofessor Heinrich Schwendemann deutlich angemerkt. Nicht nur in diesen Passagen war der Film Gegenaufklärung.
Auch der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler formulierte da Einwände. Er fand, was er gesehen hatte, "aufs Ganze akzeptabel" und verwies auf drei beteiligte Fachkollegen, die als Berater mitgewirkt hatten. Eher beiläufig meinte er, ohne Edelkitsch gehe es wohl nicht ab und benotete noch: "Daten, Einordnungen, Kesselbildungen, Ostpreußen, Durchbruch über das Haff und so, das stimmt alles." Unter Dienern der Clio fehlte auch Hans Mommsens Loblied nicht. Dieser Film stelle sicher eine wichtige Form der Vergangenheitsbewältigung dar, zumal es ihm gelungen sei, "das Gleichgewicht der verbrecherischen Handlungen herzustellen", was sich getrost in jene These übersetzen lässt, dass wir doch quitt seien. Zudem dachte er an Polen, wo "immer noch hypertroph nationale Reaktionen ... teilweise vorherrschen" würden.
Vom Karlsruher Professor Peter Steinbach, der zum Beraterstab gehörte, war Kritik nicht erwartet worden. Er zeigte sich vom Resultat im Großen und Ganzen - ein wenig akademische Distanz muss schon eingehalten sein - befriedigt. Zudem verteidigte er die Filmgräfin. Sie gehöre zum Verpflichtungs-, nicht zum Anspruchsadel. Während die erste Kategorie wegen des zum geflügelten Wort gewordenen Wahlspruchs eines französischen Geschlechts - Noblesse oblige - einen gewissen Bekanntheitsgrad aufweist, ist über den zweiten rundweg nichts bekannt geworden. Lexika und andere Handbücher verweigern jede Auskunft. Google versagt auch. Diese Adelssorte ist Steinbachs Erfindung.
Die Filmgräfin gab aber vor allem eine Führergestalt her und sicherte - wie ein Kritiker bemerkte - Bilder, die den Untergang des Reiches ins Heroische tauchten. Sie, die kämpferische Blaublütige, führte die "Parade der stolzen Ostpreußinnen" an, die litten und ritten. Passagenweise wurden Rezensenten "an einen Frauenwestern mit seinen Planwagen und noblen Kämpferinnen erinnert", in dem "statt der Rothaut ... der Rotarmist... als Wilder an sich alles Zivilisatorische in Frage stellt." So eben waren wir Deutschen, und so wollen und sollen wir sein. Niemand hat nach uns wieder so gelitten, sagt eine Zeitzeugin einem Pressereporter, denn heute würden sich doch Psychologen um die Opfer von Kriegen kümmern. Welch eine Phantasie!
Wege übers Land
Bei Sabine Christiansen belehrte Egon Bahr einen polnischen Gast und die Runde, dass man Geschichte nicht ändern könne, sondern sie akzeptieren müsse. Muss man nicht. Aber die Geschichte ist wehrlos, sie lässt sich gefahr- und straflos vergewaltigen. Sie derart zuzurichten, kann freilich von Nachteil sein. Die Methode, die Geschichte - wie Brecht schrieb - mäßig zu entstellen, verspricht mehr Wirkung. Daher wird sie in der Regel auch bevorzugt. Zu dieser Methode gehört auch das Weglassen von Tatsachen und häufiger noch das Unterlassen von Fragen.
Ein Vorwurf, den der Film wie die nachfolgenden Kommentare erhoben, richtete sich an "die Wehrmacht". Sie habe in ihrem blinden Hitlergehorsam versäumt, die Zivilbevölkerung aus Ostdeutschland Ende 1944 rechtzeitig zu evakuieren. Welche Sicht liegt dieser Kritik zugrunde? Die, dass der Krieg weiter geführt werden musste, aber bei Schonung der Zivilisten, der Greise, Frauen und Kinder. Eine wirklich kritische Haltung ist aber erst gewonnen, wenn davon ausgegangen wird, dass dieser Krieg zur Jahreswende 1944/45 beendet werden musste. Verantwortung und Schuld der deutschen Heeresführung lagen ja gerade darin, dass sie - anders als ihre Vorgänger im Ersten Weltkrieg - nicht willens war, das in Korona dem Führerhauptquartier ultimativ zu bestellen. Hätte man kapituliert, bevor die gegnerischen Armeen die Reichsgrenzen erreichten, wäre deren Einmarsch gewiss auch nicht vergnüglich geworden. Aber er wäre - soviel rückwärts gewandte Prophetie ist möglich - anders und jedenfalls glimpflicher verlaufen als die Begegnung mit erbitterten, weiter schwer blutenden Kampftruppen.
Wahr ist, dass die Evakuierungen in Ostpreußen erst stattfanden, als zwei Gesichtspunkte - keineswegs die immer wieder beanspruchte Rettung von Menschenleben - sich in den Vordergrund drängten: Gebraucht wurde Kampfraum, in dem nicht die "eigenen" Frauen und Kinder herumirrten. Und bei den vorhersehbaren Rückzügen und Fluchten der deutschen Truppen sollte der Gegner nur von Menschen entleertes, verwüstetes Gebiet vorfinden.
Ausgelassen wurde im Spielfilm wie in den Dokumentationen auch, dass die Räumung der Ostgebiete wesentlich das Werk mit der Wehrmacht kooperierender lokaler Nazifunktionäre, der Ortsgruppenleiter, Zellen- und Blockwarte der NSDAP, war. Die hatten leichtes Spiel, sich durchzusetzen. Nicht nur, weil sie wussten oder zumindest ahnten, dass es nach den in der Sowjetunion an der Zivilbevölkerung begangenen Verbrechen ohne Exzesse der Rache nicht abgehen konnte. Die Bolschewisten-Furcht war den Deutschen lange vor dem 22. Juni 1941 eingegeben worden, schon in der Frühzeit der Weimarer Republik, als die Sowjetmacht gerade Fuß gefasst hatte. Was sich mit der Erzeugung derartiger Angstpsychosen bewirken lässt, inwieweit diese eine Investition der Herrschenden in die Zukunft darstellen - diese Fragen besitzen einen brisanten Gegenwartsbezug, wenn etwa an die Terroristen- oder Islam-Furcht gedacht wird, die heute zum Standardrepertoire politischer Psychologie gehört.
Ärger als alle Auslassungen, ärger als das Gut-Böse-Dogma des Films, ärger selbst als die Wahl der Opferperspektive ist allerdings die Tatsache, dass das tragische Geschehen europäischer und deutscher Geschichte in einen gedruckten und gesprochenen Wortschwall getaucht wird, dessen Teilnehmer sorgfältig jeden herausfordernden Bezug zur Gegenwart, namentlich zur Realität des Nahen und Mittleren Ostens meiden. Und bedrohlich auf andere Weise erscheint der weithin zu beobachtende, im Echo auf Die Flucht erneut sichtbar gewordene geringe Anspruch an die Künste.
In den sechziger Jahren sendete der Deutsche Fernsehfunk (DFF) in Berlin-Adlershof den Fernsehmehrteiler Wege übers Land, der mit seinem Rückgriff auf deutsche Geschichte, die sich während des Zweiten Weltkrieges im Osten Europas zugetragen hat, eine zeitliche Verwandtschaft zum Film Die Flucht aufweist. Die Handlung beginnt mit dem Einzug einfacher Leute, eines Bauern und seiner Frau, in einen polnischen Bauernhof, dessen Eigentümer gerade vertrieben worden sind. Er setzte so mit der "Germanisierung" jenes Landes ein, von dem zuvor schon gesungen worden war In den Ostwind hebt die Fahnen und Nach Ostland geht unser Ritt. Zur Erinnerung: Die Handlung des ARD-Films eröffnet mit Geschehnissen auf einem seit 600 Jahren in Familienbesitz befindlichen Herrensitz samt Barockschloss. O, quae mutatio rerum!
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.