Wenn ein historisches Ereignis beispiellose Folgen hat wie jenes vom 30. Januar 1933 in Deutschland, dann entsteht um die Übernahme der Verantwortung kein Gedränge. Wer kann, macht sich - vulgo - dünne. Besser noch, er sucht und findet einen "Stellvertreter". Genau der wird von einer einflussstarken Richtung in Publizistik und Geschichtswissenschaft seit Jahrzehnten präsentiert. Zugeeignet wird diese Rolle, wie manches unverlangt schon vorher, "dem deutschen Volk". Das soll, befand in einer Feierrede anlässlich eines Jahrestages auch ein (west)deutscher Bundespräsident, Hitler gewählt haben.
Diese Version entsprach übrigens mit geringfügiger Abweichung der Legende, die Hitler von seinem Aufstieg selbst verbreitet hatte. Aus dem Volke sei er hervorgegangen, von ihm gefunden und auserwählt worden, wie er sich dieses Volk gewählt habe. So hat er das zum "Wunder" erklärte Geschehen mehrfach in Massenversammlungen erzählt. Ich bin bis heute den Text aus meinem Kopfe nicht losgeworden, den ich dereinst im Deutschunterricht zu lernen hatte: "im Volke geboren, erstand uns ein Führer ..."
Revolution von oben
Schon die Nazis vertrauten darauf, dass die Volksgemeinschaft ein paar Zahlen rasch vergessen hatte, etwa die der Wahlergebnisse des Jahres 1932. Im Juli hatte die NSDAP, bei weitem stärkste Partei, 13 Millionen Wähler hinter sich gebracht, das entsprach einem Anteil von 37 Prozent oder - anders gewendet -, es fehlten ihr 14 Prozent, um im Reichstag durch einen Mehrheitsentscheid ihren Führer an die Spitze der Reichsregierung zu setzen. Kommentatoren schrieben, damit sei das Wählerpotential der Faschisten im Volke ausgeschöpft. Das bestätigte sich ein Vierteljahr später, als die NSDAP nicht nur nicht zugewann, sondern zwei Millionen ihre Anhänger einbüßte. Den Eindruck eines Niedergangs suchte deren Führung im kleinsten deutschen Flächenland, Lippe-Detmold, bei Landtagswahlen am 15. Januar 1933 wettzumachen. Sie bot ihre gewieftesten Agitatoren auf und kam dennoch nicht wieder auf das Ergebnis der Jahresmitte 1932.
Vom Volke gewählt? Die Geschichte vom Wahlentscheid des Volkes gehört ins vielbevölkerte Reich der Legenden, die sich um Hitlers Weg in die Wilhelmstraße ranken. Was indessen nicht bedeutet, dass diese Millionengefolgschaft Hitlers als eine zu vernachlässigende Größe aus der Geschichte gleichsam entlassen werden könnte und ihr für deren unheilvollen Verlauf keine Verantwortung zuzumessen wäre. Ohne diese seit 1929 zusammengetrommelten Massen wäre die Führungsgruppe der NSDAP mit Hitler, Göring und Goebbels für die deutschen Eliten eine völlig uninteressante politisierende Clique gewesen, keines Nachdenkens, keiner Begegnung, keines Gesprächs, keiner materiellen und moralischen Förderung wert. Mit ihnen aber bot sich die Hoffnung, die Republik zu begraben, ohne einen anderen Bürgerkrieg zu riskieren als den erwünschten "von oben".
Wenn aber diese immense Gefolgschaft Hitler nicht an die Staatsspitze zu bringen vermochte, wie dann geriet er dahin? Wer sonst besaß den Schlüssel in das Zimmer, in dem einst Otto von Bismarck residiert hatte? In persona das Staatsoberhaupt, Reichspräsident Paul von Hindenburg und Beneckendorf. Der hatte ihn 1932 mehrfach nicht herausgerückt und tat es dann doch. Woher kam sein Sinneswandel? Er war in den Wochen vorher unter einen gewissen Druck geraten, dem er sich nicht hatte entziehen können. Nicht, dass dieser übermächtig geworden und ihn zu einer Marionette gemacht haben würde. Zudem war ihm dieser Hitler zwar nach Herkunft, Lebensweg und Gesittung fremd, nicht jedoch nach Gesinnung und Programmatik. Weder dass sie die Republik nicht mochten, noch dass sie es bei den Tatsachen des Versailler Friedensvertrags von 1919 nicht belassen wollten, brauchten sie sich ausdrücklich gegenseitig zu versichern.
Eines sanften Drucks bedurfte es dennoch und dafür stehen Zeugnisse. Eines von ihnen, das in die Kategorie der Schlüsseldokumente gehört (siehe Dokumentation Seite 10), ist unter der sachlich ungenauen Bezeichnung "Industriellen-Eingabe" bekannt geworden. Die Unterzeichner der an den "alten Herrn" gerichteten alleruntertänigsten Petition mit dem Datum vom 19. November 1932 waren Großindustrielle, Großbankiers, Großgrundbesitzer und Führer von deren Interessenverbänden. Sie drängten, Hitler nun die Führung der Reichregierung zu übertragen, an deren Spitze Franz von Papen nach seinem erneuten Wahldebakel unhaltbar geworden war. Dem Ansinnen ist der Adressat nicht schon in der folgenden Woche nachgekommen - so schnell schießen die Preußen nicht -, sondern mit einer gewissen Zeitverzögerung von rund gerechnet 70 Tagen.
Natürlich lag es in keines Absenders Interesse, diesen Schritt öffentlich bekannt zu machen. Das Vorgehen, wie immer darüber gedacht wurde, verdient die Kennzeichnung als Intrige, und in der Tat war es der Auftakt einer Kette weiterer, auf das gleiche Ergebnis zielender Schritte, deren Initiatoren das Licht der Öffentlichkeit scheuten. Hjalmar Schacht, Reichsbankpräsident a. D. und in spe, hatte Hitler von der Initiative unterrichtet, wohl auch, um ihm nach dem Misserfolg der Reichstagswahl den "Glauben" an seinen Sieg zu festigen.
Nacheilende Inschutznahme
Dass diese Intervention erfolgt war, wurde erst ruchbar, als Hindenburg und Hitler tot waren und Hjalmar Schacht sich als Gefangener der Sieger im Gefängnistrakt nahe dem Nürnberger Justizpalast befand. Damals lag, aufgefunden von US-amerikanischen Dokumentenfahndern, nur ein Exemplar dieser Eingabe vor, und das warf quellenkritische Fragen auf, deren Tendenz, als die Reihe an die bürgerliche Historiographie kam, augenblicklich dadurch bestimmt wurde, den Wert des Zeugnisses zu marginalisieren. Wie sah die vollständige Liste der Teilnehmenden aus? Hatten deren Adressen das Reichspräsidialamt überhaupt erreicht? Und wenn es dort angekommen war, wurde das Ansinnen dem Herrn Reichspräsidenten überhaupt vorgelegt? Und wenn es der zur Kenntnis genommen hatte, war es dann für seine Entscheidung überhaupt von Bedeutung gewesen oder hatten andere Motive und Einflüsse ihn bestimmt? Welche Neugier und welcher Einfallsreichtum!
Die DDR-Historiographie half ein wenig weiter. Sie legte aus dem in Potsdam im Archiv lagernden Beständen des Reichspräsidialamtes die dokumentarischen Beweise vor, die das Bild vervollständigten. Heute zweifelt niemand mehr ernsthaft, dass ein Schreiben mit diesen Unterschriften Hindenburg von seinem Staatssekretär nicht vorenthalten werden konnte, ja, dass Otto Meißner daran selbst auch gar kein Interesse besitzen konnte, gehörte er doch in den folgenden Wochen zu den Mitorganisatoren und Teilnehmern der geheimen Treffen und Beratungen, in denen es im Handeln und Kuhhandeln nur noch um die geeignete Weise von Hitlers Installierung an der Regierungsspitze ging.
Von da an wechselte die Strategie der Argumentation, mit der Apologeten dem unwillkommenen Fund mindere Bedeutung zuzuweisen suchen. Sie richtete sich nun darauf, die Unterzeichner zu einer sonderbaren und für die Haltung der wirtschaftlichen Eliten im kapitalistischen Deutschland untypischen Gruppe zu erklären und der Mehrheit zu attestieren, sie habe diesen Hitler als Kanzler nicht gewollt, sondern wäre für eine andere Lösung eingetreten. Zum Beweis dessen wird die viel größere Zahl von Großindustriellen vorgewiesen, die sich vor der Novemberwahl 1932 für die deutschnationalen Politiker um Franz von Papen und Alfred Hugenberg aussprachen, eben jene, die ein Vierteljahr später gemeinsam mit Hitler an die Staatsruder gelangten.
Anspruchsvolleren Apologeten, die die Rolle der deutschen Eliten bei der Aufrichtung der nationalsozialistischen Diktatur klein reden wollen, erscheint diese Ausflucht als ergänzungsbedürftig. Und wie ein Kleinkrimineller und sein Verteidiger, ist an der Tat schon nichts zu deuteln, sich darauf verlegen, das Tatmotiv in milderem Licht erscheinen zu lassen, ja dem Täter zu attestieren, dass er keine Handlungsalternative besessen habe, so verfahren auch die juristischen und nichtjuristischen Anwälte Schachts, des Bankiers, des Freiherrn Kurt von Schröder und deren Mitstreiter. Ihnen geht es eben nicht nur um die zwei Dutzend Personen, sondern um die sozialen Kräfte, die sie repräsentierten und vertraten. Also hinaus aus dem Reich der Wirklichkeit und des Überprüfbaren in das der Dichtung und des Glaubens. Abgewendet werden sollte, dies das behauptete Hauptmotiv, die bolschewistische Revolution in Deutschland.
Das glaubhaft zu machen, fällt angesichts der reformistischen Politik der Sozialdemokratie, die nach wie vor die Mehrheit der deutschen Arbeiter zu ihrem Anhang zählte, indessen schwer. Daher erfolgt - zusätzlich - eine Unterscheidung zwischen der tatsächlichen (zugegeben nicht sonderlich bedrohlichen) Gefahr der Revolution und der gefühlten Gefährdung, denn diese sei es gewesen, die den Ausschlag für das Handeln der Großbürger gegeben habe.
Dass dies, so die weitere Argumentation, zugunsten Hitlers ausgefallen sei, wäre niemandem sonst zuzuschreiben als der Alternativlosigkeit der Situation. Ein anderer Retter sei nicht zur Hand gewesen, und, so wird es später einer der Beteiligten - en passant seinen Ekel vor den Nazis ausdrückend - formulieren, in der Not, wenn Wasser nicht zur Hand sei, lösche man einen Brand eben auch mit Jauche. Welcher Antikommunist würde das nicht verstehen? Wie gesagt, der Tatbeitrag ist nicht mehr bestreitbar, aber er ist doch verständlich und irgendwie auch akzeptabel zu machen. Dass dies die stillschweigende Vorabbilligung des auf den 30. Januar folgenden Umgangs mit den "Revolutionären" einschließt, das soll besser schon nicht hinzugedacht werden.
Der Triumph des Irrenhauses?
Diese Kette von Argumenten, in der sich Ausflüchte und Legenden mit Teilwahrheiten zu einem Geschichtsbild mischen, hat einen Nachteil. Sie ist zwar fein gearbeitet, aber doch kompliziert, und das wiederum bringt bis heute auf den Gedanken, ob sich das Problem nicht auf einfachere Weise lösen lasse. Wie, wenn man sich auf die Reihe der Fakten und Daten gar nicht erst einlässt? Mit den Jahrzehnten ist vieles, was einst auch nur zum Geschichtswissen einer beträchtlichen Minderheit gehörte, ohnehin verloren gegangen. Wer erinnert sich denn noch des Befunds der Ankläger und des Urteils der Richter von Nürnberg? Und der Einfluss der materialistischen Historiker, die das taten, wurde so weit zurückgedrängt, dass eine Polemik gegen ihr Geschichtsbild überflüssig gemacht worden ist.
Das könnten Überlegungen sein, von denen sich die Geschichtsschreiber des Spiegel bei der Produktion ihres jüngsten Heftes leiten ließen. Auf 16 Druckseiten haben sie vermieden, auch nur eine Initiative und deren Akteure zu erwähnen, die zur Intrige zu Hitlers Gunsten gehörte. Ganz ohne Personen ging es freilich nicht ab. Einige Politiker hätten auf eigene Rechnung und irrend Hitler auf den Reichskanzlerstuhl geholfen. Ein knappes halbes Dutzend: der Paul und der Oskar von Hindenburg, der Papen, der Hugenberg und der Meißner. Und so verwandelt sich der Triumph von sehr realen, im Wesen erfolgreich verflochtenen Interessen, die am 30. Januar 1933 obsiegten, in einen - laut Überschrift des Magazin-Berichts - Triumph des Wahns. Irgendwie hat sich das Unheil in einem Irrenhaus angebahnt.
Chronik
26. April 1925 Nach dem Tod Friedrich Eberts wird Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg im zweiten Wahlgang zum Reichspräsidenten gewählt.
1928 Der Staatsrechtler Carl Schmitt verwirft in seiner Verfassungslehre den liberaldemokratischen Gehalt der Weimarer Verfassung und interpretiert den später entscheidenden "Ausnahmezustand", über den der Reichspräsident verfügt: "Wer den Ausnahmezustand beherrscht, beherrscht den Staat".
16.-29. Oktober 1929 Gemeinsam mit der NSDAP organisiert die DNVP unter dem Vorsitz des Pressemagnaten Alfred Hugenberg das Volksbegehren gegen den Young-Plan (Reparationszahlungen); der Volksentscheid scheitert, begründet aber die Kooperation zwischen den Deutschnationalen und der NSDAP.
24. Oktober "Schwarzer Freitag" (eigentlich ein Donnerstag); Beginn der Weltwirtschaftskrise.
27. März 1930 Die letzte parlamentarische Regierung der Weimarer Republik unter Reichskanzler Müller (SPD) stürzt über einen Streit um die Arbeitslosenversicherung.
14. September Die NSDAP erringt 18,3 Prozent und wird zweitstärkste Partei; die DNVP stagniert bei sieben Prozent; in der Folge regiert Heinrich Brüning (Zentrum) unter Rückgriff auf Artikel 48 mittels Notverordnungen; diese noch vom Weimarer Parlament den Kabinetten Stresemann und Marx zugebilligte "Ermächtigung" des Reichskanzlers nutzte Adolf Hitler, um nach dem Reichstagsbrand am 28. 2. 1933 die "Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat" zu erlassen und für die folgenden zwölf Jahre die Grundrechte aufzuheben.
1930-32 Strenge Deflationspolitik Brünings;Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über sechs Millionen im Winter 1931/32.
11. Oktober 1931 "Harzburger Front" (DNVP, NSDAP, Stahlhelm, Alldeutscher Verband und Rechtskonservative, darunter der ehemalige und spätere Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und General Hans von Seeckt). Hitler unterstreicht seine politische Eigenständigkeit durch SA-Aufmärsche.
10. April 1932 Wiederwahl Hindenburgs.
30. Mai Sturz Brünings; Verhandlungen zwischen Hitler und Kurt von Schleicher, Staatssekretär im Reichswehrministerium, über die Aufhebung des SA/SS-Verbotes, falls die NSDAP eine Rechtsregierung duldet; Franz von Papen bildet das "Kabinett der Barone".
20. Juli "Preußenschlag": Papen setzt unter Anwendung des Artikels 48 die Regierung in Preußen ab und übernimmt als Reichskommissar selbst die Geschäfte; statt die Arbeiter zum Generalstreik aufzurufen, entscheidet sich die abgesetzte Regierung für die Klage vor dem Staatsgerichtshof.
31. Juli Die NSDAP erreicht mit 13,8 Millionen ein Drittel - und in freien Wahlen nie mehr erreichten Anteil - der Wählerstimmen; Hindenburg weigert sich, Hitler zum Kanzler zu ernennen, Hitler lehnt das Amt als Vizekanzler ab.
5. September Den Unternehmen wird zugebilligt, die Tariflöhne um bis zu 50 Prozent zu unterschreiten.
6. November Die NSDAP verliert zwei Millionen Wählerstimmen; die KPD gewinnt 700.000; Papen demissioniert.
3. Dezember Schleicher übernimmt die Führung des Präsidialkabinetts und versucht, den linken Flügel der NSDAP um Gregor Strasser einzubinden; Hitler, von der Stagnation seiner Bewegung alarmiert, lenkt ein und versichert sich der Unterstützung von Hindenburgs Sohn, Oskar, und des einflussreichen Staatssekretärs Otto Meißner.
28. Januar 1933 Rücktritt Schleichers, der mit seinem Versuch, die Gewerkschaften einzubinden, die Unterstützung von Großindustrie und Großgrundbesitzern verloren hat.
30. Januar Machtübergabe an Hitler.
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