In meinem fachlichen Umfeld, der Sexualwissenschaft, ist die sogenannte geschlechtergerechte Sprache Standard und zugleich Standarte. Jetzt hat auch die Duden-Online-Redaktion entschieden, 12.000 bislang im generischen Maskulinum gehaltenen Artikeln über Personen- und Berufsbezeichnungen jeweils einen zweiten, weiblichen hinzufügen. Das Gendern wird wie ein Hoheitszeichen gepflegt, und jede Beschädigung erscheint wie Blasphemie. Ich würde diese Sprache gern verwenden. Weil ich den emanzipatorischen Anspruch teile und weil ich viele, die diese Neubildungen verwenden, persönlich hoch schätze.
Aber, ach! Ich kann es nicht. Ich vermag sie weder auszusprechen noch hinzuschreiben; und erblicke oder höre ich sie, wird mir unbehaglich. Wenn ich Sie, liebe Leser, anspreche, dann kann ich keinen Sinn darin sehen, Sie mit „Leserinnen und Leser“ anzusprechen. Leser ist in der deutschen Sprache ein Allbegriff, nicht nur in der Mehrzahl, sondern auch in der Einzahl. Aus dem grammatikalischen Artikel kann man bei Allbegriffen (wie etwa: der Mensch, die Person, die Persönlichkeit, der Säugling, das Kind, der Spatz, die Meise …) nicht auf das Geschlecht schließen.
Wo Wortungetüme drohen
Im Deutschen tragen rund die Hälfte der Substantive den weiblichen Artikel „die“, viel weniger den männlichen Artikel „der“, und noch etwas weniger den sächlichen „das“. Eine Geschlechtergerechtigkeit ist dadurch weder hergestellt noch beschädigt, genauso wenig dadurch, dass der angeblich weibliche Artikel „die“ immer für den Plural gilt, also auch für Männer: die Männer und nicht der Männer.
Schriebe ich also „Leserinnen und Leser“, dann wäre das doppelt gemoppelt: Im Wort „Leser“ stecken beide Geschlechter, also auch die Leserinnen. Und nicht nur die! Wenn ich Sie mit Leser anrede, dann hebe ich ein Merkmal hervor, nur eins, nämlich, dass Sie den Freitag lesen. Aber zugleich ist klar, dass Sie ein männlicher oder weiblicher Leser oder trans sein können, dass Sie jung oder schon älter sind, dass Sie reich oder nicht so reich sind, dass Sie in Berlin geboren oder nicht in Berlin geboren sind, dass Sie verliebt oder gerade nicht verliebt sind, dass Sie Union-Berlin-Fan sind oder Fußball nicht mögen. Wollte ich allen diesen und weiteren Merkmalen sprachlich gerecht werden – welche Wortungetüme würden dann entstehen! Sich für ein einziges Merkmal, das Geschlecht, zu entscheiden, und bei jeder Gelegenheit nur das Geschlecht hervorzuheben, ist einseitig, überflüssig und ganz und gar ungerecht.
Ich weiß wohl, dass in bestimmten Situationen ein Merkmal entscheidend sein kann, natürlich auch das Geschlecht, zum Beispiel beim Arzt oder im Kleiderladen oder bei der Wahl einer Toilette. Aber in den anderen Situationen eben nicht oder nicht allein. In der Kletterhalle ist Klettern das dominierende Merkmal. Schaut man sich um, sieht man junge und alte Kletterer, gute und weniger gute, Frauen und Männer, Mütter, Kinder, Enkel. Der gute Gastgeber bei der Vorbereitung eines Festschmauses wird nach Veganern (nicht nach Veganerinnen und Veganern) unterscheiden. Wenn es um das Überqueren eines tiefen Sees geht, ist die Unterscheidung nach Schwimmern und Nichtschwimmern, nicht aber nach Geschlecht, überlebensnotwendig. Derzeit, da Corona uns in Atem hält, erfahren wir täglich, wie viele Infizierte gemeldet sind. Die Zahlen werden genannt, sind aber nicht nach Geschlecht sortiert. Merkwürdig?
Um die Anrede „Leserinnen und Leser“ zu umgehen, könnte ich – was schon häufig geschieht – ins Partizipische ausweichen: „Sehr geehrte dies gerade Lesende!“ Aber ist das die ideale Lösung? Als Leser des Freitag im Sinne eines Abonnenten oder Stammkäufers müssen Sie diese Zeitung keineswegs dauernd lesen, und Sie können den Freitag auch lesen, ohne Leser im Sinne eines Stammlesers zu sein. Wenn aus den Studenten die Studierenden, aus dem Studentenrat ein Studierendenrat wird, dann schütteln Sprachkundige und Laien den Kopf (oder schreiben einen Leserbrief). Jemand kann ein an der Universität eingeschriebener Student sein, aber kaum studieren, und jemand kann den Freitag gründlich studieren, ohne Student zu sein. Das eine (Student) ist ein Status, das andere (Studieren) eine Tätigkeit.
Interessant ist in diesem Zusammenhang das Schicksal der von Politikern manchmal krampfhaft gebrauchten Form „die Wählerinnen und Wähler“. Die Form wurde bisher nicht ins Partizipische gewandelt: Wählende. Wähler ist ein Status (das Wahlrecht haben), Wählender sein eine Tätigkeit; eine, die der Wähler auch unterlassen kann.
Mein Unbehagen an Sprachkonstrukten wie Leserinnen und Leser, LeserInnen, Leser_innen, Leser*innen oder Leserïnnen, ist nicht nur und nicht in erster Linie sprachlicher, sondern inhaltlicher Natur. In beliebigen Zusammenhängen und Situationen wird – auf soziografischer Ebene – nur eine Untergruppe zuungunsten aller anderen hervorgehoben und – auf individueller Ebene – die Gesamtpersönlichkeit auf das Geschlecht reduziert. Diese essenzialistische Reduktion wird der Gesamtpersönlichkeit nicht gerecht. Der Philosoph Péter Nádas fragt in Von der himmlischen und der irdischen Liebe: „Kann ich einen Menschen sehen oder ist mir niemals möglich, derartiges zu sehen, weil ich, wenn ich jemandem gegenüberstehe, ausschließlich Frau oder ausschließlich Mann vor mir sehe?“
Wie Zuschreibung ausgrenzt
Man müsse den ganzen Menschen, seine Charaktereigenschaften beachten, nicht nur und nicht in erster Linie sein Geschlecht, so Nádas: „Nicht nach Maßgabe seines Geschlechts spreche ich von seinem Charakter, sondern nach Maßgabe seines Charakters spreche ich von seinem Geschlecht.“ Der Sexus sei „lediglich ein einzelnes Element“ eines Systems von Eigenschaften, die den Charakter des Menschen ausmachen. In der „geschlechtergerechten“ Sprache wird das Geschlecht über die Persönlichkeit gestellt. Das Individuum wird auf sein Geschlecht reduziert, es wird also gewissermaßen verstümmelt.
Die Praxis, Menschen auf ein Merkmal zu reduzieren, ist durchaus ein geläufiges Unterfangen, so wenn Homosexuelle auf ihre Sexualität reduziert werden, Zugereiste auf ihren Migrationshintergrund (der Flüchtling) oder Behinderte auf ihre Behinderung. Im philosophischen Sinne handelt es sich hier um das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem, vom Gemeinsamen und Unterschiedlichen. Hegel spricht von der „unendlichen Persönlichkeit“; davon, dass das „Ich als allgemeine Person aufgefasst werde, worin Alle identisch sind: Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist.“
Das Epitheton ornans „weiblich“ versus „männlich“ verspricht Spezifisches oder wenigstens Typisches, also etwas, das ausschließlich Frauen oder hauptsächlich Frauen auszeichnet bzw. nur männlich oder in charakteristischer Weise männlich ist. Sexualwissenschaft, Gender- und Diversitätsforschung wissen eigentlich, dass dieses Versprechen nur partiell oder temporär eingehalten werden kann. Das, was einst als vorzugsweise männlich galt, kommt heute auch bei Frauen vor (und umgekehrt): Zum Beispiel Fußball. Zum Beispiel Intelligenz. Zum Beispiel die Einstellung zur Mathematik. Die Leipziger Jugendforschung hat schon in den siebziger Jahren herausgefunden, dass Mädchen in Mathematik die gleichen, oft sogar die besseren Leistungen erbringen als Jungen. Ich selbst habe in dieser Zeit festgestellt, dass – nach ihren Lieblingsfach in der Schule befragt – bei weiblichen genauso wie männlichen Studienanfängern Mathematik in der Rangfolge der beliebtesten Fächer vorn lag. Und die gern befeixte Behauptung, dass Frauen nicht einparken können, ist nur noch ein doofer Witz. Ich bin jedenfalls von Antjes, Elisas, Tatjanas umstellt, die mühelos rückwärts mit einem großen Anhänger in eine schmale Einfahrt reinfahren können – ohne Nachlenken!
Was Verkleinerung bewirkt
Insgesamt gleichen oder ähneln sich viele Eigenschaften von Frauen und Männern, und zwar nicht nur, weil sie beide zwei Beine, ein Herz und einen Kopf zum Denken haben. Männer sind keine Unter- oder Abart der Menschen und Frauen auch nicht. Klassifikationen wie männlich, weiblich, trans* haben ihre Grenzen. „Jedes Schema ist schemenhaft. Unerschöpflich, unbegrenzt ist die Differenzierung menschlicher Individualitäten“, um den großen Sexualforscher Magnus Hirschfeld zu zitieren. Und endlos ist auch die Differenziertheit der menschlichen Gesellschaft.
An dieser Stelle will ich auch auf das Gendersternchen eingehen. Ich habe immer bemängelt, dass Formen wie Leserinnen und Leser oder LeserInnen oder Leser_innen eine gesellschaftliche Minderheit ausklammern, und zwar Transpersonen, die sich nicht in das binäre Schema männlich/weiblich einordnen lassen. Auf den ersten Blick wird mit dem Sternchen (liebe Leser*innen) Gerechtigkeit hergestellt. Auf den zweiten Blick wird dies, insbesondere von Transsexuellen, die nicht fremd-, sondern selbstbestimmt ihr Geschlecht bezeichnen möchten, als ein Diktat, eine Vereinnahmung betrachtet. Zudem ist es seltsam, wenn eine Transperson wie eine Fußnote bezeichnet oder, anders herum gesehen, zu einem erdenfernen Himmelskörper gemacht wird, und zwar in der Verkleinerung (Sternchen). Wenn man es genau betrachtet: Würde man im Radio oder im Fernsehen mit „Liebe Hörer*innen“ angesprochen (mit einer winzigen Pause anstelle des Sternchen oder auch ohne diese Pause), werden nur weibliche und Transpersonen angesprochen, die männlichen Hörer werden ausgeschlossen.
Die „geschlechtergerechte“ Wortkonstruktion trennt. Mit ihr wird die alte Geschlechtertrennung zementiert und die Unversöhnlichkeit der beiden Geschlechter zum Konzept gemacht. Ich erinnere mich, dass es in der alten Richard-Wagner-Schule Leipzig, der RiWa, in Stein gemeißelt getrennte Eingänge für „Knaben“ und „Mädchen“ gegeben hat. Solche Separierungen gab es von klein auf und zuhauf. Sie waren fast immer offen oder latent mit Diskriminierungen verbunden, jedenfalls nichts, was Gemeinsamkeit, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung förderte.
Wird sich die „geschlechtergerechte“ Sprache allgemein durchsetzen? Wird sie Eigentümlichkeit einer Elite, einer Subkultur bleiben oder mehr und mehr Sprachdiktat im Sinne einer Political Correctness werden, so wie schon heute Hochschulen sie bei Qualifizierungsarbeiten erzwingen, Zeitschriften sie von den Autoren verlangen, Verwaltungen dazu genötigt werden? Eine Weile wird sie wohl noch vorhanden sein. Aber letztlich wird sich die „geschlechtergerechte“ Sprache nicht durchsetzen, schon weil es in vielen Sprachen, insbesondere im dominanten Englischen, keine Entsprechung gibt. Und wohl auch, weil für Tiere eine sprachliche Genderisierung auch wegen des Sternchens scheitern oder zu albernen Worten führen würde. Zudem wäre es abwegig, alte Schriften nachträglich zu verändern. Geldwechsler*innen, Feudalherr*innen, Indianer*innen, junge Pionier*innen gab es sprachlich nie. Das „Gendern“ führt sozial, kulturell und sprachlich ins Nichts.
Hauptsächlich aber wird es entschwinden, weil fortschrittliche Kräfte erkennen, dass mit diesem Sprachdiktat die Wirklichkeit nicht nur nicht verbessert wird, sondern die realen Ungerechtigkeiten verdeckt und in Ruhe gelassen werden. Die „geschlechtergerechte“ Sprache wird in Inhalt und Form ihren Namen und ihrem Anliegen nicht gerecht.
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