Die Absurdität des Lebens im Liveticker

Ukraine-Krieg Über die surreale Parallelität von Alltag und Weltuntergang im Angesicht des Kriegs in der Ukraine

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Ich fühle mich schlecht. Ist es verwerflich beim Kochen Karnevalslieder zu hören?
Ich fühle mich schlecht. Ist es verwerflich beim Kochen Karnevalslieder zu hören?

Foto: Anastasia Vlasova/Getty Images

Fiktionaler Liveblog vom 24. Februar 2022:

07:55 Uhr: Mein Wecker klingelt. Sanfte Urwaldklänge holen mich aus dem Schlaf. Die ersten Sonnenstrahlen scheinen in mein Gesicht. Nichtsahnend durchquere ich mein Zimmer, um den Wecker zu snoozen – die übliche morgendliche Routine. Push-Nachricht Tagesschau: Putin ordnet Militäreinsatz in der Ukraine an. Zeitgleich Le Monde: La Russie a envahi et bombardé le territoire ukrainien. Jetzt bin ich wach. Ungläubig, verwirrt. Aber wach.

08:01 Uhr: Erstmal Hintergrundinformationen sammeln. Startpunkt: Geschichte der Ukraine im Überblick. Vielleicht hilft die Bundeszentrale für politische Bildung, etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Die Leseempfehlung zum bpb-Dossier kam vor einigen Tagen von Papa mit dem Vermerk: „Vielleicht interessiert es dich. Ein schwieriges Land.“ Interessieren tut es mich schon. Aber bis vor fünf Minuten hatte ich gehofft, dass es mich nicht weiter interessieren müsste. „Dat jeiht vorbei, dat is nit schlimm“ - Passend zur Jahreszeit vetraute ich bis gerade eben auf die Worte der kölschen Karnevalsband Paveier. Naiv? Offensichtlich! Dass ein Krieg so kurz vor der Tür steht, der mit unmittelbaren Gefahren einhergeht, hatte ich bis gestern noch erfolgreich ausgeblendet. Blindes Vertrauen in die Mühlen der Diplomatie. Und wer will schon allen Ernstes einen Krieg? Offensichtlich habe ich den Größenwahn und die Rachsucht Putins unterschätzt. Und das, obwohl er mich quasi mein ganzes Leben begleitet: Nur meine ersten beiden Lebensjahre waren mir ohne Putin als de facto Staatsoberhaupt von Russland vergönnt.

08:29 Uhr: 28 Minuten Lesezeit erschienen mir anfangs etwas übertrieben. Doch auch wenn ich ehrlich gestanden manche Teile übersprungen habe, lohnt sich die ausführliche Lektüre dennoch. Jetzt weiß ich jedenfalls mehr. Etwa dass der Illoyalität zu Russland verdächtigte Ukrainer dem „Masepismus“ beschuldigt werden – basierend auf dem Kosakenführer („Hetman“) Iwan Masepa, der sich Anfang des 18. Jahrhunderts mit Schweden gegen das Russische Reich verbündete. Erfolglos. Die entscheidende Schlacht von Poltawa 1709 endete mit einer schallernden Niederlage. Und damit begann der Niedergang des 1648 errichteten Hetmanats, einem kosakischen Herrschaftsverband, der im Selbstverständnis der Ukrainer der erste ukrainische Nationalstaat war. Die russische Seite sieht das naturgemäß anders und beruft sich auf ein Schutzabkommen von 1654, mit dem sich das junge Hetmanat dem Russischen Reich unterworfen habe. Außerdem weiß ich jetzt, dass die Südukraine historisch als „Neurussland“ bezeichnet wurde – ein Begriff, auf den sich Putin seit dem russisch-ukrainischen Krieg 2014 gerne wieder beruft. Wenn Russland im Wort steckt, muss es ja wohl zwangsläufig zu Russland gehören - so vermutlich die zugrundeliegende Logik. Die OSZE verurteilt derweil im Übrigen die russischen Militäroperationen in der Ukraine. Ebenso die Linke. Zahlreiche weitere Staaten, Parteien und internationale Organisationen werden diesem Beispiel im Laufe des Tages folgen.

08:36 Uhr: Die Zusammenfassungen der gestrigen Champions-League Spiele sorgen erstmal für Entspannung. Leider nur bei mir. Die Ukraine meldet inzwischen sieben Tote.

09:24 Uhr: Zweiter Anlauf meinerseits. Das morgendliche Dehnprogramm entspannt die Muskeln. Von Entspannung in der Ukraine weiterhin keine Spur. Stattdessen russische Panzer in der Ostukraine.

09:36 Uhr: Die Aufbackbrezel aus dem Ofen schmeckt ausgezeichnet. Ob russisches Gas für die Stromerzeugung zum Betreiben des Backofens benötigt wurde? Immerhin verspricht Gazprom, dass die Gastransporte fortgesetzt werden. Anders als die Partnerschaft von Schalke 04 mit Gazprom als Trikotsponsor.

10:07 Uhr: Meine Mitbewohnerin ruft mich aus dem Nebenzimmer. Ob ich noch was aus dem Supermarkt brauche, will sie wissen. Derweil ruft auch die ukrainische Regierung. Allerdings alle einsatzfähigen Ukrainer zu den Waffen. Kleiner Unterschied.

Neue Inhalte (24)

12:58 Uhr: Einige Stunden lag das Handy jetzt außerhalb meiner Reichweite. Ich zucke kurz zusammen, als ich sehe, dass in der Zwischenzeit 24 neue Meldungen dazugekommen sind. So wie ich überhaupt bei jeder neuen Meldung zusammenzucke. Ich weiß nicht, ob es angebracht ist zwischen guten und schlechten Neuigkeiten im Liveticker zu unterscheiden. Ich habe die Kategorisierung unterbewusst jedenfalls längst vorgenommen: Gut sind prinzipiell Solidaritätsbekundungen von anderen Staaten und internationalen Organisationen. Hilft der Ukraine zwar nicht direkt weiter, schadet ihr aber immerhin auch nicht. Und kostet keine Menschenleben. Schlecht ist alles, was mit Militär und Waffen zu tun hat. Ebenso neue Angriffsziele, Geländegewinne oder ein Vorrücken der russischen Truppen. „Militärische Ziele auch in Kiew angegriffen“ oder „Pro-russische Kämpfer erzielen Geländegewinne“ zählen zu der zweiten, nicht so erfreulichen Kategorie. Aber absurderweise immer noch hinnehmbar, erträglich. Über allem schwebt eben auch noch die Angst vor dem absoluten Super-GAU.

14:02 Uhr: Ich fühle mich schlecht. Ist es verwerflich beim Kochen Karnevalslieder zu hören? Sollte ich nicht eigentlich besorgter sein? Überlegen wie ich helfen kann? Zumindest aus Solidarität den ganzen Tag bedröppelt reinschauen? Ich entscheide mich dagegen und für die Karnevalslieder. Ist immerhin Weiberfastnacht. „Wenn ich dausend Levve zo lääve hätt“ singt die Kölschrockband Kasalla. Auch ich werde mir der Endlichkeit des Lebens wieder bewusst, obwohl ich keiner unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt bin. Anders der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der im Gespräch mit dem österreichischen Kanzler Nehammer offen zugibt, sich um sein Leben zu fürchten.

14:24 Uhr: Der geplante Rosenmontagszug in Köln ist inzwischen abgesagt und wird durch Friedensdemonstrationen ersetzt. Vielleicht war die Karnevalsmusik doch nicht angebracht…

14:30 Uhr: Virtuell meldet sich die freie Journalistin Rebecca Barth aus einer stark bevölkerten Bahnhofshalle in Kramatorsk in der Ostukraine. Gestern noch 60 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Heute stehe sowieso das ganze Land unter Beschuss, berichtet Barth. Das bestätigt wenig später auch die ukrainische Polizei.

15:10 Uhr: EU-Kommission hält Gasversorgung für gesichert. Sehr gut. Auch morgen wieder Aufbackbrezeln.

15:41 Uhr: Kiew rückt immer mehr in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Vor ziemlich genau zehn Jahren stand noch eine Auseinandersetzung des Bürgermeisters von Kiew, Vitali Klitschko, im Mittelpunkt. Am 18.02.2012 stieg er in München zur Titelverteidigung seines WBC-Weltmeistertitels im Boxen gegen den britischen Badboy Derek Chisora in den Ring. Klitschko siegte vor 500 Millionen Fernsehzuschauer*innen schließlich trotz einer Schulterverletzung nach Punkten. Heute dürften weltweit vermutlich noch mehr Augen auf ihn gerichtet sein. Und einen Sieg nach Punkten gibt es im Krieg meines Wissens nach nicht. Nur das K.O.

16:06 Uhr: Der ukrainische Präsident Selenskyj twittert, dass das Atomkraftwerk Tschernobyl angegriffen wird. Wie ein Super-GAU aussieht, konnte dort am 26. April 1986 die ganze Weltbevölkerung verfolgen. Damals allerdings noch nicht im minütlichen Liveblog. Dieser meldet schließlich wenige Stunden später, dass die Ukraine die Kontrolle über Tschernobyl verloren habe. Hilft jetzt nur noch beten?

17:07 Uhr: Ich muss raus an die frische Luft. Die ganze Zeit vor dem Handy zu sitzen und den Liveblog zu verfolgen macht mich wahnsinnig. Ich fühle mich so machtlos. Ich bin hin und her gerissen zwischen tiefer Betroffenheit und einer erschreckenden Form der Gleichgültigkeit. Raus dürfen die Bürger und Bürgerinnen Kiews nun erstmal nicht mehr, zumindest nachts. Denn dort gilt von nun an eine Ausgangssperre von 22 Uhr bis 7 Uhr. Für sie spielt sich das Geschehen direkt vor Ort beim Blick aus dem Fenster ab. Nicht knapp 2000 Kilometer entfernt auf dem Smartphonedisplay.

17:35 Uhr: Wir planen via WhatsApp die Teilnahme an einer Solidaritätskundgebung mit der Ukraine am Samstag. In Russland werden zeitgleich landesweit Protestkundgebungen der Opposition gegen den Krieg mit der Ukraine aufgelöst und deren Teilnehmer*innen festgenommen. Schön, dass man seine Meinung immerhin da noch frei äußern kann, wo es am allerwenigsten bringt.

18:10 Uhr: Ich schaue meine dritte Folge der amerikanischen Comedyserie The Office am heutigen Tag. Sie handelt von Michael Scott, dem Chef einer Papiergroßhandelsfirma in den USA, der einen sehr unkonventionellen, gewöhnungsbedürftigen Führungsstil pflegt. Was treibt derweil eigentlich der Chef der USA, Joe Biden? To be continued...

19:00 Uhr: Start meiner wöchentlichen Videokonferenz. Eigentlich steht einiges auf der Agenda, doch es gibt nur ein Thema: Die russische Invasion der Ukraine. Es wirkt befreiend sich mit anderen über seine Gefühle und Emotionen auszutauschen. Es kommen sogar erste, zugegebenermaßen verzweifelte Lösungsansätze zustande: Könnte man Putin nicht mit Radeberger, seinem Lieblingsbier aus seiner Zeit in Deutschland, bestechen? Oder es mit in die Sanktionen aufnehmen?

19:07 Uhr: Der spanische Trainer des ukrainischen Frauen-Fußballnationalteams flüchtet in Richtung Westen. Neben ihm sind laut UNHCR 100.000 weitere Ukrainer*innen auf der Flucht. Apropos Fußball: RB Leipzig schlägt sich zeitgleich passabel im Europa League Spiel gegen Real Sociedad - Spielstand noch 0:0. Auch die ukrainische Armee schlägt sich bisher passabel gegen die russische Übermacht, die nun neben Luft- und Raketenangriffen auch mit Bodentruppen vorrückt. Unentschieden ausgeschlossen?!

19:30 Uhr: Jetzt meldet sich endlich US-Präsident Joe Biden zu Wort. Er kündigt weitere Sanktionen (nicht Radeberger) und mehr Soldaten an. Soll man sich darüber nun freuen? Einerseits strahlt es eine große Sicherheit aus, einen militärisch so gut gerüsteten Partner an seiner Seite zu wissen. Andererseits schwimmt auch die Angst vor weiterer Aggression und einer totalen Eskalation mit.

+++ EILMELDUNG +++

21:26 Uhr: Oh Nein! Das kann nie etwas gutes bedeuten… „EU-Gipfel stimmt für umfangreiche Sanktionen gegen Russland“. Okay, doch nicht so schlimm wie befürchtet. An diesem Tag rechnet man trotzdem lieber mit dem Schlimmsten.

22:34 Uhr: Ich spüre eine große Müdigkeit. Die Kriegshandlungen für den heutigen Tag scheinen weitgehend vorüber. Zum Abschluss des Tages leuchtet das Gebäude der EU-Kommission blau-gelb auf. Ein schwacher Trost.

23:00 Uhr: Wir schließen den Liveticker für heute. (Hoffentlich) bis morgen!

Die Inhalte der Meldungen basieren auf ausgewählten Ausschnitten aus dem Liveblog der Tagesschau vom 24.02.2022. In den meisten Fällen stimmen die exakten Uhrzeiten mit jenen im Tagesschau-Blog überein. Vereinzelt wurde zu journalistischen Zwecken von diesen Uhrzeiten abgewichen, ohne dabei jedoch den Ablauf der Ereignisse zu verzerren oder in ihrem Sinngehalt abzuändern.

Dieser fiktionale Liveblog ist ein experimentelles Textformat, das mein subjektives Erleben der Meldungen aus der Ukraine darstellt. Das in Verbindung setzen von den dramatischen Ereignissen in der Ukraine mit alltäglichen Lebenssituationen soll in keiner Weise verharmlosend oder despektierlich aufgefasst werden. Es soll vielmehr den Zwiespalt zwischen Alltagsroutine und der emotionalen Verarbeitung der im Minutentakt erscheinenden Schreckensnachrichten rund um den Ukraine-Krieg verdeutlichen, in dem sich neben mir an diesem 24. Februar vermutlich viele Menschen hierzulande befunden haben.

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