Theodor Herzl auf dem Balkon seines Hotels am Rhein in Basel, 1897
Foto: United Archives International/ Imago Images
Congreßtage! Nach der Ankunft ging ich vorgestern gleich in das Bureau, das uns die Stadt Basel zur Verfügung gestellt hat. Es ist ein leer gewordener Schneiderladen. Ich lasse die Firma mit einem Tuch überdecken, um den faulen Witzen zuvorzukommen“, notierte Theodor Herzl (1860 – 1904) zwei Tage vor dem offiziellen Beginn des 1. Zionistenkongresses am 27. August 1897 in sein Tagebuch. Für ihn war indes der von einem zionistischen Mitstreiter ausgesuchte Saal ein wenig geeignetes Lokal. So entschied er sich für einen anderen Versammlungsort – den großen Musiksaal des Baseler Stadtcasinos.
Den Delegierten hatte Herzl brieflich eine Kleiderordnung vorgeschrieben: Frack, Zylinder, weiße Halsbinde sollten Ernst und Würde der zionistisch
ionistischen Demonstration unterstreichen. Er war immer noch ein Mann des Theaters, inszenierte und ließ spielen. Da mit ihm in der Kleiderfrage folglich nicht zu reden war, kam es zum Sturm auf die Baseler Leihanstalten. Die Damen sollten ebenfalls in eleganter Kleidung erscheinen. Auf die Frage eines Delegierten, ob diese auch stimmberechtigt seien, beschied Herzl kurz und bündig: „Die Damen sind selbstverständlich sehr verehrte Gäste, aber an der Abstimmung nehmen sie nicht teil.“Herzls Ziele waren hochgesteckt, er wolle – vermerkte er salopp in seinem Tagebuch – „aus einem Lappen eine Fahne“ und aus einem „gesunkenen Gesindel ein Volk“ machen. Dass es nun in Basel zu einem Zionistenkongress kam, war seine Erfindung. Ein Jahr zuvor hatte er sein Buch Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage veröffentlicht, gleichsam das Gründungsmanifest der zionistischen Bewegung. Als Broschüre hatte das Werk Aufsehen erregt, bald folgten auf das Staunen Verachtung und Widerstand. Herzls Ideen veränderten die geistige Situation des Judentums radikal, und Der Judenstaat hatte dabei, so der Schriftsteller Stefan Zweig (1881 – 1942), die „Durchschlagskraft eines stählernen Bolzens“. Herzl war es mit seiner Programmschrift „blutig ernst“. Seinen Kritikern hielt er entgegen: „Wer in 30 Jahren Recht behalten will, muss in den ersten drei Wochen seines Auftretens für verrückt erklärt werden.“ Bis dahin waren Herzls politisch-zionistische Aktivitäten nicht gerade berauschend. Es gab keine sichtbaren Erfolge, aber jede Menge nörgelnde Kritiker aus den eigenen Reihen. Am Tag vor Kongressbeginn hatte er resigniert festgestellt: „Tatsache ist, ... dass ich nur eine Armee von Schnorrern habe. Ich stehe nur an der Spitze von Knaben, Bettlern und Schmöcken“, womit skrupellose Winkeljournalisten gemeint waren. 204 Delegierte trafen sich am 29. August 1897 in Basel zu dieser ersten allgemeinen Judenversammlung seit der Zerstörung Jerusalems. Nachdem Karpel Lippe als Alterspräsident eröffnet hatte, übergab er Herzl das Wort. Applaus umtobte ihn, die Delegierten trampelten, schwenkten Taschentücher, manche versuchten, seine Hand zu küssen. Auf der Rednertribüne angekommen, wurde er jedes Mal, wenn er zum Reden ansetzte, durch Hochrufe unterbrochen. Die Ovationen dauerten gut 15 Minuten. Herzls kurzer Eröffnungstext geriet zur Thronrede. Er begann mit dem Satz: „Wir wollen den Grundstein legen zu dem Haus, das dereinst die jüdische Nation beherbergen wird.“ Zu hören war der Satz, der später zu einer häufig zitierten Formel werden sollte: „Der Zionismus ist die Heimkehr zum Judentum noch vor der Rückkehr ins Judenland.“Als Herzl geendet hatte, herrschte einen Augenblick Stille, dann brandete stürmischer Beifall auf. Augenzeugen sprachen davon, dass es wie ein „Hosianna für einen König“ gewesen sei. Menschen kletterten übereinander, um ihm die Hand zu schütteln. Jede Ordnung brach zusammen, Stühle und Tische wurden umgestoßen. Auf der Galerie fiel eine Dame in Ohnmacht. Ohne Zweifel beherrschten den Kongress die Magie und das Charisma Herzls. Mordechai Ben Ami, Schriftsteller und Delegierter aus Odessa, gab seinen Eindruck von dessen Auftreten in Basel so wieder: „Es ist nicht mehr der elegante Dr. Herzl aus Wien, es ist ein aus dem Grabe erstandener königlicher Nachkomme Davids.“ Er erscheine in der Größe und Schönheit, mit der Fantasie und Legende, die mit ihm verwoben seien. Am Präsidialtisch schrieb Herzl seinen Eltern, seiner Frau Julie und jedem seiner drei Kinder eine Kongress-Postkarte. Er sah dies als „erste Kinderei“, die er sich in der zionistischen Bewegung geleistet habe. Es sollte nicht seine letzte sein in den sieben Jahren, die ihm noch für seine Mission blieben. Ein erstes Fazit seines Wirkens fiel nicht eben bescheiden aus. Wenn er den Baseler Kongress in einem Wort zusammenfasse – das er sich hüten werde, öffentlich auszusprechen –, so sei es dieses: „In Basel habe ich den Judenstaat gegründet.“ Dementsprechend verabschiedeten die Delegierten einstimmig das „Baseler Programm“, das zugleich die prägnanteste Definition der nationaljüdischen Bewegung lieferte: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlichen, gesicherten Heimstätte in Palästina.“Der Begriff „öffentlich-rechtliche Heimstätte in Palästina“ – nach den Worten des Schriftstellers Max Nordau (1849 – 1923) ein „Meisterwerk der Umschreibung“ – war vieldeutig. Das unpolitische Wort „Heimstätte“ wurde bewusst gewählt, da der türkische Sultan jede andere Formulierung möglicherweise als Aufruf zur Zerstückelung seines Reiches auffassen konnte.Herzl ließ Vorsicht walten bei jeder öffentlichen Äußerung während des Kongresses. Es war bekannt, dass Agenten des russischen Zaren und Spione des Sultans im Publikum saßen. Er wollte auf keinen Fall das Schicksal der Juden in Russland und der jüdischen Kolonisten in Palästina gefährden. Mit dem Baseler Programm hatte der politische Zionismus seinen gemeinsamen Nenner gefunden, der die divergierenden Strömungen der jüdischen Zionssehnsucht vereinte. Dies fiel insofern gänzlich aus dem Rahmen der nationalen Befreiungsbewegungen des 19. Jahrhunderts, als die Autonomie in einem Gebiet gefordert wurde, an dem zwar die jüdische Religion hing, in dem es aber seinerzeit nur wenige Juden gab. Der sich in Basel konstituierende Kongresszionismus verstand sich als säkulare Bewegung. Hatte sich Herzl im Jahr 1895 noch der Rettung der Juden verschrieben, wollte er danach auch ihr Führer werden. Und es gelang ihm – trotz seiner Stellung als säkularer, assimilierter Jude, dem die Welt der traditionellen jüdischen Bräuche fremd war –, als Akteur im Namen des gesamten jüdischen Volkes zu handeln. Er griff die Sehnsüchte vieler Juden auf und vertrat sie, indem er jährlich einen Zionistenkongress einberief, den er als autonomes Parlament des jüdischen Risorgimento sah. So war die Wirkung des Baseler Kongresses auf die Teilnehmer beachtlich. Herzl glaubte, sie würden später eine Art Aristokratie bilden. Israel Zangwill aus London fasste seine Eindrücke vom 1. Zionistenkongress in die Worte: „Die Juden saßen an den Flüssen Babylons und haben geweint, als sie an Zion dachten. Am Rhein bei Basel haben sie beschlossen, nicht mehr zu weinen.“Allerdings ist weder der Großteil des Diaspora-Judentums dem Herzl’schen Ruf gefolgt und hat sich in der apostrophierten nationaljüdischen Heimstätte niedergelassen, noch hat mit der israelischen Siedlungspolitik der Zionismus – wie es Herzl prophezeit und wohl auch gewünscht hatte – seine Erfüllung gefunden. Kurz bevor er starb, hatte er seine zionistischen Mitstreiter noch gemahnt: „Machet keine Dummheiten, während ich tot bin.“Auf die Frage, ob Herzl mit seinen Nachfolgern und der zionistisch-politischen Entwicklung zufrieden wäre, antwortete der israelische Schriftsteller Amos Oz (1939 – 2018) einmal: „Überhaupt nicht. Denn er wollte im Herzen des Nahen Ostens eine österreichisch-ungarische Republik schaffen, wo die Leute deutsch sprechen, sich wohlerzogen verhalten und zwischen zwei und vier Nachmittagsschlaf halten.“
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