Eigentlich beschäftigt sich der Journalist und Buchautor Mohamed Amjahid mit Themen wie Rassismus und Polizeigewalt. In seinem neuen Buch allerdings widmet er sich den Facetten der Sexualität in Nordafrika. Herausgekommen ist eine überraschende wie auch aufschlussreiche Reise in die sexpositive Tradition dieser Länder.
der Freitag: Herr Amjahid, als ich das erste Mal von Ihrem Buch „Let’s talk about Sex, Habibi“ gehört habe, erwartete ich eine populärwissenschaftliche Abhandlung über Sexualität in Nordafrika. Als Leser*in erhält man zwar Einblicke in Themen wie Scheidung, queeres Leben und Feminismus, aber auch viele persönliche und lustige Geschichten von Ihnen. Weshalb haben Sie sich entschieden, das Buch in dieser Form zu schreiben?
Mohamed Amjahid: In meinen ersten beiden Büchern, Unter Weißen und Der weiße Fleck, habe ich die deutsche Mehrheitsgesellschaft betrachtet. Diesmal wollte ich es umdrehen und die sogenannten „Anderen“ vorstellen. Die Frage war: Wie kann man ein breites Publikum dafür gewinnen, sich freiwillig mit der Lebensrealität der Menschen in Nordafrika auseinanderzusetzen? Als Menschen sind wir ja alle ein wenig voyeuristisch veranlagt, und so gelingt das am besten über Unterhaltendes und Emotionen. Als Autor geht mir aber das Herz auf, wenn mir Leute dann bestätigen, dass sie bei diesem Witz oder dieser Anekdote lachen mussten.
Gelacht habe ich auch, aber ich habe mich beim Lesen oft fremdgeschämt.
Ja, es ist cringey as fuck. Diese Emotionen zeigen ja, dass dich der Inhalt nicht kaltlässt. Natürlich sind viele Sachen zum Fremdschämen. Viele Geschichten könnten gerade für ein deutsches Publikum peinlich wirken, weil Stereotype in den Köpfen schlummern. Denn wenn man davon ausgeht, dass die Leute in Nordafrika prüde sind, dann ist es überraschend und auch unangenehm, von Orgien zu lesen.
Hatten Sie Sorge, dass die Leser*innen überfordert sein könnten?
Natürlich war im Schreibprozess die Frage präsent, wie viel ich den Leser*innen zumuten möchte. Die Antwort war dann: Alles, was geht. Wenn ich auf der Bühne aus meinem Buch lese, denke ich: „O Gott, wie peinlich. Kann ich das überhaupt machen?“ Aber die Reaktionen zeigen mir, dass es wichtig ist, nichts zu romantisieren.
Sie betonen im Buch mehrmals, wie freizügig Marokkaner*innen sind, wie präsent Sexualität ist – und zwar nicht in einer negativen Art und Weise, eher verspielt. Gleichzeitig ist außerehelicher Sex verboten und der weiblichen Jungfräulichkeit wird eine große Bedeutung beigemessen. Kann man freizügig sein und Sexualität auf Augenhöhe leben, wenn Sex solche Konsequenzen hat?Die nordafrikanischen Länder sind in sich sehr diverse Gesellschaften. Im Buch beschreibe ich diese Parallelgesellschaften und Teilöffentlichkeiten und wo genau diese sexuelle Befreiung möglich ist und gelebt wird. Wenn man auf Heiligenfesten unterwegs ist, dann kann man in den verschiedenen Zelten jeden Fetisch ausleben.Bitte?Lange bevor monotheistische Religionen in Nordafrika aufgetaucht sind, lebten die Menschen ihren sehr lebensfrohen Glauben aus. Auf diesen Heiligenfesten und im Alltag gehörten Trance und Erotik einfach dazu. Einmal im Jahr geht man auf den Moussem, also das Heiligenfest. Dort gibt es Alkohol, sakrale Musik und Zelte, in denen sehr vieles geht, was ich hier aufgrund des Jugendschutzes nicht im Detail ausführen werde.Das passt nur schwer in das Bild von islamisch geprägten Ländern hierzulande.Ich bin in den 1990er-Jahren in der Stadt Meknès aufgewachsen – eine wirklich sehr konservative Gegend – und niemals hätte ich mir vorstellen können, was alles in Marokko möglich ist. Die Gesellschaft in diesen Ländern befindet sich im Umbruch und die Menschen streiten sich, wie und was erlaubt sein soll. Es gibt die Liberalen, die betonen, dass alles möglich sein muss, und deren Stimmen werden lauter. Sie können sich dabei auf die sexpositive Tradition in Nordafrika berufen.Der Islam ist ja erstaunlich sexprogressiv: In einer Sure geht es darum, dass die sexuelle Befriedigung der Frau die Pflicht des Ehemannes ist. Andere Suren betonen die Wichtigkeit des Vorspiels und des Küssens. Wie geht das mit dem konservativen Alltag, der strikten Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit oder eben dem Verbot von außerehelichem Sex zusammen?Der Islam ist pure Anarchie. Das hat positive und negative Auswirkungen. Ein großes Problem in der islamischen Mehrheitsgesellschaft ist meiner Meinung nach, dass jeder Mann um die Ecke kommen und von sich behaupten kann, ein Gelehrter zu sein. Und niemand würde das wirklich hinterfragen. Es steht nicht fest, wer wirklich Autorität in religiösen Fragen hat. Und das erlaubt die unterschiedlichsten Auslegungen – von freiheitlich-progressiv bis hin zu körperfeindlich.Es scheint, als würden gerade die konservativen Auslegungen weitergegeben, im Islamunterricht zum Beispiel.Im Islamunterricht bekam ich häufig Probleme, ich habe alles hinterfragt. Ein Jahr lang hatte ich einen erzkonservativen Lehrer, der mich bei Nachfragen auch mal aus der Klasse warf, und einen Lehrer, mit dem man frei über Religion philosophieren konnte. So steht und fällt vieles mit dem Gegenüber. Ein weiteres Problem ist, dass der Islam eine kontrollversessene Religion sein kann. Es gibt viele Vorschriften: Wie man sich waschen soll, wie man essen soll, welche Sexpositionen gut sind und welche nicht. Da denkt man sich schon: „Chill, es gibt wichtigere Sachen, um die sich eine Religion kümmern kann.“Was mir in „Let’s talk about Sex, Habibi“ gefehlt hat, war das Thema der Sexualität in der Diaspora – vor allem der marokkanischen. Warum ließen Sie das aus?Ich musste als Autor hart bleiben und sagen: Der Fokus ist Nordafrika. Natürlich kommt die Diaspora an einigen Stellen vor, denn es gibt Verbindungen und die lassen sich nicht so einfach trennen. Mir war es aber wichtig, den Menschen vor Ort die größtmögliche Bühne zu geben. Deswegen ist es mein Wunsch, dass ich mit Let’s talk about Sex, Habibi Lesungen in diesen Ländern halten kann. Ich will mit den Menschen ins Gespräch kommen und hören, was sie von dem Buch und von meinem Blick auf ihre Gesellschaft halten. Die Beziehung zwischen der Diaspora und den Menschen vor Ort ist komplex und von Spannungen geprägt. Wir müssten auf jeden Fall darüber sprechen – über das Machtgefälle und über die Überheblichkeit der emigrierten Menschen zum Ursprungsland. Aber Let’s talk about Sex, Habibi war explizit nicht als Diaspora-Buch gedacht.Placeholder infobox-1Vielleicht können Sie ja einen großen Unterschied zwischen der Sexualität der marokkanischen Diaspora und den Menschen in Marokko benennen?Es ist häufig so, dass die Personen, die im Ausland leben, konservativer sind, wenn es um Sexualität geht. Sie haben – wenn überhaupt – vielleicht vor 30 Jahren in Nordafrika gelebt und haben ein veraltetes Bild von den Ländern im Kopf. Wenn ich nach Marokko oder in die Region fahre, staune ich oft darüber, was in der Zwischenzeit alles passiert ist.Hatten Sie beim Schreiben die Befürchtung, eventuelle Vorurteile und Stereotype über die Gesellschaft in dieser Region zu bestätigen?Bei einigen Stellen hatte ich diesen Gedanken. Ein Beispiel ist das Thema Magie und Zauberei. Da dachte ich schon: „O Gott, jetzt stelle ich so viele Leute als abergläubisch dar“. Es ist aber ein Teil der Realität. Es gibt Umfragen, die besagen, dass ein Großteil der marokkanischen Gesellschaft an übernatürliche Kräfte glaubt. Ich habe dieses Buch in Casablanca auf dem Balkon meiner Mutter geschrieben. Dann war ich noch mal unterwegs in den Städten Meknès, Fez und Marrakesch, auf den Basaren und den Märkten, habe mit Leuten gesprochen und gemerkt, der Aberglaube ist ein respektables Wissen in der marokkanischen Gesellschaft. Das will ich dann auch darstellen.Wobei der Glaube an Magie und Esoterik nicht nur auf diesen Raum beschränkt sein muss ...Bezüglich Nordafrika heißt es schnell: „Ach, die glauben an Dschinns. Das passt nicht zur Moderne.“ Ich war zu Anfang dieses Jahres für ein paar Monate in den USA, in Los Angeles, und ich habe keine magiebesessenere Gesellschaft gesehen als diese. Halb Hollywood rennt zu Magier*innen und lässt sich die Zukunft vorlesen. Auch in Deutschland ist Esoterik bekanntlich ein Millionengeschäft. Es wird nur anders geframt.Placeholder authorbio-1