Mit Parolen und Willenskraft bewaffnet

Jordanien Die Monarchie wird zum Auslaufmodell, wenn sie in Amman weiter eine Regierung duldet, die sich tiefgreifenden sozialen Reformen widersetzt

Mit seiner hellen Haut und den dunklen Haaren könnte Wissam Omoush als westlicher Typ durchgehen, wären da nicht seine weiße Robe und der lange Bart – beides Markenzeichen der Salafi Jihadis, der Anhänger von Abu Musab al-Zarqawi, dem jordanischen Al-Qaida-Führer im Irak, der 2006 getötet wurde.

Derzeit ist Wissam häufig auf Demonstrationen unterwegs, deren Teilnehmer sich einem Jordanien der Reformen verschrieben haben: „Wir wollen eine rechenschaftspflichtige Regierung und ein Ende der Repressionen durch die Sicherheitskräfte.“ Noch vor Kurzem war der 35-Jährige überzeugt, in den arabischen Despotien sei ohne Gewalt kein Wandel möglich. Seine Ansichten wurden durch drei Jahre Haft in Guantánamo genährt. Von dort nahm er die Überzeugung mit, die Welt sei „gegen uns Muslime“. Als er 2004 entlassen wurde, nahmen ihn die jordanischen Behörden fest, Wissam landete immer wieder zur Sicherheitsverwahrung in Arrestzellen. Das hat in ihm die Überzeugung erhärtet: Pro-amerikanisch geprägte arabische Regierungen verstehen nichts anderes als die Sprache der Gewalt. Dann jedoch beobachtete er, wie friedlicher Protest in Tunesien und Ägypten verhasste Diktatoren zu Fall brachte. „Ich hätte vorher nie gedacht, dass Menschen nur mit Parolen und Willen bewaffnet ein Regime stürzen können.“

Kein Königssturz

Kurz nach 9/11 war Wissam Mitglied der dem friedlichen Gebet vertrauenden Gruppe Al-Daawa in Pakistan und wurde von den dortigen Behörden als potenzieller Terrorist der US-Armee übergeben, die ihn ins afghanische Militärgefängnis Bagram sperrte, bevor er ins Camp Guantánamo wanderte. Für Wissam galt fortan, dass Gewaltfreiheit im Kampf gegen Besatzungsmächte kein Mittel sein kann – sei es in Afghanistan, im Irak oder in Palästina. Darin unterschied er sich kaum von Millionen junger Araber. Dann aber erlebte Wissam die beiden jordanischen Aktivisten Moath Azza (23) und Hamza Zaghloul (24). Sie gingen in Amman – inspiriert vom arabischen Aufstand ringsherum – ab März auf die Straße, wurden mehr als einmal verhaftet und von Polizisten verprügelt, nur um bald wieder bei einem Protestmarsch in vorderster Reihe zu stehen. „Wir verlangen nicht den Sturz der Regierung, aber wir wollen sie reformieren“, sagt Hamza. In der Opposition bestehe kein Konsens, König Abdullah zu stürzen. „Aber es gibt kein Zurück zur absoluten Herrschaft und zu Regierungen, die tun und lassen können, was sie wollen“, fügt Moath hinzu.

Für beide waren die Massaker des 11. September 2001 der Beginn einer düsteren Ära: Muslime und Araber sahen sich als Inkarnation des Bösen gebrandmarkt. Die arabischen Regimes nutzten den durch die USA ausgerufenen „Krieg gegen den Terror“, um ihre eigenen Völker stärker im Griff zu halten. Frustriert beobachteten Moath und Hamza, wie der Westen im Sommer 2006 Israels Einmarsch im Libanon und die Gaza-Intervention Anfang 2009 unterstützte. Sie geben heute zu, den 11. September 2001, aber auch Osama bin Laden mit sehr gemischten Gefühle gesehen zu haben. „Als ich hörte, dass jemand die USA attackiert hat, dachte ich: Endlich hat jemand bewiesen, dass sie nicht unbesiegbar sind“, erinnert sich Moath. „Als ich dann die Bilder der Opfer sah, änderte sich mein Urteil. Trotzdem wollte ich, dass amerikanische Macht herausgefordert wird. Nur wusste ich nicht, wie das aussehen sollte.“ Hamza stürzten diese Fragen lange Zeit in eine innere Krise. „Osama bin Laden wagte es, dem Empire die Stirn zu bieten – aber repräsentierte er wirklich mich?“

In der Rhetorik von US-Präsident Bush nach dem 11. September blieb kein Platz für all jene, die entschlossen waren, dem zu widerstehen, was sie als universale Tyrannei des Westens empfanden. Aber anders als Wissam fühlten sich Hamza und Moath nicht dazu berufen, die Weltanschauung von al-Qaida zu vertreten. Sie waren in liberalen muslimischen Familien aufgewachsen, die Fanatismus und Fundamentalismus ablehnten.

Von Apathie umgeben

Anfangs engagierten sich beide für Solidaritätsaktionen zugunsten des palästinensischen Volkes und beteiligten sich an einer Kampagne gegen die israelische Belagerung des Gazastreifens. Aber als sie ihre eigene Gesellschaft bewusster wahrnahmen, stellten sie ernüchtert fest, wie sich Macht und Reichtum in den Händen einiger weniger konzentrierten. Sie waren aufgebracht über eine Regierung in Amman, die eine vom Internationalen Währungsfonds (IWF) verordnete Politik der Wirtschaftsliberalisierung verfolgte und Subventionen für Heizkraftstoff und Grundnahrungsmittel kürzte, was natürlich zu einem Preisschub führte. Sie schlossen sich kleinen Gruppen junger Linker an, die keiner bestimmten Partei angehörten, und wollten den unterdrückten Klassen im Land eine Stimme geben.

„Wir begannen, Graffitis zu sprayen, mit denen die Regierung beschuldigt wurde, gegen die Armen zu kämpfen, aber wir hatten das Gefühl, von Apathie umgeben zu sein“, erinnert sich Moath. Es schien so, als seien die Leute von Angst und einem Gefühl der Machtlosigkeit gelähmt. Dann explodierte Tunesien, gefolgt von Ägypten. Moath und Hamza zogen – wie viele – den Schluss: Wenn sich die ägyptische und tunesische Jugend gegen notorisch repressive Regimes auflehnt, „können wir das in Jordanien auch“.

Auf dem Weg zum ersten Sit-in im März traute Moath seinen Augen kaum, als er sah, dass er und seine Freunde nicht länger allein waren – das jordanische Volk wollte sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die Sicherheitskräfte lösten das Protestcamp am zweiten Tag auf, und Moath verbrachte zehn Tage in Haft. Aber der Bann war gebrochen: „Wir fühlten uns mächtig. Die Zukunft lag in unseren Händen“, sagt Hamza.

Die Welt, die auf 9/11 folgte, wurde diesen selbstbewussten jungen Leuten nicht gerecht. Plötzlich besaßen die USA keine Kontrolle mehr über ihr Leben und – noch wichtiger – nicht mehr über ihr Denken. „Wir fühlten uns verzerrt dargestellt. Aber all das ist jetzt irrelevant. Wir schaffen selbst unsere Realität. Wir schaffen das Bild von uns“, sagt Moath. „Eines Abends fuhren wir während des Ramadan auch deshalb in den Süden des Landes, um an einer Demonstration nach dem Sonnenuntergangs-Fastenbrechen in Tafilah teilzunehmen – in einem der am stärksten von Jordaniens Wirtschaftskrise heimgesuchten Landesteile.“

Nachdem er im Zentrum von Amman am wöchentlichen Freitagsmarsch für Reformen teilgenommen hatte, fragte mich Moath, ob ich später mit in eine Karaoke-Bar käme, in der er und andere Aktivisten oft ihre Zeit verbringen würden. Als wir dort ankamen, griff Moath zum Mikrofon und begann, einen John-Lennon-Song anzustimmen. Angestrengt sah er aus, die hellen grünen Augen zusammengekniffen: Imagine all the people sharing all the world (Stell dir vor, all die Menschen, sie teilten sich die Welt). „Ich liebe es einfach zu singen“, sagt er mir an diesem Abend.


Lamis Andoni
ist Journalistin und Politik-Analystin in Jordanien. Sie hat zuletzt auch als Ressortchefin für den arabischen Fernsehkanal Al Jazeera gearbeitet





Dieser Text ist Teil der Freitag-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort die weiteren Texte der Sonderausgabe verlinkt

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