Stereotype vor Fakten

Vorurteile Die Brasilianerin liebt Bikinis, Samba und Sex. Oder? Über die lange, dunkle Geschichte eines Klischees
Ausgabe 27/2017

Eine einfache Google-Suche zeigt, welche Zuschreibungen in der Regel mit Frauen aus Brasilien verbunden werden. Glaubt man dem Netz, stehen Brasilianerinnen für Bikinis, Strandleben, große Hintern und Sinnlichkeit. In einem tropischen Paradies, in dem der Karneval nie endet, erheben sie sich vermeintlich morgens Samba-tanzend und gehen nachts so auch wieder ins Bett. Und selbstverständlich sind sie alle verrückt nach Sex.

Dieses Bild hat natürlich so viel mit der Realität zu tun, wie die im Ausland ebenfalls weitverbreitete Vorstellung, im Oktober komme Jahr für Jahr das gesamte Leben in Deutschland zum Erliegen, weil die Deutschen sich landesweit bei Oktoberfesten in einen Dauerrausch tränken. Und doch ist es wirkmächtig. Dieses Image der brasilianischen Frau hat nicht nur zur Folge, dass sie in manchen Reiseführern bis heute als Teil der landestypischen „Sehenswürdigkeiten“ aufgezählt wird, sondern es ist auch Ausdruck eines spezifischen Sexismus, der sich an die Nationalität knüpft. Mit Wurzeln in der kolonialen Vergangenheit des Landes und bis heute für eine irregeleitete Tourismuswerbung benutzt, hat dieses Bild, das sich die brasilianische Frau immer nur als „Mulattin“ vorstellt, nicht nur Auswirkungen auf Brasilianerinnen im Ausland, sondern auch auf die Frauen im Land.

„Ich, Brasilianerin“

Viele Brasilianerinnen können Geschichten davon erzählen, auf welch unangenehme Arten sie mit Stereotypen im Ausland, etwa in Europa, konfrontiert wurden. Die Fotografin Fernanda Peruzzo hat diesen Erfahrungen ein eigenes Projekt gewidmet: Ich, Brasilianerin. „Nachdem man als Frau aus Brasilien erkannt wurde, ist es sehr verbreitet, dass man sich typische Kommentare bezüglich der eigenen Sexualität, des Berufs oder des Aufenthaltsgrunds im jeweiligen Land anhören kann“, erklärt Peruzzo. „Und nicht selten endet das in verbalen oder physischen Übergriffen.“

Peruzzo selbst hat fünf Jahre in Paris gelebt. Dort hat sie auch den ersten Teil ihres Projekts umgesetzt – 42 Schwarzweiß-Porträts, begleitet von einem einzelnen Satz, den sie aus längeren Gesprächen mit den Fotografierten auswählte. Sie hat sich bewusst dafür entschieden, den Mechanismus der Stereotypisierung auch dadurch zu zeigen, dass sie die Namen der fotografierten Frauen nicht nennt. „Ich identifiziere sie nicht eindeutig, weil die Menschen, die andere mit Stereotypen belegen, diese auch nicht als Individuen sehen. Und ich habe aus den langen Interviews nur jeweils einen Satz ausgewählt, weil dieses Herausgelöste zu einer Irritation führt. Man fragt sich sofort: Warum musste sich diese Frau das anhören? Warum wurde sie in eine solche Situation gebracht?‘“

Als Peruzzo in den sozialen Netzwerken Aufrufe an Brasilianerinnen postete, die in Europa leben, und diese bat, von ihren Erfahrungen zu berichten, bekam sie Nachrichten aus allen Ecken des Kontinents. Da gab es die brasilianische Studentin, die gebeten wurde, sich doch in einer anderen Nachbarschaft nach einer Wohnung umzusehen, weil in dieser Gegend vor allem Familien mit kleinen Kindern lebten. Für sexuelle Ausschweifungen gebe es da keinen Platz. Und es gab Frauen, die im Bus attackiert wurden, weil sie Brasilianerinnen waren – und dies automatisch mit Prostitution gleichgesetzt wurde. Manche Frauen berichteten, dass sie bespuckt worden waren.

Der Klassiker-Spruch, den fast jede brasilianische Frau kennt, ist aber „Oh, du bist Brasilianerin!“ – gefolgt von einem unverhohlenen Schweifenlassen des männlichen Blicks über den Körper der Frau. Sehr beliebt ist außerdem die Frage: „Welche Bikini-Größe hast du?“ Oft in den absurdesten Situationen gestellt, etwa bei einem Gespräch unter Arbeitskollegen im Büro.

In einer globalisierten Welt mit einer weitgehend globalisierten Kultur zu leben, bedeutet natürlich nicht, dass es keine nationalen Klischees mehr gibt. Eher im Gegenteil: Eine über die Medien vermittelte Pseudo-Nähe verfestigt die Stereotype eher. Diese dienen erst einmal der Reduktion der Komplexität und ermöglichen Menschen so, der Informationsflut beizukommen. Das Problem beginnt jedoch, wenn sie sich zu Vorurteilen verfestigen – und im Fall des Images der hypersexualisierten Brasilianerin ist das Stereotyp zudem auch ein zutiefst rassistisches.

Die „Mulattin“ mit der Brasilianerin gleichzusetzen, ist eine Vorstellung, deren Wurzeln weit zurück in die koloniale Vergangenheit des Landes reichen. Der Begriff „mulatto“ wurde geschaffen, um die Kinder zu bezeichnen, die schwarze versklavte Frauen als Folge von Vergewaltigungen durch ihre weißen Herren gebaren. Hinzu kommt die Sichtweise der portugiesischen Kolonialherren, die Brasilien oft als ein exotisches Paradies voll halbnackter Eingeborener beschrieben. Und dieser Blick ist bis heute in den medialen Bildern erhalten, die die Brasilianerin als besonders sinnlich-sexualisierte Frau beschreiben.

Reiseziel Frau

Auch in der Literatur wurde dieses Bild immer wieder festgeschrieben. Jorge Amado schrieb mit Gabriela wie Zimt und Nelken 1958 einen Weltbestseller, der sich insgesamt mehr als eine Million Mal verkaufte und das Bild der dunkelhäutigen, schönen, sinnlichen Brasilianerin bediente. International nicht ganz so bekannt ist der Roman O Cortiço von Aluísio Azevedo, zu dessen Figurenpersonal auch eine unmoralische, libertäre und mit einem skulpturengleichen Körper gesegnete Brasilianerin zählt.

Viel stärker als die Literatur prägten aber Werbung und Marketing dieses Image. In den 1970er Jahren, als das Land die härteste Phase der Militärdiktatur erlebte, wurde es zur Aufgabe des brasilianischen Tourismusministeriums, die Repressionen und Folter im Land hinter bunten Bildern zu verstecken. Die Imagekampagne konzentrierte sich dabei auf drei Themen: Rio de Janeiro, der Karneval und die brasilianische Frau. „In vielen offiziellen Publikationen stand das Bild der Frau im Mittelpunkt des Promotionmaterials – ohne jeden Kontext. Man wusste nicht, wer sie war. Es wurde nur ihr Körper gezeigt“, sagt Kelly Kajihara, die eine Studie über das Bild Brasiliens im Ausland durchgeführt hat.

Als das Land dann 2014 die Fußball-Weltmeisterschaft ausrichtete, tauchten Massen von Werbematerialien in europäischen Medien auf, die das Klischeebild mit Stränden, Samba und Frauen betonten. Fernanda Peruzzo hat einen Teil davon für ihr Projekt gesammelt, zum Beispiel Poster von Frauen am Strand. „Es ist darauf kein Fußball zu sehen, und schon gar kein Mann. Auf dem Poster gibt es nur eine Mulattin und ihren großen Hintern, zusammen mit der Aufforderung: ‚Komm zur WM 2014 nach Brasilien‘“, sagt Peruzzo.

Diese Zuschreibungen und Vorstellungen haben auch gesellschaftliche Folgen im Land selbst. Eine internationale Studie zeigt, dass 63 Prozent der Brasilianerinnen eine Schönheits-OP machen wollen. Das ist der höchste Wert aller verglichenen Länder. Und sieben von zehn Brasilianerinnen geben an, dass sie sich nicht mehr an den Strand trauen, wenn sie sich hässlich oder fett finden.

Nátaly Neri, eine schwarze Brasilianerin, die sehr bekannt für ihren Youtube-Kanal ist, hat in einem TED-Talk darüber gesprochen, welche Erwartungen sie von früher Kindheit an begleitet haben. Als Kind hörte sie oft, wie andere Erwachsene ihre Eltern warnten, dass ihnen das Achten auf die Anständigkeit ihrer Tochter viel Arbeit machen würde, wenn sie größer werden würde. Neri wurde erwachsen – aber sie bekam nicht die üppigen Rundungen, die „Mulattinnen“ zugeschrieben werden. „Aber soll ich meinen Selbstrespekt von einem großen Hintern und einem Paar Titten abhängig machen?“, fragt sie wütend in dem Talk. Und fügt hinzu, dass viele Frauen, die sie kenne, darunter litten, wie sie aufgrund ihre Körperformen zu reinen Objekten gemacht würden.

Es geht nicht darum, dass wir brasilianische Frauen den Strand, Bikinis und Samba nicht lieben würden. Viele tun das, manche auch nicht. Was hinter den Stereotypen aber verschwindet, sind Fakten wie jener, dass Frauen in Brasilien 40 Prozent des durchschnittlichen Familieneinkommens verdienen. Dass Frauen die Mehrheit der Studierenden an brasilianischen Universitäten stellen. Und dass vor allem schwarze Frauen früher im Leben zu arbeiten beginnen und später damit aufhören als Männer. Kurz, Frauen haben dieses Land seit Jahrhunderten mitaufgebaut – und sie tragen es bis heute. Es ist höchste Zeit, diese Realität hinter den negativen Stereotypen zu sehen.

Lana Ohtani, Jahrgang 1995, ist Brasilianerin. Sie hospitierte die vergangenen Monate in der Redaktion des Freitag

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