Das Abhandene

Essays Piscator, Brecht, Wolfskehl, Klee: Marie Luise Knott bringt die alte Avantgarde zum Sprechen
Ausgabe 47/2017
Das Abhandene

Illustration: der Freitag

Gegen Ende der Weimarer Republik, genauer: Im Jahr 1930 glühten die künstlerischen Avantgarden bloß noch nach. Innovation geriet zur Tradition, Zwölfton lag zehn Jahre zurück, der Kubismus über 15 Jahre, Joyces bewusstseinsströmender Ulysses erschien 1922. Beim Hochsteigern der Fortschrittsspirale war der Scheitelpunkt überschritten. Figuren der Wiederholung machten sich breit. Und da waren Geschichtszeichen, die auf die Krise deuteten. Marie Luise Knott spricht in ihrer Essaysammlung von einem Vakuum, das freilich auch eine Chance hätte bedeuten können. Die ästhetische Moderne stand im Jahr 1930 am Scheideweg.

„Das radikal Neue, das es 1930 in der Kunst tatsächlich – auch – gab, fand nach 1930 keinen Raum mehr, sich weiter zu entfalten“, schreibt Knott. „Nichts und niemand war mehr an seinem Platz.“ In diesem Sinne kennzeichnet das Jahr 1930 den Bruch. Der darauf folgende Sieg der Nazis war „die Zerstörung einer Zukunft, die Zerstörung all dessen, was im Jahr 1930, in der Erschöpfung der Moderne, neu versucht und bedacht wurde“. Aber dieser Weg wurde nicht beschritten, und im Januar 1933 war es mit der ästhetischen Moderne vorbei – und nicht nur damit. Ein zentraler Strang der Kunst wurde gekappt.

1930 als ein Film-Still

Doch nicht vom Gang der Geschichte her, sondern vom Augenblick aus will Knott denken. Deshalb dieses Jahr 1930 – als Chiffre, als Zeichen. Das Kontinuum der Zeit mit dem Blick der Essayistin aufzusprengen, um neue Erfahrungen zu generieren. Für diesen Versuch greift sich Knott vier Künstler heraus: den revolutionären Theatermacher Erwin Piscator, den konservativen Schriftsteller Karl Wolfskehl, der hier in Deutschland weitgehend vergessen ist – allein wegen dieses Essays lohnt sich der Band. Weiterhin lesen wir vom großen Experimentator Bertolt Brecht und vom mal verspielten, mal im Bauhausstil malenden Paul Klee. Ganz unterschiedliche Charaktere also. Knott betont, dass diese Auswahl kontingent sei, aber jeder dieser Künstler veranschaulicht auf seine Weise einen Zug der Moderne um 1930.

Wozu aber der Blick zurück, wenn er nicht in irgendeiner Weise auch auf unsere Gegenwart zielt? Als ästhetischen Selbstzweck sieht Knott ihre Betrachtungen nicht, sondern vielmehr will sie die Frage stellen, ob wir uns der Vergangenheit womöglich anders bemächtigen könnten, wenn wir diese Zeit wie in einem Film-Still fixierten – auch um neue Aspekte zu entdecken oder Passagen zu finden, wo es hätte anders laufen können. Man muss hier an Walter Benjamins Wendung von der „Dialektik im Stillstand“ denken: dass Geschichte wie eine Fotografie fixiert wird. Aus solchen Szenen lassen sich die Zeitzeichen deuten, und diese Methode schärft auch den Blick für die Gegenwart – darauf zumindest scheint Knott implizit zu hoffen. Sie setzt manche Parallele zum Heute, ohne dabei in die tagesaktuelle Politik zu greifen. Deutschland 1930 ist nicht die Bundesrepublik im Jahr 2017. Aber um die Gegenwart zu deuten, hilft es manchmal, einen Schritt zurückzutreten.

Wenn sie über Piscators hypermodernes, proletarisches Theater des Geschwindigkeitsrausches schreibt, ein Theater, das mittels Technik das Tempo der Großstadt ins Bild setzt, ein Theater, worin das Individuum zu verschwinden droht, dann lässt sich das gut aufs Jetzt münzen: „Durch die Bilderflut werden uns die Augen gestopft.(…) Je mehr wir zu sehen bekommen, desto weniger haben wir offensichtlich zu sagen. Doch die Flut der Bilder erzeugt die Fiktion man könne an der ganzen Welt teilhaben.“ Ein Schuft, wer bei solchen Sätzen nicht an Facebook oder Instagram denkt.

So wie Piscator auf der Bühne jenen kalten Geist der Epoche visualisiert, so ist Wolfskehls Sprachwelt ganz aus der Zeit gefallen. Mit seiner Sehnsucht nach einem „geheimen Deutschland“ erscheint Wolfskehl im Reigen dieser Künstler als Kontrast. Solche Konstellationen lesen sich spannend, weil wir etwas über die unterschiedliche Art erfahren, wie sich die Künstler ästhetisch mit ihrer Zeit befassen. Diese Verschränkung der Perspektiven zu einem Bild der Epoche löst der Essay gut auf. Er funktioniert wie ein Kaleidoskop. Knott zeigt die Tendenz dieser Epoche – eine Melange aus Aufbruch, Ausbruch und Krise. Jeder der vier Essays handelt auf seine Weise vom „Abhandenkommen von Welt“.

Und so bleibt am Ende der Lektüre eine leise Trauer. Vielleicht ist es der elegische Ton des Buchs, vielleicht Knotts Plädoyer für eine emphatische Individualität, die jedoch von der Geschichte nicht eingelöst wurde, jenes Verglühen einer einmaligen Chance, das den Leser melancholisch stimmt. Ob das auch unsere Stimmung ist? Im Abgleich der Zeiten zwischen Vergangenheit und Gegenwart kann sich jeder seinen eigenen Reim auf die Geschichte machen. Knotts Essays versuchen, die Zeichen zu lesen und in eine andere Ordnung zu bringen. Sie tun dies ohne lautes Geschrei. Allein das ist in der Gegenwart wohltuend.

Info

Dazwischenzeiten: 1930. Wege in der Erschöpfung der Moderne Marie Luise Knott Matthes & Seitz 2017, 192 S., 20 €

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lars Hartmann

Grenzgänge zwischen Philosophie und Kunst

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