Die neue Aufgabe

Kehrseite Siebenuhrzwölf und da saß er wieder. Heinrich Immada (67) nahm seinen Platz in der U4 ein. Strecke: Hauptbahnhof - Botanischer Garten - Neustadt - ...

Siebenuhrzwölf und da saß er wieder. Heinrich Immada (67) nahm seinen Platz in der U4 ein. Strecke: Hauptbahnhof - Botanischer Garten - Neustadt - retour. Fünf Kontrollfahrten macht er seit seiner "Versetzung in den Ruhestand" täglich.
Von wegen Ruhestand! Nicht mit ihm!
U-Bahn-Fahren war eine sinnvolle Art, in Unruhe zu bleiben, wie er fand. Schließlich fuhr er ja nicht zum Vergnügen. Immada hatte es sich zur Pflicht gemacht, Ordnung zu garantieren und Schutz zu geben; in "seiner Linie", der U4, sollten alle Mitfahrer sicher sein: Frauen vor Männern, Männern vor anderen Männern, alte Frauen vor jungen Frauen und was es sonst noch für Konstellationen mit kriminellem Potenzial gab. Man las davon ja immer wieder in der Zeitung!
Er trug einen dunkelblauen Blazer mit einem aufgestickten Emblem, das wie eine Zigarrenbanderole aus Cuba oder Sumatra aussah. Auf seinem Schoß lag ein Schnappverschlusskoffer mit Zahlenschloss in ausgeblichenem Beige; die Ruheposition seiner Hände malte sich auf dem Leder fettig ab. Die schwarze Hose hatte eine Ahnung von Bügelfalten und war dort ausgebeult, wo er ein Päckchen Papiertaschentücher (links) und eine Dose Halsbonbons (rechts) einstecken hatte. Halbhohe Wanderschuhe würden ihm Standsicherheit geben, sollte er sich in der fahrenden Bahn bewegen müssen.
Hinter der golden eingefassten Brille lag ein wacher Blick. Für gewöhnlich saß er auf der allerersten Bank entgegen der Fahrtrichtung. So hatte er den gesamten ersten Wagen im Visier und durch die Verbindungstür größtenteils auch den zweiten. Für seine neue Aufgabe hatte er sich sogar ein Handy zugelegt. Der Verkäufer hatte ihm diverse Hilfsrufe und sonstige nützliche Nummern vorprogrammieren müssen, bevor er die Geldscheine über die Theke gab. Darüber hinaus war der selbst ernannte U-Bahn-Sheriff nicht bewaffnet.
Anfangs als Ersatzbeschäftigung aufgenommen, entpuppte sich das U-Bahn-Überwachen bald als deutlich interessanter als der Schalterdienst in der Bank, den Immada 40 Jahre lang geleistet hatte. Zwar ging es auch in seinem neuen Job in der Bahn meist ums Geld, aber es war weitaus weniger offensichtlich, wer es wem abnehmen würde.
Sah er sich selbst als Instanz der Ordnung und Sicherheit, die das Versagen von Verkehrsgesellschaft und Staat aufwog, hielten ihn die Fahrgäste geschlossen für einen verwirrten Alten, der wohl keinen anderen Halt mehr hatte als die Stationen der U4. Sein Blick ängstigte die Kinder und so manche Bahnfahrer, die den Rentner in Dunkelblau-Schwarz zum ersten Mal bemerkten. Weil er letztlich aber niemanden belästigte, ließ man ihn unbeachtet sitzen, wo er saß.
Vier Jahre lang hatte Heinrich Immada täglich seinen Dienst in der U4 versehen. Bis zu jenem Freitag, als sich endlich der nahezu ersehnte Überfall ereignete - wo er zeigen konnte, wie wichtig er war.
Es traf allerdings keinen der Fahrgäste. Materiell betrug der Schaden 22 Euro. Körperlich überwand Immada die Konfrontation mit dem 17-jährigen Heroinabhängigen unbeschadet. Seelisch aber versetzte ihn der Vorfall innerhalb von wenigen Sekunden in den Ruhestand, vor dem er immer solche Angst gehabt hatte.

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