Gehen Sie in diese Ausstellung. Sie ist sehr gut. Sehr strukturiert. Sehr aktuell. Denn es geht um die heißesten Themen dieser Zeit: Stadtentwicklung. Integration. Es geht um Identitäten. Frauenkörper. Und auch um die Lebensmittelindustrie. Was fehlt? Ah, Jugend, aber um die geht es auch.
Michael Schmidt heißt der Fotograf, der die Betrachter im letzten Raum der Ausstellung im Hamburger Bahnhof, die dieser Tage nur in einer Richtung begangen werden kann, auf einem Selbstporträt so selbstverständlich anblickt, dass man lange davor stehen bleibt und sich fragt, woher man diesen Mann kennt. Tot ist er, seit 2014 schon, deswegen die Retrospektive, und es ist die erste in diesem Umfang, des Lebenswerks und Archivs des deutschen Fotografen, der mal im MoMA ausstellte
ausstellte, große Bildbände veröffentlichte, dem es an Glamour mangelt, was ihn im Heute erst richtig Glamour und Relevanz verleiht.Placeholder image-1Strukturiert ist die Schau, weil der Künstler über die Jahre in verschiedenen Themenzyklen und Werkgruppen arbeitete. Sie beginnt mit Berlin. Hier begann der gelernte Polizist als Autodidakt, der später als Volkshochschullehrer und Hochschuldozent arbeiten sollte, die Wirklichkeit auf Fotopapier zu bringen. Der in Kreuzberg geborene Sohn zweier Arbeiter entdeckte 1965 bei einem Kollegen eine Kamera und die damit verbundenen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten und kaufte sich von fast drei Monatsgehältern eine erste Kleinbildkamera. Fotografierte im Auftrag von Berliner Bezirksämtern Lebensumstände in den Bezirken Wedding oder Kreuzberg. Arbeitende Mütter, chronisch Kranke, bebrillte Kinder, angefaulte Zähne, angekrauste Haut. Soziale Kiez-Dokumentationen in vielen Graustufen, denen man die SPD-Mitgliedschaft Schmidts anzusehen vermag. Wirkend wie Hörspiele, aber ohne Erzählerstimme. In den frühen 1970ern begann Schmidt dann die Architektur der Stadt, in der er 1945 geboren worden war, zu fotografieren. Brandwände, Baulücken, Brachflächen, Berlin als Leinwand, die sie heute gerne wäre. Arbeiten, die abstrakt dokumentieren, was fehlt: Raum für Interpretationen.Im Jahr 1985 begann Schmidt die Arbeit an seinem Buch- und Ausstellungsprojekt Waffenruhe, wieder Schwarz-Weiß-Fotografien, aber viel ausschnitthafter, näher, kontrastreicher. Hier stehen Landschaftsaufnahmen, Porträts und Architekturbrocken nebeneinander und versuchen ein Vorwende-Berlin abzubilden, das keine Ahnung hatte, was es ist. Dessen Zerklüftung heute als die Basis gilt für all die Wunder-Existenz-Erzählungen, deren Dystopie auch heute noch als Versprechen für Möglichkeiten gilt. Rauchende, Trinkende, Schauende. Und drum herum immer die Mauer, mit ihren Sprühzeichen, und die Natur, die sich an sie ranschiebt. Mit dieser Arbeit bekam Schmidt erstmals internationale Aufmerksamkeit, nicht nur im Martin Gropius Bau, im Museum Folkwang, auch in New York wurde sie gezeigt.Placeholder image-2Deutschland, wer bist du?In den Neunzigern ging Schmidt dann noch näher ran. Der dokumentarische Charakter entsteht jetzt in der Komposition von Ausschnitten. Schmidt scheint dem Neuanfang der Wendezeit zu misstrauen und zeigt die Wiederkehr von Machtposen, Zeichensprache, Mimik im Nationalsozialismus, Sozialismus und der Vorzeigedemokratie. Ein-heit hängt Bilder wie Screenshots nebeneinander, sie geben das Beklemmende der BRD wieder, die Suche nach Identität nach der Wiedervereinigung. Neubau, Grundgesetz, Salutierende, Männerbünde, Wappenreliefs, Valium – oh, Deutschland, wer bist du? Für Schmidt scheinbar der Einzelne, die Einzelne und ihr Verhalten zu einem System.Später, kurz vor der Jahrtausendwende, widmet sich Schmidt dann dem Körper der jungen Generationen. Erst den Männern, aber mehr schaut er auf die Frauenkörper. Ihr Biegen, ihr Brechen, ihre Leberflecken, Narben. Bekleidung in uniformen Farben. Den Begriff Body Positivity gab es damals noch nicht, in den Gesichtern der jungen Frauen ist kein Trotz. Umso stärker erscheinen sie. Die Körper zeigen keine Fragilität, sind keine Fragen. Sie sind da. Und das reicht, um ihnen eine Eigenverantwortung zu geben, sie erzählen sich selbst, und nicht der Betrachter erzählt die Geschichte ihrer Körper.Placeholder image-3In den letzten Jahren seines Lebens, seines Schaffens dann noch mal ein scheinbar großer Themensprung. Nun geht es um Lebensmittel. Industriell gefertigte Fleischhappen, kalt und leer, Eisbergsalat. Schmidt reiste dafür durch Europa. Niederlande, Italien, Österreich, Spanien und Norwegen. Fotografierte erstmals in Farbe. In Fischfarmen, Plantagen und Schlachtereien. Auch hier geht er ran, bis zur Unkenntlichkeit, sodass aus den Details eine gemeinsame dokumentarische Erzählung entsteht. Über die Entfremdung der Nahrung, die Industrialisierung des Überlebens. Es ist die Darstellung des Überflusses in minimalen Sequenzen. Eine Kapitalismuskritik, die im Zusammenhang mit seinen frühen Berlin-Bildern eine klare Kraft entwickelt.Warum das alles so aktuell ist? Weil deutlich wird, nicht alles, was als Modethema erscheint, muss unwichtig werden. Michael Schmidts Werk zeigt die Wiederkehr von Themen in der Geschichte, dass alles, was war, auch ist und immer wieder sein wird.Placeholder infobox-1
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