Ist das der wahre Sex des Alters?

Kunst Unsere Kolumnistin besucht eine Ausstellung des Fotografen Harald Hauswald und wird nostalgisch, denn schon der Titel „Voll das Leben!“ verspricht mehr als das ganze Jahr 2022
Ausgabe 02/2022
Ausstellung zum Fotografen Harald Hauswald im C/O Berlin
Ausstellung zum Fotografen Harald Hauswald im C/O Berlin

Foto: Jürgen Ritter/Imago

Es mag an den Feiertagen gelegen haben, dass sich nostalgische Stimmung einstellte. Wobei es ja jetzt eigentlich seit zwei Jahren wie „zwischen den Jahren“ ist und ein gewisses Unbehagen sich nicht verleugnen lässt, anhand dessen sich eine unbestimmte Sehnsucht nach einer vergangenen, in der Rückschau verklärten Zeit entwickelt. Beweise?

PinkPantheress zum Beispiel, die Musikerin, die von BBC Radio die irre visionäre Auszeichnung „Sound of 2022“ erhielt, beschreibt ihren Stil als „new nostalgic“, Fast-Fashion-Ketten haben einfach die Klamotten von 1996 wieder auf die Bügel gehängt, und ich interessiere mich für die aktuelle Ausstellung bei C/O Berlin, wo Bilder des berühmten ostdeutschen Fotografen Harald Hauswald gezeigt werden. Nostalgie tut gut gerade.

Nun ist aber die Nostalgie in Deutschland ein heikles Ding, nicht nur, weil sich irgendwer das schreckliche Kofferwort „Ostalgie“ ausgedacht hat, das ja oft mit einem kieferkrampfenden Schmunzeln benutzt wurde, als sei es nicht erlaubt, Zetti Knusperflocken zu mögen. Sondern auch, weil es zu viele sogenannte dunkle Kapitel gibt, die man natürlich nicht verharmlosen möchte. Aber vielleicht ist Nostalgie auch nicht zwangsläufig Verklärung, sondern vielmehr ein In-die-andere-Richtung-schauen-Wollen? Denn mit Basenbädern und Wein allein lässt sich ja eine Menge aushalten, aber eine Pandemie gehört nicht dazu. Also ein Blick zurück in die DDR. Weil ja schon der Titel Voll das Leben! mehr verspricht als das ganze Jahr 2022.

Tanzende Punks – und Hitlergrüße

Hauswald, Mitbegründer der Agentur Ostkreuz und Oppositioneller, der zeitweise von etwa 40 inoffiziellen Stasi-Leuten überwacht wurde und die, die ihn anschauten, durch seine Linsen zurückbeglotzte, zeigt tanzende Punks und spielende Kinder und küssende Jugendliche – aber auch Hitlergrüßende und Panzer und geschwenkte Fahnen. Fotografien des Alltags zwischen Ende der 1970er und Mitte der 1990er Jahre, wo Jugendliche, die vor Zügen rumlungerten, irgendwie verheißungsvoller wirkten als heute.

Eingeleitet wird die Ausstellung mit Auszügen aus Harald Hauswalds Stasi-Akten, die in ihrer seltsamen Sprache gar nicht mehr den angemessenen Schrecken verbreiten, den sie vielleicht verbreiten sollten.

Aber man muss ja immer höllisch aufpassen, dass man beim In-die-andere-Richtung-Schauen Vergangenes nicht nur so interpretiert, dass es in Erzählungen von heute passt. Deswegen kann man vielleicht sagen, es ist die Jugend, die sich in dieser Ausstellung schön anschauen lässt, denn Nostalgie ist vermutlich so was wie der wahre Sex des Alters.

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