Warum das Emirat Schardscha jetzt „very zeitgeist“ ist

Kunsttagebuch Kunstmenschen aus aller Welt versuchen auf der Sharjah Biennale in die Zukunft zu blicken. Unsere Autorin sah dort in erster Linie etwas anderes
Ausgabe 08/2023
Hajra Waheed, „Hum II“, 2023. Commissioned by Sharja Art Foundation; supported by Canada Council for the Arts, Ottawa. Installation view: Sharja Biennial 15, Mureijah Art Spaces, 2023
Hajra Waheed, „Hum II“, 2023. Commissioned by Sharja Art Foundation; supported by Canada Council for the Arts, Ottawa. Installation view: Sharja Biennial 15, Mureijah Art Spaces, 2023

Foto: Motaz Mawid/Sharjah Biennial 15

Es ist jetzt keine Neuigkeit, Sie werden es vielleicht bereits mitbekommen haben, die Zeit des Westens ist vorbei. Jetzt werden andere Geschichten erzählt, jetzt spricht der sogenannte globale Süden. Jetzt halten wir mal schön den Mund.

Wer daran immer noch zweifelt, sollte nach Schardscha fahren, das ist eines der sieben Vereinigten Arabischen Emirate, neben Dubai in den Sand gesetzt. Noch nicht so lange her. Denn dort findet aktuell die 15. Sharjah Art Biennale statt, die den etwas offiziell klingenden Titel Thinking Historically in the Present trägt. Etwa 150 Künstlerinnen und Künstler aus über 70 Ländern stellen dort aus und wie schon kürzlich auf der documenta fifteen, auf der Kunstbiennale in Venedig oder der Berlin Biennale, geht es auch hier um Auseinandersetzung mit Kolonialgeschichte, Fluchterfahrungen, Machtfragen, Rassismus und Diaspora. Konzipiert hatte das noch Okwui Enwezor – der schon 2002 den (deutschen) Kopf drängte, in andere Richtungen zu sehen. Aber weil Enwezor 2019 starb, wurde diese Biennale dann von der Direktorin der Sharjah Art Foundation, Hoor Al Qasimi, kuratiert.

In den Werken fahren wir nach Palästina, Südafrika, nach Mumbai, nach Madagaskar, Marokko oder Aserbaidschan. „Exile is a Hard Job“, schreibt Nil Yalter an Wände und zeigt Portraits türkischer Immigranten, Pipo Nguyen-Duy zeigt Fotografien von Kindern in ehemaligen Kriegszonen aus Vietnam, die an Landschaftsmalerei erinnern, Gabriela Golder lässt Kinder Knast-Briefe politischer Gefangener der argentinischen Militärdiktatur vorlesen. Michael Rakowitz erzählt von der Veränderung der irakischen Dattelindustrie durch Krieg und Klimawandel. Prajakta Potnis richtet den Blick auf Gender und Class, indem sie von Haushaltshilfen in Indien berichtet. Maria Magdalena Campos-Pons zeigt eine Installation zur komplexen Geschichte ihrer afro-kubanischen Familie. Und Erkan Özgen zeigt unter anderem ein Video des taubstummen Jungen Muhammed, der vor seiner Flucht aus Syrien massive Kriegsgewalt erleben musste und der in Tönen und Gesten nachstellt, wie Blut aus Mündern spritzt, Genicke nach hinten kippen.

Das Publikum zumindest zeigt sich angetan von den poetischen Arbeiten dieser Ausstellung. Da ist das Video des indischen Dokumentarfilmers Amar Kanwar, der märchenhafte Weisheiten präsentiert, die verträumte Soundinstallation der Künstlerin Hajra Waheed, die gesummte Lieder des Widerstands aus Afrika, Süd-, Zentral- und Westasien zusammenfügt. Oder der Videobeitrag von Isaac Julien, in dem es um den afro-amerikanischen Philosophen Alain Locke und den Kunstsammler Dr. Albert C. Barnes geht und in dem der weiße Schnee vom schwarzen Anzug aus nach oben fällt.

„Very zeitgeist“, sagen die von überall her angereisten Kunstmenschen hier. Oder: „migration was always a power in art history“, während Menschen aus Bangladesch, den Philippinen, Pakistan den Kuratorinnen und den Direktoren, den Sammlern und den angesagten jungen Autorinnen kühle Säfte reichen. Man müsse zurückschauen, um in die Zukunft schauen zu können, sagte Okwui Enwezor bereits im Rahmen der 2015 von ihm kuratierten Venedig Biennale und das möchte man keinesfalls in Abrede stellen, nur was diese Zukunft sein könnte, das bleibt auch in Schardscha im Großen und Ganzen unklar. „The world is fucked“, denkt man nur ständig. Und was dann?

Wir müssten uns alle viel mehr so organisieren, wie indigene Völker es täten, sagt ein Künstler aus den Niederlanden auf dem Weg zum Flughafen und vielleicht meint er naturnah und kollektivistisch? Man weiß es nicht, aber es klang sehr hoffnungsvoll.

Die Sharjah Biennial 15 läuft noch bis 15. Juni 2023

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