Berlin-Moabit, ein Uhr nachts. Ein weißer Lieferwagen stoppt quietschend am Straßenrand. Er hat ein polnisches Kennzeichen. Durch das Frontfenster lässt sich ein rotes Leuchten hinten im Wagen ausmachen: E-Scooter. Ein Mann, Schnurrbart und weißes T-Shirt, öffnet die Beifahrertür. Er stolpert und wirkt etwas unsicher auf den Beinen, als er zum hinteren Teil des Lieferwagens geht und E-Scooter auslädt. Kurz zögert er, läuft dann auf einen Mülleimer zu. Mit einer Taschenlampe leuchtet er hinein und zieht ein paar Pfandflaschen heraus. Dann steigt er in den Wagen und verschwindet in die Nacht.
Der Mann ist ein „Juicer“. So nennt man die Arbeiterinnen, die E-Scooter einsammeln und aufladen, schlecht bezahlt, kaum sozial abgesichert &
esichert – und meistens nachts.24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche: In den urbanen Metropolen sind Dienstleistungen aller Art jederzeit abrufbar. In unserer beschleunigten Arbeits- und Lebenswelt ist ein Alltag ohne diese Dienstleistungen auch kaum vorstellbar: Wer hat jeden Abend die Zeit, sich das Essen zu kochen? Wer hätte die Zeit, einen E-Scooter ordentlich abzustellen oder sogar noch aufzuladen? Haben viele nicht, sie sparen ihre Zeit, indem sie Online-Plattformen nutzen. Und das bedeutet, dass jemand anderes die Arbeit für sie macht.Wie Cem*. „Wenn ich arbeite, werden mir die Roller in der App angezeigt. Ich reserviere sie dann und muss sie suchen“, erklärt der 34-Jährige seinen Job als Juicer. „Neulich konnte ich einen Scooter nicht gleich finden. Nach einer Weile sah ich ein rotes Blinken im Wasser, dachte: Was ist das denn? Da schwammen die E-Scooter tatsächlich im Landwehrkanal. Irgendwelche betrunkenen Leute in Berlin-Neukölln oder Kreuzberg machen sich ihren Spaß und werfen die da rein. Ich muss dann mitten in der Nacht ins Wasser und fische die Roller wieder raus.“ Cem arbeitet von 23 bis sieben Uhr, weil nachts weniger Verkehr ist. So schafft er mehr E-Scooter in weniger Zeit, er wird nach Stückzahl bezahlt. „Mit E-Scootern wird schlecht umgegangen“, sagt er, „oft sind auch noch die QR-Codes zerkratzt, was unsere Arbeit erschwert“.Mittlerweile sind die schnellen und flexiblen Transportmittel Teil der zentralen Infrastruktur im Alltag der smarten Stadt geworden. Worin diese besteht, zeigt ein Blick auf unsere Smartphones: Google Maps leitet uns durch die Stadt, Lieferando bringt das Abendessen und Amazon den Rest, Helpling vermittelt die Putzkraft und Uber die Taxifahrt, Airbnb die Ferienwohnung, Tinder unsere nächste Beziehung und mit dem E-Scooter fahren wir auch noch das letzte Stück von der S-Bahn-Station bis zur Wohnung.Menschen hinter der AppDie smarte Stadt schläft nicht. Die Arbeits- und Finanzwelt reicht bis tief in die Nacht, Daten werden konstant generiert, ständige Kommunikation findet statt. Tag und Nacht, Arbeit und Freizeit fließen ineinander. Gearbeitet wird schließlich immer irgendwo, in einer vernetzten Welt mit transnational agierenden Unternehmen. Wie praktisch, wenn die Befriedigung zahlreicher menschlicher Grundbedürfnisse in dieser beschleunigten Arbeitswelt einfach an Plattformunternehmen outgesourct werden kann: Für alles gibt es eine App und noch eine App. Und hinter der App stecken: die digitalen Plattformarbeiter:innen.Damit deren Arbeit billig und flexibel wird, sind ihre Arbeitszeiten biorythmusfeindlich, sie erhalten Stücklohn, der den Mindestlohn häufig unterwandert, der Zeitdruck ist immens. Oft wird an Subunternehmen ausgelagert, deren Praktiken wenig reguliert sind, und die den Druck an die Gig-Worker:innen weitergeben.Anhalten kostet zu viel Zeit„Die sagen dir, du würdest 25 Euro die Stunde verdienen, was sie dir aber nicht dazu sagen, ist, dass du dafür 150 Kunden schaffen musst“, empört sich Marino* über seine Arbeit für einen Paketdienstleister. In der Pandemie haben Paketzustelldienste an Wichtigkeit gewonnen. Corona hat besonders deutlich gezeigt, wie systemrelevant zahlreiche Spielarten der Plattformarbeit inzwischen sind. In manchen Städten war monatelang fast ausschließlich Lieferpersonal auf den Straßen zu sehen, zu jeder Tag- und Nachtzeit. Ihre Unternehmen gehören zu den Gewinnern der Gesundheitskrise. Die Auslagerung der gesundheitlichen und finanziellen Risiken an die Arbeitnehmer:innen ist dabei Teil des Geschäftsmodells. Bei den Juicern, beim Fahrdienst Uber und im Paketlieferdienst zeichnet sich ein eher dystopisches Bild der „smarten Stadt“ – wenn man mit den Arbeitnehmer:innen spricht.Marino erzählt, wie sein Leben in der digitalen Metropole aussieht: Essen, Trinken, Auf’s-Klo-Gehen, alles wird im Auto erledigt, anhalten kostet zu viel Zeit. „Vielleicht schaffst du das die ersten drei Tage der Woche, aber nur, wenn du die ganze Zeit rennst. Meist bist du bei dreizehn oder vierzehn Stunden am Tag.“ Marino lieferte für Amazon von morgens um neun bis spätabends Pakete aus. Danach musste er ins Lager zurück. Oft war er nicht vor 23 Uhr zu Hause.Doch während manche Unternehmen in der Pandemie Rekordumsätze erzielten, brach bei anderen die Nachfrage ein, sie brauchten weniger Angestellte. Marino gibt sich davon wenig beeindruckt. Wie viele andere zieht der digitale Tagelöhner einfach weiter von Job zu Job, der Plattformsektor bietet genügend.Vor Corona war der 32-Jährige bei einem Subunternehmer von Uber beschäftigt. Er hat dort nur nachts gearbeitet, wegen des Nachtzuschlags. Dort musste er zwischen den Kund:innen oft lange warten. Gleichzeitig gab ihm das Unternehmen eine Quote an Fahrten vor, die er erreichen musste. Je weniger Kund:innen kamen, desto länger musste Marino arbeiten. Er schlief nur sehr wenig. Marino hat kleine Kinder, die morgens Aufmerksamkeit fordern. „Die Nachtarbeit war schlecht für das Familienleben. Ich war wie ein Zombie, weil ich immer so müde war.“Schlaflosigkeit, Aufmerksamkeitsprobleme und weniger soziale Kontakte: Die Probleme von Nacht- und Abendarbeit sind bekannt. Doch kommt bei Plattformarbeiter:innen hinzu, dass sie prekär arbeiten, oft in mehreren Jobs – und nicht selten ohne Nachtarbeitszuschlag: Wenn die Stückzahl tagsüber nicht erfüllt wurde, zieht sich die Arbeit eben in die Nacht hinein.Die einen retten also ihr bisschen Abend- und Nachtruhe, indem sie mal eben Essen bestellen oder den Einkauf online machen – und schaffen damit digitale Nachtlöhner. In der smarten Stadt schlafen die einen, während die anderen für sie arbeiten.Und trotzdem haben die Plattformen einen guten Ruf. „Gruß an alle, die morgens Bio-Gurken aus der Region bestellen #Obsessed“, mit diesem hippen Slogan wirbt der Lebensmittel-Lieferdienst Gorillas, der seit etwa einem Jahr in Berlin aktiv ist. Weniger hip ist dann die Arbeitsrealität. Seit drei Wochen streiken Gorillas-Fahrer:innen, weil ihr Kollege nach einmaligem Zuspätkommen ohne Vorwarnung entlassen wurde. Jung, hip und klimafreundlich.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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