Wir sind Geiseln

Weinstein & Trump Machtmänner setzen darauf, so viel Komplizenschaft zu schaffen, dass sie nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Dagegen ist unsere Demokratie erschreckend wehrlos
Ausgabe 08/2020
Die Schauprozesse gegen Trump und Weinstein sind ein Test dafür, ob das Zivilrecht noch funktioniert
Die Schauprozesse gegen Trump und Weinstein sind ein Test dafür, ob das Zivilrecht noch funktioniert

Foto: Alexander Koerner/Getty Images

Die zwanziger Jahre haben kaum Luft geholt, schon haben wir uns durch Schauprozesse der größten, unantastbarsten Söhne der männlichen Vorherrschaft und des weißen Kapitalismus gequält: Donald Trump und Harvey Weinstein. Die Ähnlichkeiten sind mehr als nur Indizien. Beide sind reiche, mächtige Männer, die sich darüber empören, dass sie auch nur für einen Bruchteil der ihnen vorgeworfenen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Beide haben offenbar den kompletten Bildungskanon der moralischen Verkommenheit genossen, von Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen über Erpressung und Einschüchterung bis hin zur Nutzung ausländischer Kräfte, um Feinde zu untergraben und sich den Weg zur Straflosigkeit zu ebnen. Und: Beide verbrachten viele Jahre damit, Verbündete zu finden. Weinstein und Trump setzen darauf, so viel Komplizenschaft zu schaffen, dass die entsprechenden Institutionen sie nicht zur Verantwortung ziehen können, ohne sich selbst in Bedrängnis zu bringen. Beide wetten darauf, dass sie zu groß sind, um zu scheitern.

Trump hat die Wette gewonnen. Der verhängnisvolle Versuch, den Präsidenten anzuklagen, fand sein unvermeidliches Ende. Washington und die Welt mussten anerkennen, was der kalifornische Abgeordnete Adam Schiff so ausdrückte: „Trump hat unsere Wahlen kompromittiert, und er wird es wieder tun. Sie werden ihn nicht ändern. Sie können ihn nicht beschränken. Er ist, wer er ist.“ Schiff wandte sich direkt an alle verbliebenen Republikaner im Senatssaal, die einen Zentimeter Rückgrat hatten: „Sie sind anständig. Er ist nicht der, der Sie sind.“ Der Appell kam zu spät.

Tatsächlich ist die größte Bedrohung, die vom Liberalismus ausgeht, seine unbeirrbare Annahme, dass „anständige“ Menschen, die alle Fakten kennen, das Richtige tun werden. Präsidenten stehen nicht allein vor Gericht. Die Politik steht neben ihnen auf der Anklagebank, hampelt herum und versucht zu erklären, wie um alles in der Welt das geschehen konnte. Diesmal haben Trumps Verteidiger nicht einmal versucht, so zu tun, als ob er sich nicht mit ausländischen Mächten verbündet hätte, um seinen Wahlkampf zu unterstützen.

„Die Frage ist nicht, ob der Präsident es getan hat“, sagte der Tennessee-Republikaner Lamar Alexander und erklärte damit in erster Linie, warum er dafür stimmte, den Schweinepriester vom Haken zu lassen, „sondern ob der Senat der Vereinigten Staaten oder das amerikanische Volk beschließen sollten, wie mit dem, was er getan hat, umzugehen ist.“ Und was der Senat beschloss, war nichts. Die zittrigen republikanischen Ausreden der Staatsmänner, die einknickten vor den Forderungen des Verbrecherkönigs, das Ganze ohne Zeugenaussagen abzuschließen, sind nichts. Nur Mitt Romney wagte es, aus der Reihe zu tanzen und für „schuldig“ zu stimmen. Erinnert man sich an die Zeit zurück, als dieser Kerl der Feind war, das ultimative Subjekt linken Spottes, überkommt einen ein Gefühl von moralischem Schwindel. Plötzlich begreift man, dass Trump den Rahmen des politisch Sagbaren zertrümmert hat.

Die Kosten des Schweigens

Das Wort „Privileg“ setzt sich aus dem lateinischen „lex“, Recht, und „privus“, gesondert, zusammen. Es meint ein Sonderrecht – man kann die Regeln nach eigenem Gutdünken umformulieren oder schamlos ignorieren. Wo Privilegsysteme robust sind, sind Korruption, Missbrauch und sexuelle Gewalt keine Entgleisungen. Es sind Verstärker. Trump und Weinstein verstanden sich als unantastbar und wurden so behandelt. Die Machtprobe besteht darin, zu schauen, mit wie viel man durchkommt.

Harvey Weinstein kam jahrelang ungestraft davon. Mutmaßlich. Solange der Prozess noch läuft, bin ich rechtlich verpflichtet, zu sagen, dass Harvey Weinstein für keinen der mehr als achtzig öffentlich erhobenen Vorwürfe der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung für schuldig befunden wurde, auch nicht für die beiden, die derzeit im Bundesstaat New York verhandelt werden. Dennoch. Ich bin moralisch verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass die Art und Weise, in der Harvey Weinstein in achtzig Fällen von Vergewaltigung und sexueller Nötigung nicht für schuldig befunden wurde, nicht die gleiche ist wie die Art und Weise, in der Sie und ich in achtzig Fällen von Vergewaltigung und sexueller Nötigung nicht für schuldig befunden wurden. Die Unschuldsvermutung ist ein Rechtsprinzip, kein moralischer Maßstab. Vor allem nicht, wenn die Annahme seiner Unschuld wie so oft verlangt, dass wir ihre Schuld annehmen, und ihre, und ihre, und ihre. Ich bin keine Richterin. Ich bin keine Geschworene. Ich habe nicht die Macht, einen Menschen für den Rest seines Lebens wegzusperren, also darf ich sagen, was ich tatsächlich denke. Ich darf sagen, dass es unwahrscheinlich ist, dass Hunderte von Zeugen und Teams von preisgekrönten Investigativreportern falschliegen. Ich glaube, er hat es getan. Und fast jeder in seiner Branche tut das auch. Und Sie auch. Die meisten von uns wissen, dass er es getan hat, und das zählt.

Weinsteins Vorliebe, sich in Hotelzimmern auf junge Starlets zu stürzen und ihre Karriere zu zerstören, wenn sie es wagten, sich zu beschweren, war ein offenes Geheimnis in der internationalen Filmindustrie. „Jeder wusste es, verdammt noch mal“, so hat es Weinsteins ehemaliger Schützling Scott Rosenberg formuliert. Jeder wusste, was Weinstein vorhatte, und fast jeder entschied sich dafür, nicht zu wissen, was er wusste, sondern wegzuschauen. Denn das Ausmaß des Fehlverhaltens anzuerkennen, das anzuerkennen, was alle wussten, hätte Maßnahmen erfordert. Es hätte von den Schaulustigen verlangt, entweder aktiv etwas zu unternehmen oder aktiv nichts zu tun, aktiv alles weiterhin geschehen zu lassen.

Manchmal ist es ein Akt zivilen Ungehorsams, zu sagen, was jeder weiß. Wenn eine Person ihren Vergewaltiger benennt, in Kenntnis des Preises, der dafür zu bezahlen ist, und in dem Wissen, dass sie wahrscheinlich erneut für die an ihr begangenen Verbrechen bestraft werden wird, ist das ein Akt des Trotzes. Wenn Hundert, Tausend oder Zehntausend Frauen aus dem Gleichschritt ausbrechen, um sich gegen strukturelle Gewalt zu wehren, dann ist das eine Revolution. In der #MeToo-Bewegung erkannten Frauen kollektiv, dass der Preis des Schweigens höher war als der des Sprechens. Es ist kein Zufall, dass die #MeToo-Bewegung Trump auf den Fersen folgte, als er mit Clownsumzug voller weißer männlicher Verbitterung ins Weiße Haus einfuhr. Trump, der ebenfalls von mindestens zwanzig Frauen wegen sexuellen Fehlverhaltens, einschließlich Vergewaltigung und Körperverletzung, angeklagt wurde, hat mit der #MeToo-Bewegung ebenso viel zu tun wie Weinstein.

Wie ein tollwütiger Rottweiler

Wenn Weinsteins Opfer unter Tränen ihre Erfahrungen vor den New Yorker Geschworenen erzählen, steht auch die #MeToo-Bewegung vor Gericht. Jene Bewegung, die mit Weinstein ihren Anfang nahm und sich als Reaktion auf ein Justizversagen, ein Versagen des rechtsstaatlichen Verfahrens, zu einer globalen Welle des zivilen Ungehorsams ausbreitete. Das Justizsystem hat es versäumt, Frauen vor männlicher Gewalt zu schützen, ebenso wie das demokratische System es versäumt hat, die Bürger vor skrupellosen, gierigen Oligarchen zu schützen, die es geil finden, der Regierung zwischen die Beine zu grapschen und damit davonzukommen. Das System hat es versäumt, das zu tun, was nette weiße Liberale von ihm erwarteten und erhofften – es hat versäumt, vernünftig oder „anständig“ zu sein. Leider wurde dieses System auf der Grundlage entworfen, dass sich niemand dazu hinreißen lassen würde, etwas wirklich, wirklich Dummes zu tun. Wie etwa einen geistesgestörten Verbrecher mit der Kritikfähigkeit und Impulskontrolle eines tollwütigen Rottweilers, der sein eigenes Spiegelbild anbellt, zu wählen.

Die entscheidende Frage ist, ob die Mechanismen der Demokratie in irgendeiner Weise in der Lage sind, solche Männer zu kontrollieren. Und die Antwort auf diese Frage lautet: nein, nicht im Geringsten. Die Schauprozesse gegen Trump und Weinstein sind ein Test darauf, ob die Dinge auf zivilrechtliche Weise geregelt werden können, eine Probe der demokratischen Stärke und des sozialen Anstands. Die USA haben den Test bisher nicht bestanden, genau wie Hollywood den Test lange Zeit nicht bestanden hat, und zwar aus denselben Gründen: übermäßiges Selbstbewusstsein, Faulheit und der Unwille, die eigene Geschichte zu studieren oder schwierige, unbequeme Fragen zu antizipieren. Fragen wie: „Wie viel Menschlichkeit ist der durchschnittliche bleichgesichtige politische Wirbellose bereit, für seine eigene Karriere zu opfern?“ Fragen wie: „Ist das Patriarchat zu groß, um zu scheitern?“

Das ist die Frage, auf die ich immer wieder zurückkomme. Wenn man sieht, was gerade kulturell passiert, ist es schwer, nicht die gleiche kognitive Dissonanz wie zur Weltwirtschaftskrise 2008 zu verspüren. Denken Sie zurück an die verzweifelten Sparmaßnahmen in jenem Herbst, an die einstigen und zukünftigen Könige der internationalen Finanzwelt, die in den Nachrichten schwitzend und mit geröteten Augen erklärten, dass es, obwohl sie extravagant verkackt hatten und viele Millionen Menschen schrecklich leiden mussten, keine denkbare Alternative gab: Wir mussten ihnen aus der Patsche helfen, sonst ...

Das wurde als wirtschaftlicher gesunder Menschenverstand formuliert. Es fühlte und fühlt sich an wie ein Überfall. Mehr als zehn Jahre danach gibt es keine Heuchelei mehr. Die bürgerliche Gesellschaft wird offen vom Stolz der weißen Männer als Geisel gehalten. Für jeden, der immer noch glaubt, dass anständige Menschen das unter sich regeln können; für jeden, der sich mit allen zehn Fingern an die komfortable Mittäterschaft klammert, gibt es eine schlechte Nachricht: Es gibt kein Zurück.

Die USA können niemals in eine Zeit zurück, in der sie nicht einen Präsidenten für Verbrechen freigesprochen haben, die er eindeutig im Streben nach Macht begangen hat, die ihm niemals hätte zugestanden werden dürfen. Die westliche Kultur kann niemals in eine Zeit vor Harvey Weinsteins Prozess zurückkehren, bevor einflussreiche Täter in jeder Branche benannt und beschämt wurden. Männer wie die skrupellosen Oligarchen, die von der guten alten Zeit sprechen und gleichzeitig die Zukunft in Brand stecken. Männer, die auf die Sehnsucht nach einer Vergangenheit bauen, in der Frauen und Schwarze Menschen „wussten, wo sie hingehören“. Männer, die auf eine Zeit setzen, in der wir es als Pflicht verstanden haben, blaue Flecken zu verbergen, Korruption zu vertuschen, damit sie und ihr Gefolge sich weiterhin als anständig betrachten können. Als unschuldig.

Die Gesetze, die nötig sind, um Trump und Weinstein hinter Gitter zu bringen, sind lange in Kraft und die Beweise leicht hervorzuholen. Was fehlte, war der politische Wille, diese Gesetze durchzusetzen. Männer wie Weinstein und Trump haben herausgefunden, dass neun von zehn Menschen in neun von zehn Fällen wegschauen werden, wenn sie mit einem Laster voller weißen Selbstvertrauens durch die Regeln brettern. Sie schauen nicht weg, weil sie die Regeln nicht mögen, sondern weil sie wollen, dass die Dinge geregelt bleiben.

Die meisten Menschen wollen an der Idee einer gerechten Welt festhalten. Sie wollen glauben, dass das Einverständnis der Regierten immer noch wichtig ist, also versuchen sie, es im Nachhinein zu erteilen. Für sie sind die genannten Verbrechen so gewaltig, dass sie das Sicherheitsgefühl untergraben; so groß, dass sie nicht als Verbrechen gelten dürfen. Das ist eine Art von Unschuld, die wir uns nicht mehr leisten können. Es geschieht überall auf der Welt, überall dort, wo sich aufgeblähte starke Männer an die Macht schwindeln. Es geschieht in Indien, in Großbritannien, in Brasilien. Und wo immer es passiert, klammern sich die Menschen in der Mitte, die an den Anstand des Systems glauben, an die schwankende institutionelle Kontrolle und halten den Atem an, wenn der Boden unter den Füßen verschwindet und die Luft dünner wird. Und dann fragen sie sich, ob es zu spät ist, loszulassen.

Laurie Penny, geboren in London, gilt als eine der wichtigsten feministischen Autorinnen. Zuletzt erschien von ihr Bitch Doktrin (Nautilus 2017)

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Übersetzung: Konstantin Nowotny
Geschrieben von

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