In seinem Twitter-Profil versucht er, die Sache mit dem Anarchismus von vorneherein klarzustellen: „Ich betrachte Anarchismus als etwas, was man tut, nicht als Identität, also nennen Sie mich nicht ,anarchistischer Anthropologe‘.“ Wir trafen den 55-Jährigen in Berlin – und hakten natürlich zuerst beim A-Wort nach.
der Freitag: Herr Graeber, Sie gelten als Anarchist, scheinen das aber nicht unbedingt zu mögen. Was ist Anarchismus?
David Graeber: Für mich bedeutet er zweierlei. Erstens: Wir stellen uns im Anarchismus vor, dass eine Welt möglich oder wünschenswert wäre, die nicht auf einer systematischen Bürokratie der Gewalt basiert, nicht auf systematischen Formen der Nötigung oder des Zwangs. Zweitens: Wenn man versucht, eine solche Welt zu verwirklichen, dann heiligt der Zweck nicht die Mittel. Es dürfen dabei weder Nötigungen noch Zwänge angewandt werden, man darf nicht durch herkömmliche Institutionen agieren, die sich auf Gewalt stützen. Anarchismus ist, wenn Menschen nicht gezwungen werden, sich in einer bestimmten Form zu organisieren – sondern wenn sie sich selbst organisieren.
Warum gibt es so viele Vorbehalte gegenüber Anarchismus?
Ich glaube nicht, dass die meisten Menschen Anarchismus schlecht finden. Sie denken nur, dass es eine wahnwitzige Idee ist. Dass es zwar schön wäre, wenn alle Leute miteinander klar kämen und wir keine Polizei und Gefängnisse bräuchten – aber viele sagen eben auch: Wenn es keine Polizei gäbe, würden wir uns alle gegenseitig umbringen. Als Anthropologe weiß ich, dass das faktisch nicht stimmt.
Können Sie Beispiele geben?
Ich habe in Madagaskar an einem Ort gelebt, wo es keine Polizei gibt, und die Menschen haben nicht angefangen, sich gegenseitig umzubringen. In Polen wurde ausprobiert, was bei der Abschaffung von Verkehrsregeln passiert: Die Zahl der Unfälle sank, denn die Leute mussten auf einmal darüber nachdenken, was sie tun. Man will uns glauben machen, dass wir Irre sind, die für alles eine Vorschrift brauchen. Aber das stimmt nicht. Wenn jemand gemeinschaftsschädigend handelt, hält die Androhung einer Haftstrafe ihn nicht davon ab, und wenn er es bleiben lässt, dann nicht aus Angst vor dem Gefängnis. Das ist eine empirische Tatsache. Wieso akzeptieren wir es, unter der ständigen Androhung von Gewalt zu leben?
Tun wir das wirklich?
Die Regeln, von denen wir umgeben sind, basieren – auch wenn man darüber nicht gern nachdenkt – darauf, dass sie im Ernstfall mit Gewalt durchgesetzt werden, etwa indem man uns verprügelt, abführt oder wegsperrt.
Was verstehen Sie unter Gewalt?
Gewalt ist eine einzigartige menschliche Handlung. Man kann damit auf eine andere Person einwirken, ohne dass man das Geringste über sie zu wissen braucht. Zum Beispiel, wenn man sagt: „Wenn du diese Linie überquerst, dann erschieße ich dich!“ In jeder anderen Situation, in der man auf das Verhalten anderer einwirken will, muss man diese anderen zuerst verstehen. Wenn ich aber Waffen habe, und du hast keine, brauche ich über die Situation gar nicht nachzudenken. Überall herrscht strukturelle Gewalt vor, die immer mit struktureller Ungleichheit einhergeht. Wenn man eine andere Person verstehen will, muss man sich bis zu einem gewissen Grad mit ihr identifizieren – das ist auch eine Art, diese andere Person wichtig zu nehmen. Wenn ich aber eine Waffe habe und der andere nicht, muss sich der Bedrohte die ganze Zeit in mich hineinversetzen. So kommt es, dass alle mich dann sehr wichtig nehmen – ohne dass ich sie wichtig nehmen müsste.
Zur Person
David Graeber, 55, ist nicht nur Aktivist und Autor. Der Anthropologe mit US- Wurzeln lehrt auch an der London School of Economics. Seine Bücher, etwa Schulden (2012), werden viel diskutiert. Gerade er- schien sein Essay Bürokratie: Die Utopie der Regeln (Klett-Cotta, 329 S., 22,95 €)
In Ihrem jüngsten Buch „Bürokratie“ schreiben Sie von „imaginativer Identifikation“.
Ich nahm die feministische Standpunkt-Theorie zum Ausgangspunkt. Es geht im Wesentlichen darum, dass Menschen in einer schwächeren Position, also Machtlose, einen tieferen Einblick in andere haben. Um mit den Mächtigeren überhaupt kommunizieren zu können, müs-sen sie sich ständig in sie hineinversetzen. Ich wollte das von der anderen Seite her verstehen: Mächtige Menschen müssen sich nicht in andere hineinversetzen und werden dabei also dümmer. In jedweder Situation von systemischer Ungleichheit ist das so.
Und an dieser Ungleichheit ist die Bürokratie schuld? Gibt es nicht auch „gute“ Bürokratien?
Doch, natürlich! Aber ich will auf Folgendes hinaus: Wie kommt es, dass Bürokratien uns, sogar wenn sie wohlwollend sind, wütend machen und uns das Gefühl geben, wir seien dumm? Klar haben viele Leute versucht, soziale Probleme mit bürokratischen Mitteln zu lösen. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch gelungen. Aber in der Umsetzung läuft oft etwas falsch. Bürokra-tien sind nicht inhärent dumm, aber sie regeln Situationen auf eine Art und Weise, die auf Gewaltanwendung gestützt ist.
Die meisten Menschen mögen Regeln trotzdem ...
Ich nenne es „die Utopie der Regeln“. Warum mögen wir Spiele? Unter anderem, weil es die einzigen Situationen sind, in denen wir wissen, nach welchen Regeln alles abläuft, und diese Regeln erscheinen uns transparent: Hier fängt es an, dort hört es auf, so gewinnt man. Für mich ist Bürokratie aber ein Spiel, das in keiner Weise Spaß macht.
Aber eine völlige Abschaffung aller Regeln wollen Sie diesem unlustigen Spiel auch wieder nicht entgegensetzen. Oder?
Nun ja. Im Englischen unterscheiden wir zwischen spielen (to play) und Spiel (game). Das Verb bezeichnet eine Art freier Improvisation, so wie Kinder es in ihren Spielen oft tun. Nur: So eine Improvisation wird langweilig, wenn sie nicht selbst wieder Regeln hervorbringt. Wenn es zum Beispiel keine Grammatik gäbe, könnte man lustige Laute von sich geben, aber man könnte sich mit niemandem verständigen. Auf der anderen Seite: Wenn man alles durchstrukturiert, beschränkt das die Auswahl dessen, was man auf welche Art sagen kann. Wir haben den Impuls, ohne Regeln zu spielen – aber wenn man sich das wirklich vorstellt, wird alles unvorhersehbar, und das finden wir dann auch wieder erschreckend. Jeder von uns hat beide Impulse, wir schwanken da hin und her. Diese Spannung ist meiner Meinung nach das, was Freiheit ausmacht.
Wie setzt man das im Zusammenleben um?
Freiheit sollte nicht Beliebigkeit sein – darum geht es. Sonst werden die Dinge bedeutungslos. Wirkliche Freiheit wären im Wesentlichen Situationen, in denen man kollektiv die Regeln zusammen aufstellen kann. Und wo man sie verändern kann, wann immer man das kollektiv will.
Sie selbst scheinen gern ein paar Regeln zu brechen, etwa beim Schreiben: Sie benutzen eine einfache, leicht zugängliche Sprache, nicht nur in „Bürokratie“, sondern auch schon in Ihrem Buch „Schulden“.
Ich habe das über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelt, es begann schon, als ich noch in Chicago war, wo ich meine Masterarbeit schrieb. Ich sah es als eine Herausforderung, so zu schreiben, dass auch meine Mutter es verstehen kann. Sie war sehr intelligent und hat viel gelesen, ist aber nie zur Uni gegangen, hatte keine formale Ausbildung. Es ist viel Arbeit, ständig daran zu denken, wie man technische oder theoretische Be-griffe zurück in die gewöhnliche Sprache übersetzt, sodass viele Menschen etwas davon haben.
Manche Kritiker werfen Ihnen Ungenauigkeit vor. Könnte das an diesem Schreibstil liegen?
Ich finde, meine Bücher sind ganz schön präzise – jedenfalls in den Punkten, die ich präzise darzustellen versuche. Natürlich werden andere Punkte dabei vernachlässigt. Aber das passiert auch bei anderen Akademikern. Ich glaube, dass manche Menschen den Jargon, also etwa den Wissenschaftsjargon, mit Kultiviertheit verwechseln. Dabei ist Ersteres oft das Gegenteil von Letzterem. Es ist zum Beispiel ganz schön schwierig, zu verstehen, was Gilles Deleuze an einigen Stellen eigentlich sagen möchte. Er spielt ein Spiel, bei dem der Leser die Hälfte der Arbeit machen muss!
Deleuze nervt: Das wäre jetzt ein tolles Ende fürs Gespräch.
Deleuze ist wie eine Art schöne Poesie. Aber das ist kein Modell, das ich nachmachen möchte. Es funktioniert nicht, wirklich nicht.
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