Ein Dorf. Ohne Namen. An einem Kanal. Unweit von Hamburg. Kristine Bilkaus Roman Nebenan, der auf der Shortlist des diesjährigen Buchpreises steht, eröffnet mit dem Blick auf ein Containerschiff, das scheinbar über den Dächern schwebt. Julia, 38, schluckt Präparate, um schwanger werden. Im Garten taucht ein fremdes Kind auf. Aus dem Nachbarhaus verschwindet eine Familie.
Die Oberfläche des Romans ist wie ein Puzzle. Alles hängt irgendwie zusammen, das meiste bleibt unerklärt. Julia trägt eine tiefe Trauer in sich. Die Kinderwunsch-Klinik ist der Ort, an dem sie ihre Verlassenheit spürt. Chris, ihr Partner, mit dem sie ein Haus gekauft hat, und der Arzt verstehen sich blendend. Sie selbst möchte „am besten gar nicht anwesend sein
cht anwesend sein“.Die streng weibliche Perspektive wechselt zwischen Julia und Astrid, einer Ärztin, die ihre Mutter sein könnte. Ihre wirkliche Mutter ist gestorben, Julia tritt ihr Erbe an, „setzte sich an die Drehscheibe, ließ Joni-Mitchell-Songs laufen und redete laut mit ihrer Mutter, fragte sie, warum sie nicht besser auf sich geachtet hatte“. Sie zieht ins Grüne, wie die Mutter es getan hat, als diese mit ihr schwanger war und etwas geschah, das un-erzählt bleibt.Der Kampf für ein Kind ist Julias Weg, eine Depression zu bekämpfen, die sie ihrer Umgebung entfremdet. „Ihr Blick wandert zwischen Chris und dem Arzt hin und her, als würde sie eine Podiumsdebatte verfolgen. Sie kann sich nicht entscheiden, ob sie den Austausch unterbrechen, oder besser nichts sagen und Gelassenheit vortäuschen soll, sie, die Frau mit den zerklüfteten oder vielleicht wenigstens nicht allzu zerklüfteten Eizellen.“Bei einem Ausflug nach Hamburg, in das Viertel, aus dem sie weggezogen ist, bricht die Schockstarre auf, und sie schreit die Verkäuferin in einer Boutique an. Dann sammelt sie sich und projiziert ihren Verlust erneut auf die verschwundene Familie, nach „nebenan“. Der minimalistische Titel des Romans entspricht der verhaltenen Erzählweise. Scheu wie ihre Heldin verschwindet die Erzählerin hinter ihren Figuren. Sie deutet an, lässt stehen. Spricht in Zeichen wie dem der 42 Teile, aus denen der Roman besteht.In der Kinderwunsch-Klinik spürt Julia die Verlassenheit. Chris plaudert mit dem ArztDie 42 gilt als magische Zahl seit dem Roman Per Anhalter durch die Galaxis, wo sie die „ultimative Frage nach dem Leben“ beantwortet. Viele Rezensionen heben die „schwebende Stimmung“, den „Schauer des Alltäglichen“, die „Feinfühligkeit“ der Beobachtung sozialen Miteinanders in einem zerfallenden Dorf hervor. Was darunter liegt, ist ein Tabu. Julias Vater. Seine Abwesenheit strukturiert den Roman. Es ist der un-erzählte Teil, der von der Magie der Bilder umhüllt wird. Das geteilte Dorf, das Ei, das sich nicht teilen will. Eine Heldin, die sich Gefühle verbietet ...Der „echte“ Ort Sehestedt, der durch den Nord-Ostsee-Kanal geteilt wird, blickt auf eine Geschichte zurück, die dem umweltbewussten Paar gut gefallen könnte, dank des erfolgreichen Widerstands gegen eine Giftmülldeponie. Die Autorin Kristine Bilkau nutzt das Bild des geteilten Dorfes als Spiegel für innere Heimatlosigkeit. Das Wasser im Kanal steht für Gefühl. Kanalisiertes Gefühl, das in der Badewanne zur Blutspur wird, die aus Julias Körper zieht. Bis zum Fast-Happy-End werden wir Zeuge unaufgeregter Beobachtungen, abgeflachter Spannungsbögen, vermeidender Begegnungen, eingebettet in einen ergreifenden Reigen intensiver Bilder. Wer irrationale (um nicht zu sagen: animalische) Gefühle weckt, wie der Dorfbewohner Wolfgang, wird aus dem Text gedrängt. Die Anziehung verstört. Überall lauert verborgene Gewalt. Beim tabuisierten Vater. Bei der Familie nebenan. Im Garten von Astrids Tante. Ein Buch voller Scheu, das endet, als es spannend wird.Placeholder infobox-1