Sie schauen, immer schon

Flanieren Der männliche Beobachter schrieb Literaturgeschichte. Der weibliche Blick ist bis heute marginalisiert
Ausgabe 34/2019
Sie schauen, immer schon

Foto: Universal History Archive / Universal Images Group / Getty Images

Herbst 2014, nachts. So wie fast jede Nacht gehe ich draußen spazieren. Das hilft gegen Einsamkeit, so kenne ich es aus meinen Lieblingsbüchern von Patrick Modiano und Wilhelm Genazino. Meistens halte ich es keine paar Stunden in meinem überteuerten 4-m²-Zimmer aus. Ich laufe gerade über den Place de la Bastille, Paris. Ich kenne den Mann nicht, wir haben uns vorher kein einziges Mal gesehen, kein einziges Wort miteinander gewechselt. Als ich an ihm vorbeigehe, trifft mich seine Rotze genau zwischen die Schulterblätter.

Es ist weder das erste, noch das einzige Mal, dass ich Street Harassment am eigenen Leib erfahre. Im Gegenteil, für mich und alle Frauen die ich kenne, ist es Alltag, begafft, angefasst und öffentlich erniedrigt zu werden. Und das nicht nur in Paris. Ich hätte nie daran gedacht, nach dem Vorfall bei Bastille damit aufzuhören, allein durch die Straßen zu ziehen. Was mir allerdings auffiel: In keinem der Bücher der großen Flaneure von Charles Baudelaire, Walter Benajmin bis Modiano und Genazino – tauchen solche Situationen auf. Nirgendwo ist das Gefühl beschrieben, das man nach einer solchen Situation hat; wie es sich anfühlt, jeden, der sich einem nähert, erst einmal daraufhin abzuscannen, ob er eine potentielle Gefahr darstellt. Oder auf öffentlichen Plätzen immer die Fluchtmöglichkeiten im Blick zu haben. Aber das ist genau das, was Tausende Frauen tagtäglich erleben. Genau das ist ihre Wahrnehmung der Großstädte. In der Literatur scheint dies allerdings noch nicht angekommen. Warum nicht?

Läuft nicht, gibt’s nicht

Eine beliebte Erklärung dafür, dass Frauen bis heute so selten im Kanon der Stadtliteratur auftauchen und es bis heute keine Tradition der Flâneuse-Literatur gibt, ist eben jenes Street Harassment. Die Diskriminierung von Frauen in den Großstädten ist so alt wie die Großstädte selbst. Rebecca Solnit beschreibt beispielsweise in ihrem Buch Wanderlust (2001, deutsch: 2019) sehr genau, wie Frauen bereits im 19. Jahrhundert in London als Prostituierte diffamiert wurden, wenn sie sich in bestimmten Stadtteilen allein bewegten. Das machte es Frauen natürlich fast unmöglich, allein durch die Straßen zu schlendern und überhaupt Teil des urban-öffentlichen Lebens zu sein. Während also Baudelaire, Thomas de Quincey und später dann Benjamin den Flaneur erfanden und pflegten, der einsam und melancholisch durch die Straßen streift, war es für viele Frauen schwierig, die Straßen, Passagen und Plätze der modernen Großstädte überhaupt zu betreten. Es ist ein fieses Argument. Weil es stimmt: Frauen konnten und können nicht einfach unbeobachtet ein „Bad in der Menge“ nehmen wie ein Baudelaire, Benjamin oder Rilkes Malte Laurids Brigge es taten. Hier nun sollte das Nachdenken nicht aufhören.

Statt sich buchstäblich mit „Geht nicht, gibt’s nicht!“ zufrieden zu geben, sollte man der Frage nachgehen: Warum löste der Flaneur eine ganze literarische Strömung aus, während man die Stimmen, die über Städte und somit die Schwierigkeiten und eventuellen Diskriminierungserfahrungen geschrieben haben, lange suchen muss? Es gab ja Frauen in den Städten, auch zu Zeiten der Moderne. Die berühmten Pariser Passagen, die Benjamin so faszinierten, waren keineswegs rein männliches Territorium. Im Gegenteil, sie waren voll von Frauen, die die schillernde Warenwelt konsumieren wollten. Ebenso die großen Boulevards. Baudelaire beschreibt in seinem wohl berühmtesten Gedicht À une passante (An eine Vorübergehende) eine Passantin. Bei ihm bleibt sie beobachtetes Objekt. Dreht man das Bild um, ist sie der beste Beweis für die Existenz von Frauen in der Stadt. Nur gibt es aus ihrer Perspektive eben keine Erzählung.

Und darin liegt das eigentliche Problem: Die Stimmen von Frauen wurden in der Narration der Großstadt lange ausgespart. Autorinnen wie Virginia Woolf und Jean Rhys wurden erst in den 1970er Jahren im Zuge feministischer Bewegungen wiederentdeckt; und immer noch werden ihre Stadtbeschreibungen von der großen Flaneur-Literatur überblendet. Warum zum Beispiel soll das, was Virginia Woolf in ihrem Essay Street Haunting (1927) beschreibt, keine Flânerie sein? Warum ist Mrs. Dolloway keine Flâneuse? Warum taucht in keinem Kanon Jean Rhys auf, die in Romanen wie After Leaving Mr. Mackenzie (1930) oder Quartett (1928) nichts anderes tut, als das Leben von Frauen in Paris und London zu beschreiben? Zu nennen wäre auch Irmgard Keun, die immer wieder über Frauen im Berlin der Weimarer Republik schreibt. Dass es keine literarische Tradition der Flâneuse gibt, liegt zum großen Teil also nicht daran, dass Frauen Städte einfach nicht erleben konnten, sondern daran, dass das Schreiben und die Literatur von Frauen regelmäßig erschwert, marginalisiert oder weniger ernst genommen wurde. Ein Problem, das bis heute anhält und leider nicht nur die Literatur betrifft, sondern im Prinzip alle Felder der Kunst- und Kulturproduktion.

Unsichtbare Künstlerinnen

In der Ausstellung Der Flaneur, die Ende vergangenen Jahres im Bonner Kunstmuseum gezeigt wurde, trat dies überdeutlich zu Tage. Dort sollte die Geschichte des Flaneurs vom „Impressionismus bis zur Gegenwart“ nachgezeichnet werden. Von über 60 ausgestellten Künstler*innen, waren mit Candida Höfer, Sofia Hultén, Kimsooja, Johanna Steindorf und Corinne Wasmuth nur fünf Frauen vertreten. Alle Künstlerinnen arbeiten gegenwärtig. Im Ausstellungskatalog findet sich eine Erklärung: Die Flâneuse gab es früher nicht. Frauen, die sich in der großstädtischen Öffentlichkeit aufhielten, heißt es, galten per se als Prostituierte oder beschmutzt. Dass der Zugang zum Kunstmarkt und Ausstellungsmöglichkeiten bis heute für Frauen erschwert ist, wird unterschlagen. So muss man sich weder mit dem vermittelten einseitigen Stadtbild auseinandersetzen, noch mit der Frage, warum man so wenige Werke von Frauen ausstellt. Künstlerinnen, die sich mit dem Thema beschäftigt haben, hätte es gegeben: Jeanne Mammen und Sigrid Hjertén – um nur zwei zu nennen – dokumentierten bereits in der Moderne den urbanen Raum und verließen mit Bildern von Frauenfreundschaften und Berliner Varietés (Mammen) oder surrealistisch anmutenden Bildern städtischer Industriekultur (Hjertén) eingetretene Pfade der großstädtischen Narration.

Schließt man all diese Stimmen aus, wird ein einseitiges Bild von Großstädten immer wieder reproduziert. Und es wird weitergehen, solange nicht neue Perspektiven in der Literatur, der Kunst und in den Medien aufgegriffen werden. Damit meine ich nicht nur solche von Frauen, sondern auch die von People of Color, LGBTQI*, Menschen mit Behinderung und anderen. Es kann nicht sein, dass die Erzählungen von allem, was nicht flaneurhaft männlich ist, weiterhin ignoriert werden. Es geht nicht darum, Benjamin oder Baudelaire abzuschaffen – aber warum nicht Neues ergänzen? Warum nicht sagen: der Baudelair’sche Flaneur zeigt eine Art zu flanieren und Städte wahrzunehmen – welche gab es, welche gibt es noch?

Info

Lea Sauer promovierte an der Uni Siegen zu neuen Flaneurkonzepten in der zeitgenössischen Literatur. Mit Özlem Özgül Dündar, Ronya Othmann und Mia Göhring hat sie die literarische Anthologie FLEXEN: Flâneusen* schreiben Städte herausgegeben (Verbrecher Verlag, 2019). Am 27. August findet die Release-Veranstaltung in der Berliner Fahimi-Bar statt

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